Reiseberichte aus dem
Osten
Bandbiografie mit Dennis Dippel | (2008) |
FUSSBALLFAHRTEN | |
Reise- und Fußballbuch | (2009) |
FUSSBALLFAHRTEN 2 | |
Bericht von der WM in Südafrika | (2011) |
Der Osten ist (zum Glück) immer noch anders und spannend, auch wenn die Dinge dort ab und zu nur einen anderen Namen haben. Bei Kulinarischem denke ich da vor allem an Bliny, Roster oder Bemme.
Die vielen Stadien aus der Zeit des Warschauer Pakts sind faszinierend. Etliche sind marode, manche wurden abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Ränder der Städte sind oft durch riesige Plattenbausiedlungen geprägt. In den Zentren stehen noch häufig Statuen aus längst vergangenen Tagen des 20. Jahrhunderts, deren Kosenamen vielen im Westen nicht bekannt sind.
Den Menschen merkt man oft an, dass sie in den letzten Jahrzehnten nicht einfach alles kaufen konnten was sie brauchten. Oft behelfen sie sich mit einfachen Mitteln und kommen doch zum Ziel, auch wenn es dabei etwas rustikaler zugehen kann. Generell wirkt vieles entspannter, in dem Bewusstsein, dass alles schon irgendwie funktionieren wird. Die Leute sind häufig offener und herzlicher (wenn man sie nicht provoziert), vielleicht weil sie noch wissen, dass nicht jeder einem sofort etwas Böses will und man es gelegentlich mit Hilfe eines anderen leichter hat. Sie schauen nicht sofort weg, wenn man im Vorbeilaufen versucht Blickkontakt aufzunehmen.
Natürlich ist im Osten auch vieles günstiger, das fängt schon bei den Unterkünften an und setzt sich oft bei den Eintrittspreisen und Zugtickets fort, womit wir wieder bei DEM Thema wären.
Das alles ist Grund genug meine bisherigen Reisehöhepunkte aus dem Osten in einem Buch zusammenzufassen. Da könnte der Eindruck entstehen, dass im Osten alles besser ist. Alles nicht, aber lest selbst…
Joachim Hesse
Für unseren Trip zur Europameisterschaft 2012 gibt es drei Vorgaben: Sebastian und ich reisen erneut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, wollen in beiden Ländern mindestens ein Spiel sehen und das alles so günstig wie möglich. Die Anfahrt von Kassel nach Warschau mit dem Zug ist kein Problem, wenn man etwas Zeit mitbringt. Sebastian steigt in Berlin zu und weiter geht es Richtung Osten. Sebastian hat während seines Studiums einige Monate in Warschau verbracht, daher brauchen wir uns keine Gedanken um eine Unterkunft zu machen. Juka, ein Freundin aus dieser Zeit, überlässt uns ihre Wohnung, wir geben ihr pro Nacht zehn Euro.
Die Eintrittskarten für die Spiele haben wir wenige Monate vor Beginn des Turniers auf der Homepage des Veranstalters gekauft. Deutsche Spiele sind bei unserer Wahl kein Muss. Für 30,- Euro ergattern wir Dänemark gegen Portugal in Lviv (Ukraine) am 13. Juni und für den 16. Juni Griechenland gegen Russland in Warschau zahlen wir 70 Euro – beides zuzüglich Porto und Taschengeld für Herrn Platini.
Nach der Ankunft in Warschau beschließen wir, recht bald die Fahrkarten nach Lviv für das Spiel Dänemark gegen Portugal zu organisieren. Nach möglichen Zügen hatte ich vorab schon im Internet geschaut ohne zu ahnen, was uns noch erwarten würde. Je nach Verbindung war mit zehn bis zwölf Stunden Fahrtzeit zu rechnen. Ich ging daher felsenfest davon aus, Warschau am Dienstag gegen Abend verlassen zu müssen, um rechtzeitig zum Spiel am darauf folgenden Tag in der Ukraine zu sein.
