Jede Krankheit ist ein musikalisches Phänomen
Die Heilung eine musikalische Auflösung
(Novalis Fragmente)
Umschlagbild: Helmut Höcker „Bewegung macht die Farbe“ (1987)
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Atelier Steinzeit, Hannover
www.atelier-stein-zeit.de/
Die erste Auflage dieser an der Albertus-Magnus-Universität zu Köln erstellten Dissertation erschien 1988 im Bosse-Verlag in Regensburg, die zweite 1996 im LITVerlag in Münster. Für die Überarbeitung 1996 wurde seinerzeit ein Kompromiss gewählt zwischen dem Erhalt der ursprünglichen Fassung und der Einarbeitung neuerer Veröffentlichungen und Ergebnisse aus der morphologischen Musiktherapie. Verzichtet wurde auf diejenigen Teile, die zeitlich überholt waren oder sich aus den üblichen Bedingungen einer Dissertation ergaben. So entfiel das ursprüngliche Kapitel 2, welches sich der Aufarbeitung der damals vorliegenden musiktherapeutischen Literatur widmete. Stattdessen fanden sich in der gesamten Arbeit zahlreiche Hinweise auf Weiterentwicklungen vor allem aus dem Bereich der morphologischen und psychoanalytischen Musiktherapie. Neuere Aspekte, die sich aus diesen und meinen eigenen Erfahrungen und Forschungen ergaben, wurden in die jetzigen Kapitel 1, 2, 3 und 5 eingearbeitet.
Eine nochmalige inhaltliche Überarbeitung nach so langer Zeit erschien mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll. Die Texte entsprechen inhaltlich daher weitgehend der zweiten Auflage und wurden lediglich redaktionell überarbeitet, u.a. durch eine Anpassung an die neue deutsche Rechtschreibung. Ergänzende Hinweise erscheinen lediglich als Fußnoten, die zur Unterscheidung mit einer vorausgehenden Kennzeichnung „A 2013“ (Aktualisierung 2013) gekennzeichnet sind. Verzichtet wurde auch auf den „Ausklang“ der 2. Auflage, die sich auf die Situation der Musiktherapie zum Zeitpunkt des 8. Weltkongresses Musiktherapie bezog, der 1996 in Hamburg stattfand.
Ein Dank für die redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe geht an Barbara Keller und Katharina Nowack.
Rosemarie Tüpker, August 2013
Die Erstellung der vorliegenden Arbeit hat sich über einen langen Zeitraum erstreckt, in dem ich zunehmend eingebunden war in die praktische Tätigkeit als Musiktherapeutin. Durch den Wechsel zwischen theoretischer und praktischer Arbeit an der Musiktherapie konnte ich erleben, dass Theorie und Praxis sich tatsächlich gegenseitig befruchten, erläutern und verändern. Das brachte notwendigerweise auch Schwierigkeiten mit sich, denn wenn sich Erfahrungen und Ansichten immer wieder gegenseitig modifizieren, fällt es manchmal schwer, sich zu Festlegungen durchzuringen, von denen man weiß, dass sie nicht endgültig sein werden.
Auf der wissenschaftlichen Seite wurde dieses Bemühen durch die Zusammenarbeit in der „Forschungsgruppe zur Morphologie der Musiktherapie“ (FMM) begleitet, so dass ich an erster Stelle Frank Grootaers, Tilman Weber und Eckhard Weymann danken möchte, dass sie immer wieder bereit waren, in der Forschungsgruppe die vorläufigen Ergebnisse und die Thesen der Arbeit zu diskutieren, durch die eigenen Erfahrungen zu ergänzen und durch kritische Auseinandersetzung zu beleben. Die Ausarbeitung der Beschreibungsmethodik (Kapitel 3.1) wäre ohne die langjährige gemeinsame „Hörarbeit“ an vielen unterschiedlichen Fällen undenkbar gewesen, da diese Arbeit nur im Austausch einer Gruppe möglich ist.
Herrn Dr. Gerhard Mentzel, Chefarzt der Hardtwaldklinik II in Zwesten, möchte ich dafür danken, dass seine Offenheit und sein Wohlwollen gegenüber der Musiktherapie mir Arbeitsbedingungen schufen, in denen die Musiktherapie wachsen und sich als eigenständige Form der Psychotherapie bewähren konnte. Dass Eigenständigkeit nicht Isolation bedeutet, sondern regen Austausch beinhalten kann, dafür habe ich vielen Kollegen und Kolleginnen zu danken, insbesondere den Kunst- bzw. Gestaltungstherapeutinnen Michaela Jung-Hammer und Engeline Michalek sowie der Krankenschwester Annegret Kollmeier, die als Co-Therapeutin in der Musiktherapiegruppe ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen für diese Art der Arbeit entwickelte, wodurch es möglich war, nicht nur die Belastung der Arbeit, sondern auch die Faszination daran zu teilen. Dem Arbeitskreis der Musiktherapeuten Zwesten/Bad Wildungen danke ich für die vielen weiterführenden Gespräche über die alltäglichen Fragen der musiktherapeutischen Praxis.
Für Supervision und Kontrolle der therapeutischen Arbeit gilt mein Dank vor allem Herrn Dr. Hermann-Josef Berk (Köln), den ich stets als sicheren und treuen Lehrer und Wegweiser in den oft verwirrenden Seelenlandschaften der PatientInnen erlebt habe und der auch den Fall „Hans“ (Kapitel 4) supervidiert hat.
Dem Betreuer dieser Arbeit, Herrn Prof. Dr. Jobst Fricke, habe ich für vieles zu danken: unter anderem für den Mut und die Offenheit, das neue Thema Musiktherapie aufzugreifen, für das wache Interesse an der Entwicklung der Musiktherapie, für die sorgfältige und engagierte Durchsicht der Vorentwürfe, Zwischenstücke und Endfassungen und nicht zuletzt für die Geduld mit meiner Neigung, das Geschriebene immer wieder zu verändern, und das stets freundliche Drängen, dennoch zu einem Abschluss zu kommen. Herrn Prof. Dr. Wilhelm Salber für seine Psychologie zu danken, die mir erst denkbar machte, was in der Musik hörbar ist, erschiene wohl unangemessen. Deshalb kann ich ihm an dieser Stelle wohl nur für das Interesse am Entstehen dieser Arbeit und die wohlwollende Durchsicht danken.
Ich danke Hans, der in Wirklichkeit anders heißt, für die Erlaubnis, über die gemeinsame Arbeit berichten zu dürfen.
