Paul Reiners: Studium der Sozialarbeit, Rechtswissenschaft, Kriminologie und Polizeiwissenschaft; Kriminologe M.A.; mehr als 30 Jahre hauptamtlicher Bewährungshelfer; freier Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaften der Ruhruniversität Bochum
für
Hans-Joachim Franke
und
Wolfhard Bode
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Impressum
© 2004 Paul Reiners
Umschlaggestaltung: Paul Reiners
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-7357-3417-4
Der besseren Lesbarkeit wegen wird im Text jeweils die männliche Form benutzt, womit auch der Gepflogenheit der Gesetzestexte gefolgt wird.
In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird der Pädagoge als Anwalt des Kindes gesehen. Seine Aufgabe ist es, die Anforderungen der Gesellschaft an das Kind heranzutragen und auf sein Verständnis und seine Ressourcen umzuformen, ohne dabei aber diese Forderungen aufzugeben. Das Pädagogische besteht demnach im Balanceakt des Interessenausgleiches.
Gerade für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in den Berufsfeldern Jugendgerichtshilfe und Bewährungshilfe gilt: Weder das Leben des Klienten in seinem berechtigten Anspruch auf Selbstverwirklichung, noch die Forderungen der Gesellschaft nach Einhaltung ihrer Normen und Regeln dürfen die pädagogische Situation allein bestimmen.
Dieses Buch richtet sich an die Berufskollegen in Ausbildung und Praxis, die sich der Notwendigkeit dieses Ausbalancierens bewusst sind. Und es soll dazu beitragen, gerade diese Grundproblematik in der Situation einer Hauptverhandlung Berufsfremden besser vermitteln zu können.
Einen Standpunkt wird man umso besser vertreten können, je mehr man einen festen Stand hat. Dieses Buch soll dabei helfen, neues Wissen zu erwerben, vorhandenes Wissen zu justieren und mehr Sachkunde und Übung im juristischen Denken zu erlangen. Deswegen wird der Leser nicht zum Richter oder Strafverteidiger, hat am Ende aber eine bessere Vorstellung davon, welche Methodik deren Denken und Handeln leitet.
Anhand eines Falles aus der Praxis wird die Entwicklung des Strafverfahrens von der ersten Festnahme bis zur Hauptverhandlung verfolgt. Dabei wird die rechtliche Situation und die daraus resultierenden rechtlichen Möglichkeiten des Beschuldigten/Angeschuldigten/Angeklagten in den einzelnen Stadien des Verfahrens geprüft. Das erfolgt nicht in dogmatischer Tiefe, sondern mit grundsätzlicheren Standards der strafrechtlichen Praxis. Dies ist kein Lehrbuch, sondern ein Lernbuch.
Mir ging es darum, ein Verständnis des Strafverfahrens von der Tatbegehung bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung zu vermitteln, das eine bessere Antizipation und Akzeptanz ihres Ergebnisses ermöglicht.
In dieser Absicht wird der Leser anhand der Entwicklung eines Leitfalles sukzessive mit den Grundzügen juristischer Methodenlehre und insbesondere dem Gutachtenstil vertraut gemacht. Diese Art der Falllösung wird auch bei anderen Fällen eingeübt, die sich auf klassische Klientendelikte wie Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung und Betrug beziehen. Wenn man sich vorstellt, dies im Rahmen eines langen Studiums der Rechtswissenschaft hundertfach zur Fallösung verwendet zu haben, wird man verstehen, wie sich dies im Bewusstsein auch so festsetzen kann, dass letztlich alle Probleme auf diese Art zu lösen seien. Erlernt hat man aber nur die methodisch fachgerechte Lösung eines eher theoretischen und skizzierten Falles.
Sozialarbeiter und Sozialpädagogen treffen in ihrer beruflichen Praxis auf komplexe Situationen und Schwierigkeiten multipler Art. Klienten werden nicht als Fälle, sondern in ihren gesamten Zusammenhängen gesehen, die eine isolierte Sicht einer Problemlage nicht zulassen. Am Ende der Lektüre sollte der Leser aber eine Ahnung davon entwickeln können, wie sich gleichwohl der Gutachtenstil - etwa beim Casework - in die eigene Arbeit integrieren ließe.