Sebastian und ich gehen zum Hauptbahnhof, wo wir zunächst einen Informationsstand ansteuern. Während der EM sind dort einige Jungs und Mädels beschäftigt, vermutlich Studenten, die auch als Dolmetscher mit Englischund leichten Deutschkenntnissen tätig sind. Wir tragen unser Anliegen vor: Fahrkarten von Warschau nach Lviv um rechtzeitig am Mittwoch beim Spiel Dänemark gegen Portugal zu sein, Rückfahrt so bald wie möglich nach der Partie. Wir werden freundlich und engagiert bedient und darauf hingewiesen, dass Tickets für Ziele im Ausland an den Schaltern 15 und 16 verkauft werden. Wir durchqueren die Bahnhofshalle und begeben uns zu den genannten Schaltern. Schalter 15 ist frei. Wie soll ich die polnische Bahnbeamtin, die uns dort empfängt am Besten beschreiben? Typ abgestumpfte, übergewichtige, deutsche Supermarktkassiererin, Alter Mitte Fünfzig. Die Dame ist zwar für die Auslandstickets zuständig, aber dem Englischen nicht mächtig. Egal, wird schon irgendwie gehen. Wir erzählen ihr also, zunächst auf Englisch, dass wir nach Lviv reisen möchten. Keine Chance, sie stellt sich stur. Sebastian versucht es mit ein paar Brocken Polnisch und Russisch, nichts zu machen, genervt gehen wir zurück zu unseren Studenten.
Die Anfrage beschäftigt gleich zwei der jungen Mitarbeiter, die im Computer nach Verbindungen suchen. Nach längerer Recherche lautet das vorläufige Ergebnis: Hinfahrt-
Abfahrt in Warschau am Dienstag um 17:59 Uhr Ankunft in Lviv am Mittwoch um 6:03 Uhr Rückfahrt-
Abfahrt in Lviv am Mittwoch um 23:59 Uhr Ankunft in Warschau am Donnerstag um 9:39 Uhr
Puh, wir atmen tief durch… Das sind dann ungefähr 42 Stunden vom Aufbruch in der Wohnung bis zur Rückkehr! Klingt spannend Sebastian und ich beschließen einen Antrag auf die dänische Ehrenstaatsbürgerschaft zu stellen, sollten wir je wieder heil in Warschau ankommen. Wir sind bereit und für den Moment zufrieden damit, dass wir eine Chance haben es mit dem Zug zum Spiel zu schaffen und wieder rechtzeitig zurück kommen werden um auch das zweite Spiel sehen zu können. Bei diesem wird Sebastian, entgegen der ursprünglichen Planung leider nicht dabei sein können, da er zwischendurch nach Deutschland fahren muss. Er hat eine Einladung zu einer Lesung in Weimar, die er natürlich wahrnehmen möchte. Wir finden Ersatz für ihn, doch dazu später mehr.
Mit den Verbindungen in der Hand begleitet uns einer der Studenten erneut zu Schalter 15, mit ihm reihen wir uns in die Schlange der Wartenden ein. Wir legen der „Kassiererin“ den Ausdruck mit den Fahrzeiten vor, er führt die Verhandlungen mit ihr. Von vorne herein ist sie von unserer scheinbar sehr ungewöhnlichen Anfrage nicht sonderlich begeistert. Sie schaut sich den Zettel mit den Verbindungen flüchtig an und spricht von da an nur noch mit ihrem Landsmann. Wir hören etwas von Lwiff und Lwuff. Der Student übersetzt, dass sie uns bei unserem ersten Kontakt nicht weiterhelfen konnte, weil sie uns nicht verstanden habe. Lviv wird im Ukrainischen Lwiff ausgesprochen auf Polnisch allerdings Lwuff, schreibt sich Lwow! Irgendwie klingt beides nur noch nach Waschmittel… Besonders Sebastian muss sehr an sich halten, ich stehe zu sehr unter Schock und bin zu keiner Reaktion fähig.
Missmutig beginnt sie etwas in ihre Tastatur zu tippen. Ja, diese Zugverbindung gebe es zwar, es seien allerdings keine Tickets mehr verfügbar. Wir sind verzweifelt, eine Achterbahn der Gefühle. Man fasst es nicht1. Es ist Fußballeuropameisterschaft und wir wollen doch „nur“ mit der Bahn von einem Austragungsort zum nächsten fahren, beide Städte sind nur ungefähr 400 Kilometer von einander entfernt, da muss es doch eine Chance geben mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen.
„Gibt es noch eine andere Möglichkeit?“, fragen wir unseren Dolmetscher zurückhaltend. Er bringt uns zu einem weiteren „Service-Zentrum“, es handelt sich um eine Art Reisebüro, bei dem Wartenummern zu ziehen sind und dann aufgerufen wird. Wir danken ihm für seine Hilfe, verabschieden uns, ziehen eine Nummer und setzen uns zu den ungefähr zehn bis fünfzehn Wartenden – uns gegenüber befinden sich fünf Beratungsplätze. An der Grenze zur Frustration harren wir der Dinge, die noch kommen mögen. Wir nutzen die Zeit um das Personal näher zu beobachten. Es versteckt sich nicht, wie die Kassiererin in der großen Halle, hinter Panzerglas und macht einen deutlich freundlicheren Eindruck. Unter den Beschäftigten befinden sich eine hübsche und eine sehr hübsche junge Dame.