MEINEN ELTERN GEWIDMET
Ziel der Arbeit ist die Konzeption musiktherapeutischer Behandlung auf der Grundlage einer durchgängigen psychologischen Sicht- und Denkweise. Ausgangslage war das Dilemma, das bei dem Versuch entstand, die praktische Arbeit zu beschreiben und eine Erklärung dafür zu finden, warum und wie es möglich ist, mittels musikalischer Improvisation psychotherapeutische Arbeit zu leisten.
Das erwies sich vor allem als ein „Sprachproblem“: Musikalische Analysen in Begriffssystemen musikalischer Formenlehre, medizinische oder psychologische Krankheitslehren, Lebensgeschichten und geklagtes Leid der PatientInnen schienen begrifflich unterschiedlichen Welten anzugehören. Demgegenüber stand das Erleben im Therapieraum, das einen durchgängigen Zusammenhang erfahrbar machte. Dieses spürbar Durchgängige verwies auf ein seelisches Geschehen, das die musikalische Improvisation ebenso zu gestalten schien wie es Krankheitssymptome und Geschichten produziert.
Meine bisherige Beschäftigung mit der Morphologischen Psychologie legte die Vermutung nahe, in ihr eine psychologische Theorie und Methode vorzufinden, die in der Lage sein könnte, diese Erfahrung aufzugreifen und begrifflich zu erfassen. Begründungen für diese Vermutung und die verschiedenen Aspekte der Entscheidung für die Morphologische Psychologie als theoretischer und methodischer Bezug finden sich in verschiedenen Zusammenhängen im Verlauf dieser Arbeit.
Die Vorarbeit für diese Arbeit begann mit der Beschreibung musikalischer Improvisationen aus der eigenen Praxis und dem Versuch, sie psychologisch in Zusammenhang zu biographischem Material, Geschichten und Symptomen der PatientInnen zu bringen. Diese Tätigkeit, der sich die damalige Forschungsgruppe zur Morphologie der Musiktherapie (FMM) über ca. drei Jahre praxisbegleitend widmete, mündete in die Festlegung der Untersuchungsmethode „Beschreibung und Rekonstruktion“, wie sie im Kapitel 3.1 dargestellt ist. Während dieses Verfahren der psychologischen Erfassung einer einzelnen Improvisation und ihrem Bezug zur Lebensmethode des Patienten dient, sollten die ebenfalls in dieser Zeit aus den morphologischen Vorarbeiten abgeleiteten vier Behandlungsschritte als Strukturierung und zur Analyse eines Behandlungsverlaufs für die musiktherapeutische Arbeit verfügbar gemacht werden (Kapitel 3.3). Zugleich bilden die dabei gewonnenen Ergebnisse den Hintergrund für die Untersuchungen dieser Arbeit. Denn natürlich veränderte diese Forschungstätigkeit allmählich auch die praktische Arbeit mit den PatientInnen. Das zeigte sich zunächst vor allem in Veränderungen der Sichtweise auf die Phänomene. Die Aufmerksamkeit verfing sich weniger in Einzelbeobachtungen und richtete sich stattdessen zunehmend auf die Anmutungsqualität des Ganzen einerseits und strukturelle Gegebenheiten andererseits. Die Musik gewann dabei u.a. insofern an Bedeutung, als die Ausrichtung sich eher dahingehend veränderte, den Erzählungen nach Art musikalischen Geschehens zuzuhören als der Neigung zu folgen, die Musik in Erzählungen zu „übersetzen“.
Allmählich veränderte sich dadurch dann auch das therapeutische Modellieren, und es bildeten sich Grundzüge therapeutischen Vorgehens heraus. Die Hauptmerkmale dessen, was sich so als musiktherapeutische Behandlung herausgebildet hat, werde ich in Kapitel 5 skizzieren. In der Neufassung der Arbeit sind sie ergänzt durch Hinweise auf die Modifikationen, die sich vor allem aus anderen Arbeitsbereichen bisher ergeben haben.
Die Beschreibungsarbeit in der FMM hatte über längere Zeit weitgehend „diagnostischen“ Charakter. Das lag zum Teil an den Praxisfeldern, die mit einer hohen Patientenfluktuation verbunden waren, und an der Tatsache, dass wir zumeist Anfangsimprovisationen mit PatientInnen untersuchten. Die auf diese Art gewonnene „Diagnose“ erwies sich dabei allerdings ganz im Gegensatz zu den sonst üblichen Kategorisierungen – die oft eher verdeckend und blockierend wirkten – als direkt therapeutisch wirksam, da die neugewonnene Blickrichtung nicht nur das Erleben, sondern auch die Handlungsweise des Therapeuten bisweilen unmittelbar veränderte. Dies geschah zunächst meist ohne Planung besonderer therapeutischer „Interventionen“. Insbesondere das gemeinsame musikalische Spiel ist für solche ungeplanten Veränderungen sensibel, weil sich dort am unmittelbarsten veränderte Erlebnisweisen des Therapeuten niederschlagen.
Eine Aufgabe der vorliegenden Arbeit sollte es sein, einen längeren Behandlungsverlauf mit den entwickelten Methoden zu untersuchen, um aufzuzeigen, wie Musiktherapie Schritt für Schritt „funktioniert“. Eine solche Untersuchung schien mir eine angemessenere Antwort auf die Frage zu sein, ob Musiktherapie funktioniert, als quantifizierbare Erfolgsmessung nach Art eines Vorher-Nachher1. Zum anderen wollte ich über den Nachweis hinaus, dass sich die Grundstrukturen eines Falles mit der gewonnenen Methodik psychologisch rekonstruieren lassen, aufzeigen, wie sich der Fall von dieser Rekonstruktion ausgehend modellieren und entwickeln lässt. Dabei interessierten mich die Veränderungen der Musik ebenso wie die Rolle der Musik im Gesamt der Behandlung, die Veränderungen im Erleben und Verhalten des Patienten und die verschiedenen Versionen des Austausches von Musik und sprachlich Gegebenem.