Es ist immer etwas umständlich, neben der eigentlichen juristischen Literatur noch mehrere Gesetzestexte griffbereit und aufgeschlagen auf dem Tisch haben zu müssen, um die gesetzlichen Bestimmungen im Wortlaut nachlesen zu können. Das ist aber unumgänglich, und um die Sache zu erleichtern, sind im Anhang die einzelnen Gesetzestexte in der Reihenfolge ihres Vorkommens im Text aufgeführt. So sollte auch beispielsweise während einer Bahnfahrt eine erquickliche Lektüre möglich sein.
Paul Reiners
Februar 2014
Wer als Bewährungshelfer zu seiner ersten Hauptverhandlung geht, wird vermutlich nicht genau wissen, was ihn erwartet. Das Studium der Sozialarbeit bereitet darauf in der Regel nicht vor.
Gehört werden Bewährungshelfer und Jugendgerichtshelfer in der Hauptverhandlung für gewöhnlich als Letzte. Unmittelbar im Anschluss an ihren Vortrag erfolgen die Plädoyers der Staatsanwaltschaft bzw. der Verteidigung und das Gericht zieht sich im Anschluss zur Beratung zurück.
Wie nun beim eigenen Vortrag eine Beweisaufnahme im Ergebnis würdigen, wenn man sie und ihre Regeln nicht genau versteht? Wie im Sinne seines Probanden im Verlauf eines Strafverfahrens mit Juristen umgehen, wenn keine Gemeinsamkeit der Begriffe und Definitionen besteht? Da kommt es häufig zu Missverständnissen, weil der eine den anderen in seinen Anliegen und Absichten fehlinterpretiert.
Am Ende der Lektüre dieses Buches wird der Leser kein Strafverteidiger sein, aber er wird ein tieferes und besseres Verständnis von Strafrechtlern und ihren Denkabläufen erworben haben. Und das wird ihm in der täglichen Arbeit helfen, den Probanden und Klienten die Zusammenhänge und Hintergründe juristischer Entscheidungen besser vermitteln zu können.
Das Buch beschäftigt sich mit Fragestellungen und echten Fällen aus der Praxis, so dass neu gewonnene Erkenntnisse im Berufsalltag auch genutzt werden können.
Als praktischer Einstieg dient ein Fall aus der Praxis, der sich tatsächlich so zugetragen hat. Natürlich sind die Namen der Akteure geändert worden.
Wenn Sie dieses Zeichen sehen, haben sich aus dem Sachverhalt Fragen von größerer Tragweite und Bedeutung ergeben, die entsprechend ausführlich abgehandelt werden.
Wenn Sie dieses Zeichen sehen, bitte ich Sie, selbst mit der Anfertigung einer Übung aktiv zu werden und Ihr soeben erworbenes Wissen auf einen Übungsfall anzuwenden. Lösungsorientierte Anmerkungen zu diesen Übungen finden Sie auf Seite →.
Sachverhalt:
Klaus Posat, geb. 14.3.1994, und Dirk Müller, geb. 23.7.1992, treffen sich am 12.9.2011 gegen 23.00 Uhr auf der Straße. In einer Gaststätte trinken sie fünf Bier auf ihr Wiedersehen und beklagen ihre schlechte Finanzlage. „Vielleicht können wir irgendwo was klauen gehen“, meint Posat, aber Müller weist darauf hin, dass er Bewährung hat und die „Bullen“ überall seien. Zu einem richtigen Plan kommen sie nicht.
Das Gespräch macht hungrig und sie beschließen, zum etwa 4 Kilometer entfernten McDonald’s zu gehen. Ein Bus fährt schon nicht mehr, sie müssen zu Fuß gehen. Nach 10 Minuten Fußmarsch fällt Posat ein, dass er weiß, wo ein Fahrrad ist. Das könne man doch für die Fahrt zu McDonald’s benutzen. Müller ist einverstanden und wartet auf ihn. Posat geht in eine Nebenstraße, die Müller nicht einsehen kann.
