Prolog

Was macht ein Sachse in Berlin? Er zieht durch die Kneipen, lernt berlinern, schaut dem Volk aufs Maul und wird einer von ihnen. So oder ähnlich könnte man Heinrich Zille beschreiben. Weh wurde ihm ums Herz, wenn er durch die Gassen lief und die Menschen beobachtete. Die Kinder in ihren durchlöcherten Hosen, Kleidern und zerrissenen Strümpfen, die vollbusigen Frauen mit kräftigen Hinterteilen. Er schämte sich für die Männer, die ihre Frauen prügelten, hatte Mitgefühl für all jene, die auf der Schattenseite standen und ums Überleben kämpften. Für ihn waren es die Umstände, die einen Menschen zu dem machten, was er war. Er hatte Verständnis, verurteilte nicht, zeichnete, was er sah. Zille liebte seine Berliner, sein Milljöh, seinen fünften Stand, wie er all jene liebevoll nannte, denen das Leben außer Mühsal, Leid, Hunger, Prügel, Arbeitslosigkeit und feuchte Wohnungen nichts bieten konnte. Und er liebte seine zahlreichen Freunde. Max Liebermann, den Präsidenten der Berliner Akademie, die Künstler August Gaul und August Kraus, Walter Kollo, Hermann Frey, Claire Waldoff, Joachim Ringelnatz… Doch am liebsten waren ihm die Kinder mit den rotzigen Nasen und die Mütter, die für diese Kinder sorgen mussten, weil die Väter im Knast saßen, arbeitslos waren oder den Wochenlohn regelmäßig versoffen. Zille zeigte Mitgefühl für alle und es war nicht immer zum Lachen, was er sah und zeichnete…

Er ist einer von uns…sagten die ganz unten. Sie nannten ihn „Pinsel-Heinrich“, „Professorchen“ oder „Vater Zille“. „In jedem Strich pocht sein Herzschlag“, schrieb Werner Schumann in dem Buch „Zille sein Milljöh“.

„Er ist nicht emporgestiegen, sondern blieb, was er zeitlebens war: ein Arbeiter, der sich zur höchsten Künstlerschaft durchrang. Was sein Auge je fixierte und seine zeichnende Hand festhielt, ist letzten Endes nur eine Variante - freilich eine oft schauerliche - der eigenen Jugend und bitteren Armut. Nur ein Mensch, der tief an Leib und Seele erfahren hatte, was es mit der ausweglosen Not auf sich hat, konnte das Wort sprechen: „Wenn ich helfen kann, tu ich’s am liebsten in den hungernden Mund gleich!“ (Zille sein Milljöh, Fackelträger Verlag).

Doch ohne seine „Meechens“ wäre Zille nicht zu denken. Sie nehmen das Leben wie es kommt, sind weder sentimental noch weinerlich, obwohl sie allen Grund dazu hätten. Diese „Meechens“, und ihre Art das Leben zu meistern, ist geprägt von Zilles eigener Lebenseinstellung. Kaum etwas nehmen sie tragisch, es ist, wie es ist…da jibt’s nischt dran zu löten. Seine Bilder zeigen, dass es ihren Müttern schon so ging, und sollten sich die Umstände nicht ändern, würde es den Töchtern bald ebenso ergehen. Eine Schraube ohne Ende, ein Fass ohne Boden, ein Zeichen der Zeit und der Umstände. So lässt er in einer Zeichnung einer Tochter der Mutter ein tränenreiches Geständnis über die letzte Liebesnacht machen. Und Muttern antwortet: „So, det is ja ne recht nette Geschichte – und wie heeßt er?“ „Da hab ick janich nach jefragt, er stotterte ooch so sehr.“ „Aba Lene, Kind, als jebildetet Meechen sagt man doch: und mit wem hatte ich die Ehre?“

Die Bedeutung des Zeichners Zille als Chronist seiner Zeit ist nicht wegzudenken. Ihm geht es aber nicht nur um die Schilderung der äußeren Umstände wie die unmenschlichen Wohnverhältnisse, den dunklen und dreckige Hinterhöfen mit überquellenden Mülleimern, den Ruinen, Kneipen und dem Kietz. Die Armut riecht bei ihm nach verbranntem Kohl und billigem Schnaps, nach Schweiß, ungewaschenen Füßen, Kindergeschrei, feuchten Wänden und stiller Verzweiflung. Seine Bilder sind das Sittenprortait der Zeit. Nie prangert er die Menschen an, die dort hausen müssen. Ohne Heizung, ohne Gas, ohne Fressen und oftmals ohne Liebe…

„…man könnte sagen, dieser Zille habe etwas von einem Ethnographen gehabt, der Leben und Treiben, Sitten und Unsitten erkundet hat. Statt mit Tabellen, Kurven und Statistiken arbeitete er mit dem Zeichenstift und fast noch mehr, fast schlagender noch mit dem Wort, mit dem lakonisch-schnoddrigen-kodderigen Idiom dieser Rasse, die bekanntlich nicht weniger schlagfertig mit dem Mundwerk ist, als Winnetou mit dem Tomahawk“, heißt es in einem seiner Bücher.