Der in Kapitel 4 untersuchte Behandlungsverlauf umfasst 75 Stunden und einen Zeitraum von 13 Monaten. Es handelt sich nicht um eine besonders „gelungene“ Therapie und nicht um einen „typischen“ Therapieverlauf. Bei der Auswahl spielten vielmehr pragmatische Gesichtspunkte wie die Dauer der Behandlung, Durchgängigkeit des vorhandenen Materials und relative Stabilität der Rahmenbedingungen eine Rolle. In den zwei Jahren musiktherapeutischer Arbeit mit Jugendlichen eines Jugendwohnheimes (mit ca. einer halben Stelle) waren alle Therapien protokolliert und größtenteils die Musik auf Tonband aufgenommen worden. Die Rahmenbedingungen für ein im engeren Sinne therapeutisches Setting waren zunächst nur mühsam herzustellen und blieben von der Brüchigkeit und Instabilität der Heimstruktur geprägt. Dadurch bot das gesammelte Untersuchungsmaterial zwar viele interessante Sequenzen, aber nur wenig durchgängiges Material, das sich für die beabsichtigte Darstellung eines längeren Entwicklungsganges eignete. Die später in der Klinik durchgeführten Behandlungen waren zwar durch stabilere therapeutische Rahmenbedingungen gekennzeichnet, aber aufgrund der festgelegten Aufenthaltsdauern (von sechs bis maximal zwölf Wochen) eher als Kurztherapien anzusehen. Deshalb wurde für die Einzelfallstudie der Fall „Hans“ ausgewählt und das übrige vorliegende Material auf einer eher zusammenfassenden Ebene im Hinblick auf verallgemeinerbare typisierende Aussagen untersucht (Kapitel 5).
Die Ausführlichkeit in der Darstellung des Falles schien mir notwendig, um einmal an einem Beispiel aufzuzeigen, wie komplex solche Entwicklungen verlaufen. Seifert (1983) betont in seinem Aufsatz über TAT-Geschichten, dass „der spekulative Eindruck und der übliche Vorwurf der »Überinterpretation« gegenüber psychologischen Deutungen dadurch entsteht, dass man nur die Ergebnisse sieht und sich weigert, den Weg nachzuvollziehen“ (S. 34). Die Kenntnisse und Interpretationen, die MusiktherapeutInnen aus ihrer Arbeit berichten, wirken sicher oft nur deshalb „phantastisch“, weil bisher zu wenig die vielen Zwischenstücke dargestellt wurden, die zu einer bestimmten Sichtweise geführt haben. Dazu ist es zum Teil notwendig, wie dies in dem vorliegenden Fallbeispiel häufiger auftaucht, einzelne Abschnitte einer Behandlung mehrmals in Variationen von unterschiedlichen Details her aufzugreifen, weil die Entwicklungen vielschichtig sind und das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Aspekte nicht „auf einmal“ in Sprache zu fassen ist.
Die Morphologie ist zum einen ein Hinblick auf das Seelische, in den es sich einzuüben gilt und stellt zum anderen eine Systematik zur Verfügung, die diese Arbeit strukturiert und die Untersuchungen von einem theoretischen System her lenkt. Während ich mich in der ersten Fassung weitgehend auf eine kurze Darstellung der für die Fallanalyse notwendigen Systematik der Morphologie beschränkt hatte, wurden die morphologischen Grundlagen und ihre Anwendung auf musiktherapeutische Fragestellungen im Rahmen der Überarbeitung wesentlich ausführlicher ausgearbeitet. Außerdem wurden neuere Entwicklungen und Anwendungsbereiche einbezogen. Dadurch hat sich etwas der Schwerpunkt der Ausführungen zugunsten der Vermittlung dieser Grundlagen verschoben.
Die zunehmende Ausweitung der Systematischen Musikwissenschaft bot schon früh eine Offenheit, die es ermöglichte, neue und erweiterte Bereiche des Musiklebens in die Wissenschaft von der Musik zu integrieren. So schreibt etwa Fellerer (1953, S. 9): „Musikwissenschaft ist die Wissenschaft von der Musik, also die wissenschaftliche Erfassung aller Gegebenheiten der Musik und des Musikerlebens im weitesten Sinne, die einer solchen wissenschaftlichen Erfassung mit allen ihren philosophischen, psychologischen, soziologischen, naturwissenschaftlichen, historischen und anderen Untersuchungsrichtungen zugänglich sind.“ Weiter heißt es: „Einerseits das musikalische Kunstwerk in seiner Gestalt und Entwicklung, andererseits die Beziehung von Mensch und Musik in der Weite der Probleme ist Gegenstand der Musikforschung.“ Im Memorandum über die Lage der Musikwissenschaft in der Bundesrepublik wurde dementsprechend die Musiktherapie explizit als Forschungsgebiet der Systematischen Musikwissenschaft genannt (in: Die Musikforschung 1976, S. 249 ff).
Die Systematische Musikwissenschaft insgesamt ist aufgrund der großen Unterschiedlichkeit ihrer Forschungsbereiche durch eine Methodenvielfalt gekennzeichnet. So schreibt Wiora (1970): „In denjenigen Zweigen der systematischen Musikforschung, die in andere Wissenschaften hinüberreichen, werden größtenteils die dort üblichen Methoden angewandt.“
Eine wissenschaftsmethodische Diskussion hat auch unabhängig von der Musiktherapie in der Systematischen Musikwissenschaft Tradition. So stellt Faltin (1976) in „Das Problem Systematischer Musikwissenschaft“ unter anderem dar, dass die Aufteilung der Musikwissenschaft bei Adler das Ziel einer methodologischen Unterscheidung hatte: „…. alles Subjektive, vor allem das suspektgewordene Subjekt selbst, sollte aus dem eigentlich wissenschaftlichen, d.h. empirischen Bereich der Musikwissenschaft, also aus der Musikgeschichte in die Systematik verdammt werden.“ Nach Faltin waren beide Bereiche auf dem Wege, sich von der Musik zu entfernen; die Systematische Musikwissenschaft deshalb, weil „die blühende Psychophysik und der aufkommende Behaviorismus sich der Systematik als Garanten der angestrebten Wissenschaftlichkeit anboten“ (S. 276).
Faltin kritisiert, dass „die Akustik und Physiologie, ursprünglich als „Hilfswissenschaften“ in die Systematische Musikwissenschaft aufgenommen… unter dem Deckmantel der Musikpsychologie zum Zentrum und Ziel der deutschsprachigen Systematik wurden“ (ebd.). Er plädiert für eine Entwicklung der Systematischen Musikwissenschaft zu einer „Kulturwissenschaft, deren Gegenstand die Musik als kulturelles Phänomen“ ist und betont die Notwendigkeit der Einbeziehung des Subjekts in eine so verstandene Wissenschaftlichkeit ebenso wie die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Für ihn gibt es keinen „methodischen Zwang zur experimentellen Arbeitsweise“, sondern für ihn sollte die Systematische Musikwissenschaft aein „offenes System von Erkenntnisinstrumenten sein, dessen Ziel es wäre, alles, was unter den Begriff Musik fällt, in seiner strukturellen Beschaffenheit, ästhetischen Bedeutung, sozialen Bedingtheit und kulturellen Funktion zu erklären. Eher als ein sicheres Fundament ist sie ein Programm komplexer und integrierender Betrachtungsweisen des Phänomens Musik“ (ebd. S. 279 f).