Peter Fink, den Dirk Müller kennt, kommt vorbei und fragt, was er denn da mache. Müller sagt, dass er auf Posat warte, der nur eben ein Fahrrad hole. Man wolle dann zu McDonald’s. Peter Fink ist Vegetarier und hat keine Lust mitzukommen. Er verabschiedet sich.
Erst drei Zigaretten später kommt Posat mit einem alten, recht klapprigen Fahrrad zurück. Müller fragt, ob das auch nicht geklaut ist, und Posat sagt, dass alles in Ordnung sei, es wäre nicht geklaut. Das Fahrrad liege schon seit Wochen im Gebüsch in der Nähe seiner Wohnung. Er habe auch erst die Kette und das Hinterrad reparieren müssen, deswegen habe es so lange gedauert. Er habe nämlich Werkzeug zu Hause holen müssen. Nach anfänglichem Zögern steigt Müller schließlich mit aufs Rad und beide fahren ohne Beleuchtung zu Mc Donald’s.
Als sie in die Einfahrt einbiegen, sehen sie vier Streifenwagen auf dem Parkplatz. Sie verstecken ihr Fahrrad unter einem Gebüsch und betreten McDonald’s. Nach ausgiebiger Mahlzeit wollen sie nach Hause und beschließen, erneut das Fahrrad zu benutzen. Als sie es aus dem Gebüsch hervorziehen und aufsteigen, werden sie von der Polizei, die beide bereits bei der Ankunft beobachtet hatte, wegen Fahrraddiebstahls festgenommen.
Bei ihrer Vernehmung räumen beide nur ein, dass ihnen das Fahrrad nicht gehört und sie es an den Fundort zurückbringen wollten. Ohne ihre Rechtsanwälte wollen sie nichts weiter sagen.
Später stellt sich heraus, dass terroristische Anschläge befürchtet wurden und deswegen verstärkte Polizeipräsenz vor amerikanischen Einrichtungen und Firmen angeordnet worden war. So erklärt sich die Anwesenheit von vier Streifenwagen und die intensive Observation des Umfeldes von McDonald’s.
Auszug aus der Akte der Jugendgerichtshilfe:
Dirk Müller stammt aus zerrütteten Familienverhältnissen und ist nach der Scheidung der Eltern (da war er 12 Jahre) mit seinem 2 Jahre jüngeren Bruder beim Vater aufgewachsen. Der Vater ging keiner geregelten Arbeit nach, sondern lebte von Schwarzarbeit, die man ihm aber nie nachweisen konnte. Seit 6 Monaten lebt Dirk Müller mit seiner Freundin in deren Wohnung. Sie ist ausgelernte Arzthelferin.
Müller war vom 15.12.2010 bis 14.12.2011 Teilnehmer der Maßnahme Qualifizierung und Beschäftigung der Stadt. Dort war er außerordentlich zuverlässig und motiviert, so dass ihm häufiger die Aufsicht einer kleinen Arbeitsgruppe und die Erledigung spezieller Arbeiten anvertraut wurde. Ausbilder und betreuender Sozialarbeiter sind voll des Lobes. Durch ihre Vermittlung erhält der Proband eine Lehrstelle als Teilezurichter, die er am 15.12.2011 antritt.
Vorbelastung:
2008
3 Wochen Jugendarrest wg. gefährlicher Körperverletzung
11.11.2008
1 Jahr Jugendstrafe auf Bewährung wg. gemeinschaftlichen Raubes und gemeinschaftlichen Diebstahls
30.3.2009
Widerrufsbeschluss wg. Nichterfüllung der Bewährungsauflagen
16.7.2009
Strafantritt
22.2.2010
Beschluss über bedingte Entlassung zum 13.3.2010, Strafrest 124 Tage, Bewährungszeit 3 Jahre
Üb.1
Beantworten Sie doch einmal folgende Fragen:
Seien Sie doch mutig und wagen jetzt schon eine Prognose über das Urteil.