Zwei Nummern bevor wir an der Reihe sind, nimmt ein Wartender seinen Aufruf nicht wahr. Wir nutzen die Gelegenheit und stürmen zu der sehr hübschen Blonden.
Freundlich lächelnd nimmt sie unseren Ausdruck entgegen und beginnt ihren Computer zu bearbeiten. Eine direkte Verbindung ist tatsächlich nicht zu bekommen. Sie versucht uns über Umwege und Zwischenstationen ans Ziel zu bringen und hat damit Erfolg.
Nach einigen Minuten des Wartens und Bangens teilt sie uns schließlich mit, dass wir unser Ziel rechtzeitig erreichen werden. Die Hinfahrt führt uns über Krakau, dort werden wir uns die Nacht irgendwie um die Ohren schlagen müssen. Ankunft am späten Abend, Weiterfahrt am nächsten Morgen um 4:59 Uhr. Diese sorgfältig ausgetüfftelte Route führt uns nicht direkt nach Lviv, das ist tatsächlich nicht möglich. Sie lässt sich mit dem Abstecher nach Krakau beim Blick auf die Landkarte am Treffendsten mit dem Verlauf eines Ls beschreiben. Krakau ist der Knick des Buchstaben.
„Ich kenne jemanden in Krakau. Friedhelm kann uns mit Sicherheit ein paar nette Kneipen zeigen, die Nacht kriegen wir schon rum!“, ergänzt Sebastian.
Nach Krakau werden wir einen weiteren Zwischenstopp in der polnischen Grenzstadt Przemysl einlegen und schließlich um 14:03 Uhr Ortszeit in Lviv ankommen, Spielbeginn ist 19:00 Uhr.
Die Rückfahrt wird nach dem Spiel um 2:02 Uhr beginnen. Zwei ein halb Stunden später, um 3:33 Uhr Ortszeit werden wir wieder in Przemysl sein. Anschluss um 4:45 Uhr nach Warschau, Ankunft dort am späten Vormittag.
Wir erhalten für jede Teilstrecke ein Ticket und verlassen so, mit jeweils einem halben Kartenspiel in der Hand, die Lokalität. Die Fahrt kostet pro Nase 70,- Euro, damit können wir leben, auch wenn das für polnische Verhältnisse kein Schnäppchen ist. In Deutschland hätten wir bei einer so kurzfristigen Buchung definitiv mehr bezahlt, dessen sind wir uns bewusst. Ende gut, alles gut. Wir verabschieden uns von der sympathischen Dame und sind wieder milde gestimmt.
Die Zeit bis zur Abfahrt am Dienstag verbringen wir damit Warschau zu erkunden, Sebastian zeigt mir das Haus, in dem er gewohnt hat. Besonders die Altstadt von Warschau begeistert mich sehr. Ich fühle mich an den Stadtkern von Basel erinnert. Auch die russisch geprägten Bausünden aus der Zeit des Kommunismus haben ihren Reiz. Besonders der riesige Kulturpalast mit seinen 231 Metern Höhe beeindruckt mich.
Das erneuerte Nationalstadion ist wunderschön an der Weichsel gelegen. Bei Sonnenschein genießen wir die oft pilzlastigen polnischen Spezialitäten und lassen es uns gut gehen. Auf den öffentlichen Plätzen herrscht außerhalb der Kneipen striktes Alkoholverbot, wir sehen uns genötigt heimlich zu trinken.
Es ist unser Abreisetag. Abends findet in Warschau das von Polizei und Boulevard-Blättern mit Spannung erwartete Jahrhundertspiel zwischen Polen und Russland statt. Bereits zur Mittagszeit befinden sich Massen von Russen in der Stadt. Es wird viel getrunken und provoziert. Besonders auffällig ist ein teurer westlicher Geländewagen mit russischem Kennzeichen. Der Beifahrer guckt aus dem Dachfenster, trägt einen Helm (ich spreche nicht von einem Bauhelm) und schwenkt eine riesige russische Fahne, begleitend wird in Überlautstärke die Nationalhymne abgespielt.