Während in manchen Bereichen auch in der Musikwissenschaft naturwissenschaftliche Strömungen zuzunehmen scheinen, hat sich mit Fricke die an Watzlawik u.a. anknüpfende Systemische Musikwissenschaft herausgebildet, die einem stringent am Menschen orientierten Leitgedanken folgt: „Jede Betrachtung musikalischer Klangproduktionen sollte explizit oder implizit in dem Bewußtsein erfolgen, dass Musik von Menschen für Menschen gemacht wird“ (Fricke 1991, S. 169).
Wir verstehen hier auch die Musiktherapie als kulturelles Phänomen und nicht als Teilgebiet der Medizin. Musiktherapeutische Behandlung ist ein kulturelles Ereignis, auch wenn sie sich in der nicht-öffentlichen Situation zwischen nur zwei Menschen oder einer kleinen Gruppe vollzieht. Auch das Üben eines Instrumentes ist ja nicht weniger ein kulturelles Phänomen als ein öffentliches Konzert. In diesem Sinne ist die Musiktherapie als eine besonders gestaltete Musikausübung auch Forschungsgegenstand der Musikwissenschaft. Sie verlangt aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Sinnes und ihrer Bedeutung eine psychologische Methodik.
In dieser Arbeit soll das Phänomen Musik in einer besonderen Wirkungseinheit, nämlich der der musiktherapeutischen Behandlungssituation, untersucht werden. Dabei ist es nicht möglich, Musik als einen besonderen Teil dieses komplexen kulturellen Ereignisses zu untersuchen und anderes, wie die Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn, die Krankheit, Gespräche und psychotherapeutische Zusammenhänge als weiter mitwirkende Teile an andere Fachgebiete zu delegieren. Daraus ergibt sich, dass in dieser Arbeit auch von vielem die Rede sein muss, was nicht im engeren Sinne zur Musikwissenschaft zu gehören scheint, da es sonst nicht möglich ist, die musiktherapeutischen Phänomene ganzheitlich und in ihrer miteinanderwirkenden Komplexität zu betrachten.
Ganzheitliche Forschungsansätze, zu denen auch die hier angewandte Morphologische Psychologie zuzurechnen ist, haben in der Systematischen Musikwissenschaft Tradition. Ein gemeinsamer Hintergrund ist dabei die Gestaltpsychologie und die hermeneutische Tradition. Schon 1958 machte Husmann im Zusammenhang der Werkbetrachtung auf die Problematik einer die Ganzheit einer künstlerischen Gestalt nicht beachtenden Analyse aufmerksam und begann die Erkenntnisse der Gestalttheorie (Christian von Ehrenfels, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka) der Musikwissenschaft zu Nutze zu machen. Husmann betont, dass, wer die „Hermeneuten Hermann Kretzschmar, Hugo Riemann, Arnold Schering u.a. und (die) Schöpfer der modernen Stilistik, Guido Adler, Wilhelm Fischer, Friedrich Blume u.a. liest, bemerkt, dass diese Forderungen stets instinktiv richtig erfüllt worden sind und das, ohne dass sie die Warnung vor zerschlagender Analyse oder die Begründung ihrer Methoden durch die höhere Gestaltpsychologie nötig gehabt hätten“ (S. 9).
Eine Anwendung psychologischer Methoden findet sich in der Musikwissenschaft auch im Teilgebiet der Ästhetik. So gelingt es Wellek (1963) mit Hilfe der Ganzheitspsychologie den historischen Streit zwischen Formal- und Inhalts- bzw. Ausdrucksästhetik aufzuheben. Er versucht, die beiden Antithesen „Musik ist sui generis und weist nicht hin auf ein Außerklangliches“, sie ist nur „tönend bewegte Form“ (Gatz in MGG S. 1002 ff) und „Musik weist hin auf ein Außerklangliches und repräsentiert somit eine Wirklichkeit, die selbst nicht Musik ist“ (Hanslick, ebd.) zu überwinden, indem er die Frage als Alternative für falsch gestellt erklärt und sie zu der Synthese verbindet, dass alle Form ausdruckshaft und aller künstlerischer Ausdruck geformt sei. Auch bei Riemann findet sich der Hinweis, dass mit Husserl, Scheler und Heidegger dieser ästhetische Streit eine neue Wendung nimmt, indem „Form und Inhalt nach dem Prinzip der Schichtung und der Schichtungsordnung zueinander in ein Verhältnis der Fundierung gebracht werden, das nicht mehr erlaubt, eine der beiden Seiten dieses Verhältnisses zu isolieren“ (Riemann 1967, Stichwort Ästhetik).
Von der Morphologischen Psychologie her lassen sich Form und Inhalt als das paradoxe Verhältnis von Fundierung und Repräsentanz (vgl. Kap. 2.2) der beiden polaren Bedingungen jeder seelischen Gestaltbildung von Bedeutungsmetamorphose und Organisation begreifen (Salber 1965). In der Musiktherapie schleicht sich die Form-Inhaltsdiskussion dann unbemerkt wieder ein, ohne dass die Weiterführung dieser Frage in der Musikwissenschaft, Psychologie und Philosophie einbezogen würde.
Auch Wiora (1961) kritisiert, dass die Thesen und der historische Streit der Inhalts- und Formalästhetik sich ohne Klärung elementarer Vorfragen entwickelt haben und hebt die Leistungen Hegels hinsichtlich dieser Vorfragen hervor. Mit Hegel begründet er die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung und das nicht nur in Hinblick darauf, dass der einzelne Ton erst in seinem Verhältnis zu anderen in seiner Bedeutung und Wirkung zu erfassen sei, sondern auch insofern, als die Musik das „freie Leben und Weben der Seele zu ihrem Inhalt hat“ und die Forschung somit immer vor der schwierigen Aufgabe stehe, den „Gegensatz dieser freien Innerlichkeit und jener quantitativen Grundverhältnisse“ in sich aufzunehmen und zu überwinden, „indem sie den freien Bewegungen des Gemütes, die sie ausdrückt, durch jene notwendigen Proportionen einen sicheren Grund und Boden gibt, auf dem sich dann aber das innere Leben in der durch solche Notwendigkeit erst gehaltvollen Freiheit hinbewegt und entwickelt“ (Hegel, zitiert nach Wiora 1961 S. 511). Hegels Einsichten in das Wesen der Musik verweisen auf die Bedeutung der Musik als psychisches Phänomen und legen eine psychologische Herangehensweise für die Musikwissenschaft nahe.
Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, dass trotz der wiederholt auftauchenden Forderung nach einer ganzheitlichen Betrachtungsweise die konkrete Durchführung innerhalb der Forschung erstaunlicherweise oft doch immer wieder bei den Gliedzügen einer zunächst nicht näher betrachteten Ganzheit ansetzt. So z.B. bei Wellek (1963), der zwar die ganzheitlichen Aspekte der Musikästhetik betont, dann aber bei der „Psychologie der Gehörserscheinungen“ (S. 25) beginnt und versucht, von der Akustik und Physiologie ausgehend zur Psychologie zu gelangen und auch dort von den Einzelheiten zu den übergeordneten Strukturen: von „Geräusch und Ton“ zu „Gestalt und Gefühl“ und schließlich zu „Verstehen und Begreifen“ (Kapitelüberschriften ebd.). Forderung einer ganzheitlichen Betrachtung müsste es aber sein, dass zuerst die Ganzheit des Phänomens zu erfassen gesucht wird, damit sie Bezugsrahmen und Angelpunkt für die Einordnung und Wertigkeit aller Einzelheiten ist, und die Untersuchung von der Ganzheit her organisiert wird. Das kann in Bezug auf musikalisches Erleben nur heißen, dass zunächst dieses Erleben selbst zu erfassen gesucht wird. Das ist nur möglich über die Beschreibung des Erlebens. Alle weiteren Daten, so auch physiologische und akustische Aspekte, könnten dann dazu in Beziehung gesetzt werden.
Qualitative und beschreibende Forschungsmethoden finden sich in der modernen psychologischen Forschung in unterschiedlicher Ausformung: so in den unterschiedlichen tiefenpsychologischen Schulen, in der sogenannten verstehenden Psychologie und in den humanistischen Psychologien. Die Methodik ist aber auch hier nicht immer als solche expliziert. Musikforschungen, die an diese psychologischen Richtungen anknüpfen, übernehmen häufig nicht die Methodik des Vorgehens, sondern einzelne Ergebnisse und Interpretationen, die dann mit musikalischen Fragestellungen verknüpft werden. Diese Verknüpfungen wirken dadurch oft spekulativ und erscheinen nicht genügend auf den Forschungsgegenstand hin bearbeitet.
Wenn nun hier im Rahmen musikwissenschaftlicher Forschung mit den Methoden der Morphologischen Psychologie gearbeitet wird, soll deshalb die Fundierung dieser besonderen Methodik in den Grundkriterien qualitativen Vorgehens dargestellt werden, um die Wahl der Methodik zu begründen. Dazu wurden zwei Aufsätze von Salber hinzugezogen, in denen die Gemeinsamkeiten qualitativen Vorgehens im Bereich der Psychologie anhand einiger wesentlicher Merkmale aufgezeigt sind (Salber 1960 und 69a).
Die hier dargestellten Merkmale, die ein qualitatives Vorgehen wissenschaftlich rechtfertigen, müssen m.E. für die psychologischen Bereiche musikwissenschaftlicher Forschung entsprechende Gültigkeit haben. Dass sich die qualitativen, verstehenden und beschreibenden Verfahren wissenschaftlich rechtfertigen müssen, ist allein aus der Geschichte der Wissenschaft heraus zu verstehen. Die Musiktherapie kam von Anfang an unversehens in diesen allgemeinen Paradigmenstreit der Wissenschaft hinein und wird nicht umhinkommen, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen (vgl. Tüpker 1996b)2.
Den qualitativen Methoden in der Psychologie geht es um ein Verstehen psychischer Qualitäten (s. auch Körner 1985). Sie gehen von der Anschauung und vom Erleben aus, nicht von Begriffssystemen. Sie sind dabei zunächst gerichtet auf die Konkretheit und Einzigartigkeit eines Vorganges. In der Musikforschung finden wir ein solches Vorgehen gerichtet auf die Einzigartigkeit eines musikalischen Werkes, auf die Interpretation eines Werkes, auf Vergleiche unterschiedlicher Werke und Interpretationen, auf die besondere Kompositionsweise eines Komponisten oder die Charakteristik einer bestimmten Stilistik, die Entwicklung von Formen etc.
In der musiktherapeutischen Forschung benötigen wir ein solches Vorgehen, wenn es um die Erfassung des konkreten Sinnes einer Improvisation, einer Musiktherapiesitzung, um die besondere Ausdrucksweise eines Patienten oder um die Einschätzung eines Behandlungsverlaufes geht.
In den qualitativen Methoden der Psychologie besteht die Forderung der Unmittelbarkeit und Verständnisnähe jedes einzelnen Schrittes. Das erste vorwissenschaftliche unmittelbare Verstehen soll durch die wissenschaftlichen Schritte nicht verloren gehen, sondern in der wissenschaftlichen Aussage erhalten bleiben. Hierdurch wird die Forderung der Reproduzierbarkeit als Kriterium der Wissenschaftlichkeit in der Naturwissenschaft durch das Kriterium der Nachvollziehbarkeit Schritt für Schritt ersetzt. Diese Ersetzung ist überall dort notwendig, wo es um individuelle, zwischenmenschliche und historische – also nicht reproduzierbare – Prozesse geht. Ein Behandlungsverlauf lässt sich nicht reproduzieren und er lässt sich mit anderen vergleichen erst, wenn er in seiner besonderen Qualität erfasst ist. Auch die Einzigartigkeit einer Komposition, einer Stilistik etc. ist nicht reproduzierbar im naturwissenschaftlichen Sinne. (Genauere Darstellung s. Tüpker 1990a).