Seine künstlerische Arbeit war nicht Selbstzweck sondern Solidarität mit den Gezeichneten. Menschen blieben Menschen, von großen und bedeutsamen Namen ließ er sich nicht einschüchtern. Nachdem er in die Akademie der Künste gewählt wurde, sagte er: „Morgen ist Sitzung - bin gespannt, ob die Leute auch mit Wasser kochen.“

Seine freudlose Kindheit mit den vielen Entbehrungen war die Grundlage für die Nähe und Liebe, die er später zu seinen eigenen Kindern empfand und zu den vielen fremden Jören, die ihm auf Straßen und Hinterhöfen über den Weg liefen. Der Kunsthistoriker Adolf Behne schrieb in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung: „Heinrich Zille liebt das Leben, also liebt er das Kind, und da er die Natur mehr liebt, als die Dressur, so liebt er das Straßenkind mehr als das Gouvernantenkind. Zu dem Kind der Straße gehört die Mutter, die Brust und die Arme, die das Kind halten und abhalten. Väter sehen wir seltener. Er ist wohl in der Fabrik, auf Arbeit. Aber…gehört er überhaupt hierher? Er könnte hier nur Zuschauer sein, und die sind Überflüssig….“

Wer Zille verstehen will, muss sich ein wenig Zeit nehmen, den Fernseher abschalten, das Telefon leise stellen. Dann muss er sich gemütlich aufs Sofa setzen und die Zillebände mit den vielen Zeichnungen in Ruhe durchblättern. Vielleicht schmunzeln Sie bei dem Bild mit dem kleinen Mädchen auf dem Nachtopf und der Unterschrift „Drücken musste!“ Oder bei der Zeichnung, auf der eine junge Frau auf der Kellertreppe steht und ein Baby im Arm hält: „Halt stille Steppke, der Pinselheinrich malt Dir!“ Auch über die beiden braven Polizisten mit den Pickelhauben, die eine Schnapsleiche über die Straße tragen, kann man schmunzeln. „Müller laufen se nich so schnell, der Kerl riecht zu fein nach Schnaps!“ Oder aber Sie lachen über die kleine schlagfertige Jöre auf der Eisbahn, die nur einen „Sechser“ hat, das Eislaufen aber einen Groschen kostet. „Na, ick habe doch man aber blos ooch nur een Schlittschuh.“ Auch der gute Ratschlag, den zwei alte Männer drei jungen Mädchen geben, ist recht originell. „Kinder, lernt nischt, sonst müsst ihr arbeeten!“ Vielleicht schmunzeln Sie aber auch nicht und werden nachdenklich. Zum Beispiel bei dem Bild, auf dem ein kleines Mädchen in einem düsterem Zimmer ihre Mutter fragt: Mutta, weeßte, wie man keene Flöhe kriegt“

„Ne, wie denn?„

„Man muss danebengreifen.“

Oder bei dem Ratschlag: „…wenn de noch mal dein Frihstück verkoofst un sagst, du hast de Sperlinge jefüttert, denn bringt dir Vater uff’s Jimnasium; da musste noch ville mehr lernen, nu loof.“