Sicher ist bis jetzt nur, dass wir am Anfang eines Strafverfahrens stehen, das sich in das Ermittlungsverfahren (hier wird der Betreffende „Beschuldigter“ genannt), das Zwischenverfahren (hier nennt man ihn „Angeschuldigter“) und das Hauptverfahren (hier nennt man ihn „Angeklagter“) gliedert.
Das Strafverfahren
Ermittlungsverfahren — Beschuldigter
Zwischenverfahren — Angeschuldigter
Hauptverfahren — Angeklagter
Im Ermittlungsverfahren (auch Vorverfahren genannt), welches z.B. durch Strafanzeige, Strafantrag (§ 158 StPO) oder, wie in unserem Fall, durch Ertappen auf frischer Tat in Gang kommt, wird überprüft, ob der Beschuldigte der Tat hinreichend verdächtig ist. Sofern dies nicht der Fall ist, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein, § 170 II 1 StPO. Falls die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht bejaht, erhebt sie die öffentliche Klage, § 170 I StPO. Herrin des Ermittlungsverfahrens ist die Staatsanwaltschaft. Zuständig ist gem. § 2 RiStBV der Staatsanwalt, in dessen Bezirk die Tat begangen wurde.
Die Zuständigkeit des Gerichts – also der Gerichtsstand – richtet sich gem. § 7 ff StPO entweder nach
wobei eben entscheidend ist, ob er innerhalb des Gerichtsbezirkes liegt. Der Regelfall ist der des § 3 StPO, also die Zuständigkeit aufgrund des Tatortes. Dabei lässt sich folgende Faustregel aufstellen: Bei Erwachsenen wird am Tatort Anklage erhoben, bei Jugendlichen am Wohnort.
Die Gerichte sind vierstufig aufgebaut:
Die nächsthöhere Instanz ist jeweils die Berufungsinstanz, wobei Landgerichte und Oberlandesgerichte auch in erster Instanz als Strafgericht zuständig sein können. Der Bundesgerichtshof fungiert allerdings nur als Revisionsinstanz. Darüber hinaus bestehen noch Beschwerdemöglichkeiten zum Bundesverfassungsgericht und zum Europäischen Gerichtshof.
Beispiele:
Franz Klemm, 24 Jahre, ist wegen dreifachen Diebstahls aufgefallen und vom Strafrichter als Einzelrichter zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt worden. Dagegen hat er Berufung eingelegt, weil ihm die Strafe zu hoch erscheint.
Zuständig für die Entscheidung ist die kleine Strafkammer des Landgerichts als Berufungsgericht in der Besetzung mit einem Berufsrichter und 2 Schöffen. Die kleine Strafkammer fungiert gem. § 76 GVG als Berufungsinstanz in Verfahren über ein Urteil des Strafrichters oder des Schöffengerichtes. In Verfahren über Entscheidungen des erweiterten Schöffengerichts (2 Berufsrichter, 2 Schöffen) ist ein zweiter Berufsrichter hinzuzuziehen.
In unserem Beispiel schließt sich das Berufungsgericht der Auffassung von Franz Klemm an. Da er zum ersten Mal verurteilt worden ist, erscheint dies der Kammer als Milderungsgrund, der von der ersten Instanz nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Das Urteil der ersten Instanz wird auf 4 Monate geändert.
Die Berufung erfolgte für Franz Klemm ohne Risiko. Allenfalls hätte das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts bestätigen können. Eine höhere Bestrafung war nach dem Grundsatz der reformatio in peius (= Verschlechterungsverbot) gem. § 331 StPO nicht möglich.
Häufig legen Verurteilte, bei denen mit dem Urteil Haftbefehl erlassen worden war, Berufung ein, obwohl sie eine Abänderung des Urteils nicht erwarten, oder nicht erstreben. Solange nämlich Rechtsmittel eingelegt und das Urteil nicht rechtskräftig ist, gilt weiter die Unschuldsvermutung und sie genießen in der Haft weiter den – im Vergleich zum Strafgefangenen – angenehmeren Status des Untersuchungsgefangenen. So kommt es häufig dazu, dass die Betreffenden das Rechtsmittel der Berufung am Tag der Berufungsverhandlung zurückziehen. In der Regel wird die in der Sache erlittene U-Haft auf die zu verbüßende Strafe angerechnet, so dass der Vorteil auf der Hand liegt.