Vom rein Vorwissenschaftlichen unterscheidet sich ein wissenschaftlich qualitatives Vorgehen durch das Vorhandensein einer Systematik, die die Beobachtung und die methodischen Schritte lenkt. In der Musikwissenschaft kann z.B. die Analyse einer Komposition auf das System einer allgemeinen musikalischen Formenlehre bezogen sein, die ihrerseits in den Gesetzen einer musikalischen Ästhetik gründet. Systematik einer Forschung ist erst gegeben durch ein Minimum an unumgänglichen theoretischen Voraussetzungen, die als tragende Ordnungen den Erkenntnisvorgang strukturieren. Ohne Bezug auf solche paradigmatischen Voraussetzungen ist keine wissenschaftliche Forschung möglich. Der häufig auftauchende Vorwurf an die Geisteswissenschaften, sie seien nicht „voraussetzungslos“, verkennt, dass auch die Naturwissenschaften von bestimmten paradigmatischen Voraussetzungen ausgehen, die sich in Zeiten wissenschaftlicher „Revolutionen“ auch verändern. In der Wissenschaftstheorie ist inzwischen dargelegt, warum solche nicht weiter hinterfragbaren Grundannahmen in jeder Wissenschaft unvermeidbar sind (s. Kuhn 1962 und Toulmin 1969).
Ein weiteres Kennzeichen qualitativer Methoden ist die Suche nach Sinn und Bedeutung seelischer Phänomene. Dem geht die Grundannahme voraus, dass seelische Prozesse sinnvoll zusammenhängen und dass dieser Sinn sich im seelischen Geschehen zeigt. Dieser Grundannahme folgt Freud, wenn er – von der durchgängigen Determiniertheit des Seelischen ausgehend – scheinbar unsinnige Phänomene wie Fehlleistungen, Versprecher und Träume auf ihre „geheime“ Bedeutung hin untersucht. Auch dem seelischen Sinn „unsinniger“ Krankheitssymptome konnte er nur mit dem unerschütterlichen Beharren auf dieser Grundannahme auf die Spur kommen. Das Festhalten an dieser Grundannahme kennzeichnet auch weiterhin die psychotherapeutische Forschung, die konsequent die Aufschlüsselung des scheinbar Sinnlosen verfolgt, so z.B. in der Suche nach der Psychodynamik psychotischen Erlebens (u.a. Benedetti 1954, 1980,1983, 1991, Ciompi 1982, Mentzos 1992, 1993) oder dem symbolischen Verstehen der Äußerungen geistig Behinderter (Niedecken 1988, 1989).
Es handelt sich hierbei um eine der unumgänglichen paradigmatischen Voraussetzungen, die eine psychologische Sichtweise steuern. Sie ist als solche von ihrer Struktur her nicht „beweisbar“ (Toulmin 1969). Sie kann aber als sinnvoll und für die Tätigkeit der wissenschaftlichen Forschung unumgänglich verstanden werden, wenn man sich z.B. verdeutlicht, dass auch die naturwissenschaftliche Forschung nicht entwickelt worden wäre, wenn nicht der „Glaube“ an die durchgängige Gesetzmäßigkeit der Natur die Forscher gelenkt hätte.
Stärker als Freud betont Salber, dass Sinn und Bedeutung seelischer Prozesse im Seelischen selbst zu finden sind, indem er auf Erklärungsanleihen aus der Biologie, Chemie oder anderen Wissenschaften verzichtet. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „psychologischen Psychologie“, einer nur scheinbar tautologischen Betonung, wenn man die Verlagerung der Erklärungsebene in anderen Psychologien betrachtet. Ich folge in dieser Arbeit dieser Entschiedenheit, indem ich musikalische Prozesse als seelische Prozesse zu erfassen suche und grenze mich damit gegen Forschungen ab, die das „Seelische an der Musik“ sekundär an physiologische, biochemische oder akustische Vorgänge anknüpfen. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Musik der Phänomene, die auch akustisch messbar und mit physiologischen und biochemischen Vorgängen verbunden sind, primär ein seelisches Geschehen und im oben beschriebenen Sinne immer ein kulturelles Phänomen ist und aus seelischen und kulturellen Zusammenhängen Sinn und Bedeutung erfährt3.
Qualitative Methoden folgen den Grundzügen der Phänomene so, dass der ihnen „innewohnende Sinn“ den Erfassungsprozess steuert, damit dieser Sinn nach und nach als für die Phänomene strukturierend und antreibend verstanden werden kann. Dabei muss die wissenschaftliche Fragestellung als Bezugsrahmen deutlich sein.
Die Frage nach Sinn und Bedeutung eines musikalischen Phänomens stellt sich anders, je nachdem ob wir z.B. nach der Bedeutung einer bestimmten musikalischen Motivik im Zusammenhang der Musiktherapie fragen oder in der Untersuchung einer Komposition. Das eine Mal wird die Bedeutung im Hinblick auf die seelische Konstruktion des Spielers gesucht, im anderen Fall z.B. die Bedeutsamkeit im Zusammenhang der ästhetischen Wirkung der Komposition, ihrer historischen Rolle o.ä.. Wenn dieser Bezug beachtet wird, kann es auch bei einer psychologisch orientierten Musikforschung nicht passieren, dass die ästhetische Untersuchung einer Komposition in einer „Krankengeschichte“ des Komponisten endet.
Um den Sinn eines seelischen Phänomens aufzuspüren bedarf es der Beweglichkeit der Methoden als ein weiteres Kennzeichen qualitativer Methodik. Die Forderung der Mitbewegung ergibt sich daraus, dass die Forschungsmethode den Bewegungen der Phänomene folgen können muss, um sie angemessen untersuchen zu können. Das hat einige grundlegende Entscheidungen für das wissenschaftliche Vorgehen zur Folge. In den qualitativen Methoden werden die Bewegtheit und das Sich-Bewegen-Lassen des Untersuchers ausdrücklich in die Untersuchung einbezogen.
Das hängt mit der Angemessenheit der Mittel einer Untersuchung in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand zusammen. Wissenschaftlichkeit wird oft vordergründig an der Benutzung von apparativen Messinstrumenten festgemacht. Im Bereich musikalischer Wirkungsforschung etwa scheint danach eine Untersuchung der Veränderung des Hautwiderstandes, des Herzschlags etc. verschiedener Personen beim Anhören von Musikstücken per se „wissenschaftlicher“ als eine Untersuchung, die die Wirkung dieser Musikstücke von den HörerInnen beschreiben lässt und von da aus zu Aussagen kommt. Bei einem solchen Vergleich wird aber die Frage nach dem, was da jeweils untersucht wird, völlig außer Acht gelassen. Mit der ersten Untersuchung wäre keine Aussage über die seelische Wirkung, sondern nur über bestimmte physiologische Reaktionen möglich. Von anderer Seite würde der zweiten Untersuchung entgegengehalten, sie komme dem Kriterium der „Objektivität“ nicht nach. Diese Forderung fußt aber auf einer Subjekt-Objekt-Spaltung, einer wissenschaftlichen Vorentscheidung, die sich im Positivismus, bzw. im Skeptizismus gründet (vgl. hierzu: Scheuerle 1977, S. 12 ff).