Wie alles begann…

Es war ein trüber Tag im Jahre 1907. Die Sonne hatte es noch kein einziges Mal geschafft, sich durch die dunklen Wolken zu drängeln. Es regnete, als würden sämtliche Engel ein Wettpissen veranstalten. Niemand der nicht unbedingt seine Wohnung verlassen musste, setzte bereitwillig auch nur einen einzigen Fuß auf die regennassen Straßen. Sogar die unzähligen Hunde dieser Stadt scheuten die aufgeweichte Straße, heulten und bellten aus den geschützten Torbögen heraus. Nur ein einzelner Mann schlürfte den Bürgersteig entlang. Lautlos schlugen die nassen Enden seiner Schnürsenkel gegen das aufgeweichte Schuhleder. Seine Schritte verlangsamten sich. Er blieb stehen, zog die runde Brille von der Nase und wischte sich mit dem Handrücken die Nässe von Stirn und Augen. Sein Gesicht spiegelte sich im Schaufenster der kleinen Drogerie. Zwischen der längst vergilbten Seifenreklame und einigen lustlos in einem verstaubten Glas herumstehenden Zahnbürsten, sah er seine eigenen verschwommenen Züge. Der gepflegte Vollbart, an vielen Stellen schon weiß vom herannahenden Alter, den Scheitel auf der linken Seite, die vorwitzige Locke kurz über der Stirn. Die dunkle regenschwere Jacke mit den fünf Knöpfen presste sich fest um seinen stabilen Körper. Und - er sah seine zu Fäusten geballten Hände und spürte Angst in sich aufsteigen. Seit vier Tagen war er arbeitslos. Einfach rausgeschmissen hatten sie ihn und ein paar Kollegen. Von einer Minute zur anderen. Mitleidlos. Mit den Worten „Ich habe schließlich keine Versorgungsanstalt“, hatte ihn der Chef der Photographischen Gesellschaft nach dreißig Jahren treuer Dienste auf die Straße gesetzt, um jüngere, gesundere und billigere Arbeitskräfte einzustellen. „Und wenn der eine oder andere mich ärgern will und gedenkt, sich an meinem Zaun aufzuhängen, die Villa bewohne ich nicht - sie ist vermietet“, hat der Chef mit einem schrägen Lächeln hinzugefügt. Drei Tage hat er dann auf dem Sofa gesessen und die Stubendecke angestarrt. Krank wäre er, sein Magen spuke, hatte er seiner Hulda erklärt und brachte es nicht übers Herz ihr die Wahrheit zu sagen. Dann hatte er weiter gestiert und gesehen, wie Hulda sich Sorgen machte, um ihn und seinem spukenden Magen. Schäbig kam er sich vor und mutlos, und überhaupt…Beim Deckestieren zog die Zeit vorbei. Er sah sich für kärglichen Lohn täglich zehn, zwölf Stunden schuften, hatte nachts noch oft wach gelegen und sich Gedanken gemacht, wie man die Bedingungen im Betrieb verbessern könnte. Jetzt war er auf dem Weg zum Arzt, Angeblich. Noch eine halbe Stunde musste er durch die regennassen Straßen laufen, dann könne er nach Hause, und sie würden ihm glauben, dass er beim Doktor gewesen war.

Doch nachdem er die vier Treppen hoch gestiegen war, und die Tür geöffnet hatte, spürte er sofort, dass alle Bescheid wussten. Der Arbeitskollege Kogler, ebenfalls einer der Entlassenen, war der unbeabsichtigte Überbringer der schlechten Nachricht gewesen. Zilles Frau Hulda, Tochter Margarete und Hans und Walter, die beiden Söhne nahmen ihn in die Arme und trösteten ihn schweigsam. „Damals habe ich meinen Vater das einzige Mal weinen sehen. Aber er weinte nicht, weil er arbeitslos war. Er weinte, weil er seiner Familie den Schmerz der Wahrheit nicht hatte ersparen können“, schrieb Margarete später über diesen Moment.

Doch nicht alle waren traurig. August Kraus, August Gaul, Paul Klimsch und Theodor Heine, die Freunde des nun Arbeitslosen, freuten sich sogar ein wenig über diesen Schicksalsschlag. „Wir alle waren nämlich froh darüber, den Künstler Zille frei vom Joch der Ausbeutung zu wissen, das ihn von seinem eigentlichen Schaffen nur fernhielt“, verriet Kraus. Die Arbeitslosigkeit brachte schlaflose Nächte und Ängste mit sich. Er ging spät ins Bett, weil er sich vor den Gedanken der Nacht fürchtete. Doch wie oft im Leben, stellte sich heraus, dass eine Niederlage oft nur etwas Vorläufiges und der Wendepunkt zu Neuem ist. Zilles Freunde besuchten ihn täglich und August Gaul, Max Liebermann, Theodor Heine und Klimsch gingen mit ihm spazieren. Seine Einwände, das Wetter wäre zu schlecht, seine Beine täten weh oder ihn plagen Kopfschmerzen, zählten nicht. Sie schoben ihn zur Tür hinaus, die 99 Stufen hinunter. Einige Tage und etliche Bierchen später hatten die Freunde ihren Heinrich davon überzeugt, endlich das zu tun, wovon er seit frühester Jugend träumte: Künstler sein! Um seinen Frust, seine Wut und seine Enttäuschung über das Geschehene in die Welt hinauszuschreien, zeichnete er für den Simplicissimus seine eigene Entlassung, versehen mit den Originalworten des Chefs. Tochter Margarete erinnert sich: „Ich hörte, wie er mit sich selbst redete und laut vor sich hin sagte ‚Na, denn mal los, alter Esel’.