Variante unseres Beispiels:
Nicht Franz Klemm, sondern die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt. Sie hatte 8 Monate Freiheitsstrafe gefordert und ihr erscheint das Urteil des Amtsgerichts zu milde. Das Landgericht folgt dieser Auffassung und entscheidet in der Berufungsverhandlung auf 8 Monate Freiheitsstrafe.
Hier greift das Prinzip der reformatio in peius nicht, da allein die Staatsanwaltschaft und nicht zu seinen Gunsten Rechtsmittel eingelegt hatte. Falls Angeklagter und Staatsanwaltschaft Rechtsmittel einlegen, greift übrigens die Bestimmung des § 331 StPO zum Schutz des Verurteilten auch nicht, so dass es auch zu einer höheren Strafe als im angegriffenen Urteil kommen kann.
Entsprechendes gilt, wenn Franz Klamm 16 Jahre alt und vom Jugendrichter verurteilt worden wäre.
Fritze Klau, 17 Jahre alt, ist ein alter Bekannter des Jugendrichters und jetzt vom Jugendschöffengericht zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden.
Fritze weiß, dass er es diesmal übertrieben hat und hatte sogar mit einer höheren Strafe gerechnet. Sein Verteidiger hat aber bemerkt, dass kein Vertreter der Jugendgerichtshilfe an der Verhandlung teilgenommen hat. Er legt im Wege der Sprungrevision beim Oberlandesgericht Revision ein.
Mit der Revision rügt man die Verletzung materiellen Rechts, behauptet also, dass ein Gesetz nicht oder fehlerhaft angewandt worden ist. § 38 JGG schreibt die Teilnahme der Jugendgerichtshilfe an der Verhandlung gegen Jugendliche zwingend vor, so dass deren Abwesenheit ein Revisionsgrund ist.
Im Gegensatz zum Rechtsmittel der Berufung muss die Berufung ausführlich begründet werden. Bei der Revision kann man die nächsthöhere Instanz (im Beispielsfall die Jugendkammer beim Landgericht) überspringen und das Rechtsmittel beim nächsthöheren Gericht einlegen.
Die Revision zielt nicht auf eine Abänderung, sondern auf die Aufhebung des angefochtenen Urteils. Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen, so entscheidet gem. § 354 StPO das Revisionsgericht selbst, wenn keine weitere Beweisaufnahme oder Beweiserhebung erfolgen muss. Anderenfalls muss die Sache von einem anderen Gericht noch mal verhandelt werden. Inhalte des angefochtenen Urteils dürfen dann nicht mehr verwendet werden. D.h., alle Zeugen sind noch einmal zu hören, wobei die sich dann meistens nicht erklären können, warum sie das alles noch einmal wiederholen sollen, was sie doch schon längst in der ersten Verhandlung mitgeteilt haben.
Das Rechtsmittel der Berufung zielt auf Abänderung des erstinstanzlichen Urteils ab. Das kann sich auf das Strafmaß beschränken, kann sich aber auch auf die gesamte Verhandlung einschließlich der Beweisaufnahme erstrecken. Dann ist in der Berufungsverhandlung die Beweisaufnahme in vollem Umfang erneut durchzuführen.
Es mag bei dem außen stehenden Betrachter gelegentlich der Eindruck entstehen, mit Rechtsmitteln werde (siehe oben) inflationär umgegangen und die Täter wollten sich auf diese Art nur vor der verdienten Strafe drücken.
In unserem Rechtssystem gilt so lange die Unschuldsvermutung, wie die Schuld nicht mit rechtskräftigem Urteil festgestellt worden ist. Bis dahin ist schon der Beschuldigte mit einigen Rechten ausgestattet, die dem Zweck dienen, dass möglichst kein Unschuldiger und der Schuldige angemessen bestraft wird.