In den qualitativen Methoden wird diese Spaltung nicht aufrechterhalten. Deshalb betont z.B. Erikson in „Kindheit und Gesellschaft“ (1957), dass der Therapeut an der Entstehung der Prozesse, die er untersucht, selbst beteiligt ist. König führt in „Das Interview“ (1957) den Begriff des „teilnehmenden Beobachters“ als Notwendigkeit in qualitativen Interview-Verfahren ein. Im Bereich des Biologischen verwies V. v. Weizsäcker auf eine ähnliche Notwendigkeit, wenn er im Gestaltkreis (1950, S. 3) schreibt: „Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen. Man kann zwar den Versuch machen, Lebendes aus Nicht-Lebendem abzuleiten, aber dieses Unternehmen ist bisher mißlungen. Man kann auch anstreben, das eigene Leben in der Wissenschaft zu verleugnen, aber dabei läuft eine Selbsttäuschung unter.“
In den qualitativen Methoden wird deshalb eine Scheinobjektivität durch eine kontrollierte Subjektivität ersetzt. Das heißt, die „Subjektivität“ der Beobachtung wird als notwendige Voraussetzung, psychologische Forschung betreiben zu können, anerkannt und statt ihrer nie gelingenden Vermeidung einer Kontrolle und methodischen Bearbeitung zugänglich gemacht. Das beinhaltet eine gewisse „Schulung“ des Beobachters, um „verfälschende“ Einflüsse möglichst gering zu halten und ein methodisches Vorgehen, das die so gewonnene Beobachtung Schritt für Schritt auf ein theoretisches System bezieht (s. auch Tüpker 1990a).
Auch die psychoanalytische Forschung ist – gerade in ihrem Kernbereich der psychologischen Behandlung – ohne die Einbeziehung der Erkenntnisse, die aus der Gegenübertragung gewonnen werden, nicht denkbar. Trotz aller immanenten und nicht wegzudiskutierenden Störungseinflüsse, der die Gegenübertragung als Erkenntnisinstrument im Einzelfall notwendigerweise immer unterliegen wird, bleibt sie der oft präziseste Zugang zum Verstehen des Patienten.
In der Psychotherapie ist der forschende Therapeut nicht nur teilnehmender Beobachter, sondern an der Schaffung der Prozesse, die er untersucht, selbst beteiligt. Dieser Aspekt der Autopoiesis gilt nicht nur für die einzelne Therapie, sondern ebenso für psychologische Konzepte in ihrer gesamten Begriffsbildung und Konstruktion. Dies einzelnen Therapieformen wie etwa der Psychoanalyse in Bezug auf den Einfluss des Deutens vorzuwerfen, verdeckt die Tatsache, dass es auch hier keinen „objektiven“ Standpunkt im Sinne einer nicht-autopoietischen Psychologie geben kann. Die Wahl der Methoden bewegt sich daher nicht entlang einer Achse von Objektivität und Einbeziehung subjektiver Einflüsse, sondern entlang der Verleugnung oder kritischen Reflexion dessen, was wir im Zuge der wissenschaftlichen Forschung an Wirklichkeit zugleich herstellen. (Ein hervorragendes Beispiel eines kritischen Diskurses findet sich z.B. in Bezug auf das Weiblichkeitskonzept der Psychoanalyse bei Rohde-Dachser 1992). Auch in der neueren Naturwissenschaft taucht der Gedanke der Autopoiesis auf. So heißt es im Vorwort bei Maturana/Varela (1984): „Wir werden (…) eine Sicht vortragen, die das Erkennen nicht als Repräsentation der »Welt da draußen« versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst.“
Die explizite Einbeziehung der mitbewegenden Beobachtung und kontrollierten Subjektivität hat auch in der Erforschung musikalischer Prozesse im Hinblick auf die angemessene Beweglichkeit entscheidende Vorteile: Die Musik als Produktion und Erscheinungsform des Seelischen ist immer in Bewegung. Musik ist gestaltete Bewegung und Bewegtheit. Sie ist immer ein Prozess, sie vollzieht sich nicht nur in der Zeit, sondern macht Zeit als erfüllt erlebbar, indem sie sie gestaltet. Als ein solch „bewegtes Ding“ ist Musik nicht anders als mit einem gleichermaßen beweglichen „Instrumentarium“ zu erfassen. Ein solches Instrumentarium ist jenseits der „mitschwingenden Seele“ des Menschen nicht zu finden.
Deshalb ist die Beschreibung der eigenen Bewegtheit der angemessenste Weg, um dieses „bewegte Ding“ in einen wissenschaftlichen Gegenstand zu verwandeln. Durch ein methodisches Vorgehen bei der Beschreibung können diese Bewegtheiten in verschiedenen Versionen im Austausch zwischen Erlebensbeschreibung und Systematik schrittweise einer wissenschaftlichen Logifizierung zugänglich gemacht werden (→ Kap. 3.1). Dieses Vorgehen ist mühsam. Das soll hier nicht verschwiegen werden. Der Untersucher befindet sich bei einer solchen wissenschaftlichen Tätigkeit ständig in dem Spannungsfeld zwischen seelischer Beteiligung und notwendiger Distanzierung, zwischen dem Ergreifen der Sache und einem Sich-von-ihr-Ergreifen-Lassen, zwischen Sich-Bewegen-Lassen und Festhalten-Müssen. Er muss immer wieder in die Bewegung des Phänomens eintauchen, um dann wieder „zurückzutreten“ und zu schauen, was er mitbekommen hat, die unterschiedlichen „Mitbringsel“ aufeinander beziehen, in Austausch bringen und so dann als quasi „neues Ding“ rekonstruieren. Er kann sich dieser Spannung nicht ein für alle Male entledigen.
Salber spricht in Abgrenzung seines Anliegen von einer „Stillegungspsychologie“, um zu charakterisieren, dass manche Untersuchungen eher von dem Wunsch getragen sind, sich dieser Spannung zu entziehen, als dass es immer wissenschaftliche Entscheidungen wären, Verfahren zu bevorzugen, die die Beweglichkeit des Seelischen nicht greifen können, weil sie nicht selbst beweglich sind.