Kindheit

Seinen ersten Schrei tat Rudolf Heinrich Zille allerdings 49 Jahre zuvor, in Radeberg an der Röder, nur wenige Kilometer nördlich von Dresden. Es war ein langer und gesunder Schrei, ein kräftiges Aufdieweltkommen in dem kleinen Haus am Markt. Radeberg 1858: 2500 Einwohner, keine richtigen Straßen, ein Krämerladen, Ackerbauern und Tagelöhner, die meistens wussten morgens nicht, was sie abends essen sollten. Alle Vorfahren Zilles sind Sachsen, Sie bestellten die umliegenden Felder, züchteten Blumen oder gingen als Bergleute unter Tage schuften und machten sich die Lungen kaputt. Reich war keiner. Das Überleben forderte ihre ganze Kraft. Der älteste nachweisbare Ahne war Bauer Steffen Zill, der 1549 in Etzdorf bei Döbeln geboren wurde.

Mutter Ernestine Louise Heinitz war die Tochter eines Bergmanns und verdiente mit Näharbeiten für den Unterhalt der Familie hinzu. Vater Johann Traugott Zille war Schmied, Schlosser, Uhrmacher, Goldschmied und - lebensfremd. Neben seiner Arbeit als Uhrmacher verdiente er Geld mit der Anfertigung von Metallbeschlägen für Türen und Fenster und dem Schmieden kunstvoller Gitter. Doch viel Geld war damit nicht zu verdienen, und die Küche der Zilles blieb oftmals kalt. Was auf den Tisch des Hauses kam, machte selten satt. Fast vier Jahre musste der Vater im Schuldturm des Dresdner Gerichtes eine Haftstrafe absitzen. Er war ein gutmütiger Mann und hatte sich durch die Übernahme von Bürgschaften sogenannter „guter Freunde“ in eine aussichtslose finanzielle Lage gebracht. Klein-Heinrich hing an seinem Vater und besuchte ihn so oft wie möglich im Schuldturm.

„Hatten mehrere ‘ne Schuld aufjenommen, dann konnte eener den anderen ablösen, det nannte man Wechselhaft. Na, und in solche Sache war mein Vater verstrickt worden. Nu saß er auf dem Boden des Dresdner Jerichtsjebäudes in der Landhausstraße und jenoß seinen unfreiwilligen Feierabend. Sogar besuchen konnten wir ihn, und manche leere Wein- und Bierflasche, et waren ooch noble Abenteurer darunter, jing denn mit und wurde im Lumpenkeller verschärft.“

„Vom Vater hab ick fast nischt erfahren…Ick weeß bloß, det et mehrere Brüder waren, die aber nich mal von sich untereinander wat wußten, und bloß alle paar Jahre tauchte mal eener uff.“

Drei Jahre drückte Heinrich die Volksschule in Potschappel. Keine große Bildung, Nur das Nötigste. Doch Heinrich war schon als Kind neugieriger als seine Mitschüler, nutzte jede Gelegenheit zum Lesen und fragte den Erwachsenen Löcher in den Bauch. Während Vater Zille in Haft war, zog die Familie 1865 zu Opa Heinitz. Auch die Großeltern waren arm, aber immerhin gab es hier öfter mal eine warme Suppe. Opa verdiente sein Geld als Bergarbeiter und war geschickt im Uhrenreparieren. Manchmal brachten Arbeitskollegen gleich eine ganze Wagenladung Uhren zum Reparieren. Oder der Nachbar schleppte die große Standuhr aus dem Wohnzimmer auf den Schultern über die Straße, während die Frau mit den Gewichten hinterherlief. „Ich brachte die Uhren in den Garten und fegte mit der Gänsefeder erstmal ‘nen Schwung Schaben und Wanzen raus. In den Taschenuhren waren es meist die toten Flöhe, die das Werk verstopften. Sie waren aus den Ärmeln der Besitzer gerutscht und in die Uhr gefallen“, erinnert sich Heinrich später an seine Zeit beim Großvater. Manchmal durfte er seinen Opa im Bergwerk besuchen. Es war ein großes Abenteuer für den kleinen Zille. Aber er sah auch, wie die Bergleute, wenn sie einmal in der Woche ihren Lohn ausgezahlt bekamen, in die Garküche gingen und sich ein Stückchen Fleisch gönnten. Dass es eine Kietze war, eine Katze, störte sie nicht, denn anderes Fleisch gab es nicht. „Die Leute reden sich damit raus, et is wejen det Fett, wat doch jejen manchet jut sein soll, aber in Wirklichkeit is et doch bloß der furchtbaren Armut wejen. Dafür fuhr der Kohlenbaron oben Viere lang durch die schmalen Straßen, det den Leuten der Dreck in die Fenster spritzte und se sich janz ängstlich an de Hauswand drücken mußten. Und wenn der Bergmann mit fünfundvierzig jestorben war, dann kam er und forderte am liebsten den Kohlenstaub aus de Lunge, denn der jehörte ihm.“