Wann beginnt eigentlich die Beschuldigteneigenschaft?
Ein Beschuldigter ist als Verfahrenssubjekt mit gewichtigen Rechten ausgestattet (z.B. Aussageverweigerungsrecht, Recht auf Verteidigung, § 136 I 2 StPO). Nach gängiger Auffassung beginnt die Beschuldigtenstellung, wenn die Verfolgungsorgane durch erkennbaren Willensakt deutlich machen, dass sie Strafverfahren gegen den Verdächtigen als Beschuldigten betreiben wollen (z.B. durch Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens).
Gemäß § 152 II StPO ist die Verfolgungsbehörde verpflichtet, einen Verdächtigen formell zum Beschuldigten zu erklären, wenn ein (hinreichend konkreter) Anfangsverdacht besteht. Im Vorfeld gibt es für die Verfolgungsbehörde allerdings einen Ermessensspielraum.
Und weiter?
Im Zwischenverfahren entscheidet das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht sodann, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder das Verfahren (vorläufig) einzustellen ist, § 199 StPO, §§ 203 ff. StPO.
Sinn und Zweck des Zwischenverfahrens ist es, dass eine von der Anklagebehörde (Staatsanwaltschaft) unabhängige Instanz überprüft, ob tatsächlich hinreichender Tatverdacht vorliegt, § 203 StPO. Diese „Kontrolle“ erklärt auch, warum das Gericht bei der Beschlussfassung nicht an die Anträge der Staatsanwaltschaft gebunden ist (§ 206 StPO).
Zudem soll dem Beschuldigten durch das Zwischenverfahren eine weitere Verteidigungsmöglichkeit gegeben werden, in der er die Option hat, vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens einzelne Beweiserhebungen zu beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen.
Das Hauptverfahren ordnet sich in zwei Stufen.
Zunächst wird die Hauptverhandlung vorbereitet (vgl. §§ 213 ff. StPO). Darauf folgt die Hauptverhandlung an sich, deren Ablauf in § 243 StPO umschrieben ist. Die Hauptverhandlung endet mit der Verkündung des Urteils, § 260 StPO.
Der weitere Fortgang des Leitfalles:
Am nächsten Tag sucht Dirk Müller seinen Bewährungshelfer, zu dem er regelmäßigen Kontakt hat, in der Sprechstunde auf und beichtet ihm den Vorfall. Er fürchtet um seine Bewährung, fragt nach dem zu erwartenden Strafmaß und fragt, ob er sich nicht besser einen Anwalt nehmen soll, oder ob er einen auf Armenrecht kriegt.
Zu klären ist:
Frage 1a) — mit welchem Strafmaß muss Dirk Müller rechnen?
Frage 1 b) — soll er sich besser einen Verteidiger nehmen?
Bewährungshelfer und Jugendgerichtshelfer werden im Lauf eines Ermittlungsverfahrens oft um rechtlichen Rat gebeten, ohne dass ihre Ausbildung sie darauf hinreichend vorbereitet hat. Es bestehen auch oft Zweifel, ob dies nicht schon eine unzulässige Rechtsberatung ist.
Generationen von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen sind mit Hinweisen belegt worden, bei Rechtsberatungen ihrer Klienten vorsichtig zu sein, denn diese seien durch das Rechtsberatungsgesetz(RBerG) untersagt.
Nun ist zwar seit dem 1.7.2008 das Rechtsberatungsgesetz durch das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) abgelöst worden; ein historischer Blick auf die Hintergründe der Notwendigkeit einer Regelung der Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen ist aber dennoch angebracht.