Ein Beispiel dafür aus dem Bereich der Musiktherapie ist die Untersuchung von Schaub (1980). Schaub schreibt: „Es ist ein Hauptmerkmal experimenteller Forschung, dass sie die Realität nicht in ihrer komplexen Vielfalt, sondern immer nur in Teilaspekten analysieren kann. So soll in dieser Untersuchung auch nicht das generelle Problem des musikalischen Ausdrucks in seiner ganzen Mannigfaltigkeit angegangen werden, sondern lediglich ein beschränkter, konkreter Aspekt desselben: den der musikalischen Stimmung. Unter »Stimmung« wird dabei die bipolare Dimension verstanden, welche sich durch die Pole »traurig« und »fröhlich« eingrenzen läßt“ (ebd. S. 45). Hier wird eine „komplexe Vielheit“ völlig willkürlich auf zwei feste Werte eingegrenzt, die dann im Verlaufe der Untersuchung abgefragt, gezählt und statistisch verglichen werden können. Was dann bleibt, ist z.B. über den bewegenden Andante-Satz aus Mozarts Konzert für Klavier und Orchester C-Dur, Nr. 21, KV 467 die Aussage, er werde als eher traurig erlebt und zwar, weil er langsam ist, obwohl er in Dur steht. Man kann sich angesichts dieser Aussage nur fragen, welchen anderen Sinn ein solches Unternehmen hat, wenn nicht den der Beruhigung, endlich „etwas Festes“ an der Hand zu haben. So kann sich das ganze Unternehmen auch nur begründen, indem es ebenfalls ziemlich willkürlich eine Fragestellung entwirft, die so schlechterdings in der musiktherapeutischen Realität, von der Schaub sie ableitet, nie vorkommt: „Der Musiktherapeut steht nicht selten vor der Frage, nach welchen strukturellen Kriterien er ein Musikstück auswählen oder gestalten soll, von dem er erwartet, dass es von seinen Patienten als »traurig« oder als »fröhlich« angesehen wird“ (ebd.).
Die Beschreibung des Erlebens kann sich deshalb auf die Beweglichkeit der Phänomene einlassen, weil sie von anderen Kriterien her Maßnahmen kennt, um nicht in der scheinbar so bedrohlichen „ganzen Mannigfaltigkeit“ verloren zu gehen. Ein solches Kriterium ist der in den qualitativen Methoden stets gesuchte Ganzheitsbezug.
Die qualitativen Methoden gehen mit der Gestaltpsychologie von dem Grundsatz aus, dass eine wirkende Ganzheit immer mehr und anders ist als die Summe ihrer Einzelteile (Ehrenfels 1890). Auch von diesem Grundsatz her wäre eine Untersuchung wie die oben erwähnte nicht denkbar. Denn selbst wenn man neben den zwei untersuchten Einzelteilen noch beliebig viele weitere „Stimmungspole“ untersuchen würde, ergäben diese ganzen Teile zusammen nie eine Gesamtheit des seelischen Geschehens beim Hören dieses Satzes. Wenn der Grundsatz von der Ganzheit beachtet wird, muss jede Einzelheit in Bezug auf diese Ganzheit gesehen werden. Das ist nur möglich, indem Ganzheit und Gliedzüge im wiederholten Austausch sich gegenseitig auslegen. Die Methoden selbst sind ganzheitlich, indem sie versuchen, zu einer Erklärung zu gelangen, die eine lebendige, funktionierende Rekonstruktion des Phänomens ist.
In den in dieser Arbeit angewandten Verfahren wird zumeist versucht, von einer zunächst vorläufig erfassten Ganzheit, z.B. einem Gesamteindruck, auszugehen und von da aus die Gliedzüge aufzusuchen. Dadurch ist es am ehesten möglich, wertvolles „vorwissenschaftliches“ Material in die Untersuchung einzubeziehen.
Zum ganzheitlichen Erfassen gehört aber auch das Hinauslaufen auf eine Feststellung, die den wiederholten Austausch zwischen Ganzheit und Gliedzügen auf einen „einenden Sinn“ bezieht. Dabei ist die innere Widerspruchsfreiheit zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Richtigkeit einer Feststellung. An dieser Stelle haben die Popperschen Aussagen über Verifikation und Falsifikation auch für die qualitative Forschung ihre Berechtigung (Popper 1966): Eine letztlich widersprechende Beobachtung muss eine Erklärung umwerfen, während bestätigende Beobachtungen im Detail eine Erklärung niemals vollständig verifizieren.
Den Irrweg, Sicherheit durch möglichst viele Bestätigungen im Detail zu suchen, können wir vermeiden, wenn wir bedenken, dass auch Vollständigkeit – selbst wenn sie erreichbar wäre – Ganzheitlichkeit nicht ersetzt oder nach sich zieht. Eine vollständige Datensammlung führt nicht notwendig zu einer wissenschaftlichen Aussage oder Erklärung. Sicherheit in unserem Handeln in der Therapie erhalten wir aus dem Fortgang der Behandlung. Ein uns unverständlich bleibender „Stillstand“ in der Behandlung muss uns letztlich mehr zu denken geben als unverständlich bleibende Details oder nicht auffüllbare Lücken in der Lebensgeschichte.
In der Musiktherapie kommt oft schon in der ersten Improvisation ein umfassendes Bild der seelischen Konstruktion und ihrer Störungen zum Ausdruck. Dieses Bild durch eine ausführliche Beschreibung und Rekonstruktion festzuhalten, kann für den Therapeuten eine wesentliche Hilfe dabei sein, das Spiel der Variationen, Verwandlungen, Verdeckungen, Wiederholungen und Gegenläufe von Anfang an auf einen ganzheitlichen Bildentwurf zu beziehen und das Behandlungsgeschehen von diesem Bild her besser zu verstehen. Indem wir schon zu Beginn zu einer solchen FestStellung gelangen, können Bewegungen des Geschehens und eine einende „feste Gestalt“ methodisch zusammengebracht werden, wenn wir zugleich berücksichtigen, dass es sich um ein Bild in Verwandlung handelt.
Mit dem Hinauslaufen auf eine Feststellung, ein die Einzelheiten vereinheitlichendes Bild, eine lebendige Rekonstruktion der Phänomene, die den Bezug zu einer allgemeinen Systematik des Seelischen herstellen kann, wird eine Vereinheitlichung des ErfassungsprozessesÜberschaubarkeit