Die Terminierung für dieses Match hätte ungünstiger nicht sein können. Am 12. Juni, dem Tag des Spiels, feiert Russland nichts anderes als den Nationalfeiertag, den „Tag Russlands“ oder auch „Tag der russischen Nation“ genannt.
Wir legen einen kurzen Zwischenstopp in der Wohnung ein, packen ein paar Kleinigkeiten für den 40-Stunden-Trip in unsere Umhängetaschen und haben vor mit der Tram vom Stadion zum Hauptbahnhof zu fahren um dort vor unserer Abfahrt noch Griechenland gegen Tschechien im benachbarten Hard-Rock-Café zu gucken. Doch unsere Pläne werden jäh durchkreuzt. Wegen der zum Stadion pilgernden Fans ist die Tramstrecke zum Bahnhof gesperrt. Also entscheiden wir uns zu laufen und haken Griechenland gegen Tschechien ab. Der Fußweg gestaltet sich ebenfalls problematisch. Es sind mittlerweile nur noch drei Stunden bis zum Anpfiff des Spiels Polen gegen Russland. Auf den Straßen ist die Hölle los. Polnische Fans, russisches Fans, Polizisten, Wasserwerfer, Straßensperren. Nur wenige neutrale Passanten sind zu sehen, alles strömt von der Innenstadt zum Stadion. Zwei Nordhessen auf dem Weg zum Bahnhof bilden da schon fast die Ausnahme. Auf der Weichselbrücke am Stadion kommt es zum Aufeinandertreffen der beiden Fanlager. Die Polizei macht die Straße komplett zu. Zwischenzeitlich ist kein Durchkommen mehr möglich. Es wird hektisch, Menschen laufen, Feuerwerksböller werden geworfen. Am Beginn der Brücke laufen wir entlang der Hänge, schlagen uns durch Gestrüpp. Am Rand bildet sich eine Gasse, sie wird von den Unbeteiligten genutzt und von der Polizei zugelassen.
So schnell wie es begonnen hat, ist das Spektakel aber auch schon wieder vorbei. In der Mitte der Brücke posieren die normalen Fans aus beiden Ländern mit Trikots und Schals für gemeinsame Erinnerungsfotos. Nur noch ein Mal, kurz vor dem Bahnhof, kommt es zu einem weiteren kleinen Scharmützel, bei dem eine Person verletzt wird, Polizisten und Anhänger rennen und ein Böller wenige Meter neben uns los geht.
Schließlich erreichen wir unversehrt den Bahnhof und verlassen die Stadt zunächst in Richtung Krakau, noch 22 Stunden bis zum Anpfiff in Lviv. Im Zug, in den Bahnhöfen unterwegs, eigentlich entlang der gesamten Strecke erleben wir ein Kontrastprogramm zu den Turbolenzen auf dem Weg zum Bahnhof: Es ist kaum ein Mensch zu sehen! Das Land scheint leer gefegt. Polen gegen Russland zieht alle in seinen Bann. Darüber hinaus erinnert uns die Landschaft sehr stark an die nordhessische Heimat.
Am späten Abend treffen wir Friedhelm, Sebastians Bekannten, im Zentrum Krakaus. Er kommt mit nassen Haaren auf dem Fahrrad angebraust. Die Stadt ist sehr jung. Bei den vielen Studenten scheint Friedhelm exakt das Durchschnittsalter zu repräsentieren. Er führt uns in die erste Kneipe. Begleitet von brüllenden Beats trinke ich ein Bier, während sich die beiden alten Weggefährten schreiend unterhalten.
Wir ziehen weiter und entdecken plötzlich den Bus der englischen Nationalmannschaft. Kurzzeitig schmieden wir perfide Pläne, was man mit diesem Gefährt alles anstellen könnte.
Der zweite Laden sagt mir eher zu. Wir sitzen in einem Hinterhof, umgeben von alten Gemäuern. Erste Müdigkeit kommt auf, ich entscheide mich für eine Cola. Wir müssen schließlich noch eine Weile durchhalten. Nach einiger Zeit verabschiedet sich Friedhelm von uns, er muss am nächsten Tag früh raus.
Sebastian und ich unternehmen einen Rundgang über den riesigen Marktplatz, mich zieht vor allem die Marienkirche mit den beiden unterschiedlichen Türmen in ihren Bann. Da es in Strömen regnet suchen wir uns ein trockenes Plätzchen. In einem Straßencafé werden wir sesshaft. Bei Cappuccino und Cola machen wir es uns in den bereitliegenden Decken unter einem Schirm gemütlich, Sebastian gönnt sich sogar ein paar Züge aus seiner Pfeife.