Zunächst konnte beruflich, oder doch gegen Bezahlung, jedermann fremde Rechtsangelegenheiten besorgen. Es konnte- wie andere auch - als Gewerbe ausgeübt werden. Man kann sich vorstellen, dass nicht jeder das Gewerbe auch beherrschte und insofern den „Mandanten“ gelegentlich auch großer Schaden nicht trotz, sondern wegen der Rechtsvertretung entstand. Gleichwohl warb ein jeder Rechtsberater für sich mit Qualitäten, die von den Auftraggebern objektiv nicht zu bewerten und überprüfen waren. Unqualifizierte Anträge und Schriftsätze werden die Reibungslosigkeit des Rechtsverkehrs beeinträchtigt haben, so dass es in den 1920er Jahren zu ersten Überlegungen kam, eine Regelung herbeizuführen, die sowohl die Mandanten als auch die Justiz vor unqualifizierten Rechtsberatern schützen sollte. Zu einer gesetzlichen Regelung kam es zunächst aber nicht.
Im Jahr 1933 hatten die Nationalsozialisten mit dem Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ihr Ziel erreicht, jüdische Rechtsanwälte von der gerichtlichen Vertretung ihrer Mandanten auszuschließen. Mit dem im Dezember 1935 in Kraft getretenem Rechtsberatungsgesetz wurden jüdischen Rechtsanwälten nun auch an der nichtanwaltlichen Rechtsberatung gehindert. Die Verordnung zur Ausführung des Rechtsberatungsgesetzes sah in § 5 vor, dass Juden die erforderliche Erlaubnis nicht erteilt wurde. Damit konnten selbst die zuvor als Richter oder Staatsanwälte tätigen Juden nicht mehr rechtsberatend tätig werden.
Flankiert vom Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft und dem Reichsbürgergesetz ist das Rechtsberatungsgesetz von seiner ursprünglichen Regelungsabsicht entfernt zum Instrumentarium nationalsozialistischer Macht geworden.
Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt auch wegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes -BVerfG, 1 BvR 737/00 vom 29.7.20041 musste es zu einer Änderung des Rechtsberatungsgesetzes kommen, da das Gesetz auch an europäisches und geltendes deutsches Recht angepasst werden musste.
Die Furcht der vielen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen vor einem Verstoß gegen das bis zum 30.6.2008 geltende Rechtsberatungsgesetz war in der Mehrheit der Fälle vermutlich unbegründet. In § 3 RBerG hieße unter der Überschrift „Zugelassene Rechtsberatung“, dass durch dieses Gesetz die Rechtsberatung und Rechtsbetreuung, die von Behörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit durchgeführt wird, nicht berührt werde.
Nun ist die Bewährungshilfe im engeren Sinn zwar keine eigenständige Behörde, gleichwohl durften aber Sozialarbeiter/Sozialpädagogen in der Bewährungsund Gerichtshilfe sowie der Jugendgerichtshilfe rechtlich beraten, weil sie bei Justizverwaltungsbehörden, Staatsanwaltschaften, bzw. beim Jugendamt beschäftigt waren. Der Umfang der insoweit zulässigen Rechtsberatung lässt sich bei Bewährungshelfern kaum einschränken, da sich deren Zuständigkeit auf eine Vielzahl von Lebenssituationen ihrer Probanden bezieht.
Im eher verwirrend strukturierten Rechtsberatungsgesetz war in § 3 noch die Rede von der Rechtsbesorgung. Darunter versteht man üblicherweise eine über die direkte Beratung des Klienten nach außen wirkende Tätigkeit Dritten gegenüber, mit Schriftsätzen oder gar im Rahmen einer Prozeßvertretung (z.B. Altenhoff, Busch, Chemnitz, Kommentar zum RBerG., 4. Aufl. 1993, § 1 Rz. 61 ff.).
Natürlich enthalten Schreiben von Bewährungshelfern an Dritte auch rechtliche Inhalte – etwa im Rahmen einer Schuldenregulierung – und es gibt Fälle, in denen Richter Bewährungshelfer/Sozialarbeiter problemlos als Prozeßvertreter in Verfahren vor dem Sozialgericht akzeptiert haben.
Die Prozessvertretung könnte sich im Übrigen theoretisch durchaus auch auf die Strafverteidigung erstrecken, denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (in keinem anderen europäischen Land gibt es im Übrigen ein derartiges Rechtsberatungsgesetz wie bei uns) muss ein Strafverteidiger nicht notwendigerweise Rechtsanwalt sein.