Die Arbeit unter Tage wurde zwar schlecht bezahlt, aber war um vieles besser als der Verdienst in der Heimarbeitungsindustrie. Dreiundzwanzig Pfennige die Woche…und die Kinder, die schon mit zehn und zwölf Jahren in der Streichholzfabrik malochen mussten, hatten vom Umgang mit Phosphor und Schwefel keine Fingernägel mehr. Als Großvater einen Unfall hatte und als Invalide aus dem Stollen kam, verließ er sich ausschließlich aufs Uhrenreparieren. Es gab viele solcher Invaliden, die sich, um nicht zu verhungern, ein kleines Bergwerk bastelten und sich um den Hals hingen. Sie zogen von Kneipe zu Kneipe, ließen ihre Geschicklichkeit bewundern, erzählten Geschichten und erhofften sich ein paar Pfennige für den Unterhalt ihrer Familie.

Als das Gesetz über die Wechselhaft aufgehoben wurde, war Heinrichs Vater frei. Doch jetzt saßen ihm die Gläubiger im Nacken. Sie bedrängten ihn so stark, dass die Flucht nach Dänemark der einzige Ausweg blieb. Von Kopenhagen ging er nach Berlin. Er hatte viel gehört von der Stadt, in der er für sich und seine Familie eine neue Zukunft sah. Er träumte davon, in einem der riesigen Wohnhäuser zu leben und in einer der Fabriken, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen, endlich Arbeit zu finden. Mutter packte zwei Kartons zusammen und machte sich mit Heinrich und der vier Jahre älteren Schwester Margarete ebenfalls auf den Weg nach Berlin. Das Fahrgeld hatten sie sich von Großeltern geliehen. Sie freuten sich darauf, endlich wieder ihren Vater und Ehemann in die Arme schließen zu können. „Mein Vater erwartete uns schon am Anhalter Bahnhof. Es war ein langer Fußweg von dort nach dem Andreasplatz…aber wir hatten ja nichts Schweres zu tragen.“

Hatten Zilles in ihrer Heimat schon ärmlich gelebt, in Berlin wurde es noch schlimmer. „Es war ein trüber Novemberabend 1867, als wir in Berlin ankamen. Wenn ich auch Dresden in Erinnerung hatte, dort aufgewachsen war, so war ich doch die letzten zwei Jahre bei Großeltern in den Bergen und Tälern gewesen, ein freies Leben gewöhnt; und nun die enge, turmhohen Gemäuer, die von Lärm erfüllten Gassen. Ich hielt mich ängstlich an meine Eltern. Endlich waren wir am Ziel angelangt. Mir schien alles viel zu fein. Haustür, Treppen mit Holz ausgelegt, Treppengeländer Drechslerarbeit, Licht auf den Treppen - bloß unsere einfenstrige Stube und kleine Küche, auf einem Korridor mit noch vier anderen Mietern zusammen, war ein erbärmliches Bild. Ich erschrak über die Ärmlichkeit der Stube. Zerrissene Tapeten, dunkle Konturen, wo einst Bett und Schränke gestanden hatten, beinahe wie ein Muster aussehend. Blutflecke zerquetschter Wanzen und in der Ecke ein Packen Stroh, das sollte unser Bett sein, und ein großer hölzerner, mit Bandeisen beschlagener Koffer… Ein paar Bündel Kleidungsstücke, das war alles, was wir besaßen, um ein neues Leben anzufangen.“

Viel Einzuräumen hatten Zilles ohnehin nicht. Eine Tasse ohne Henkel, vier verbogene Bestecke, bei denen die Messer fehlten. Aber Fleisch zum Schneiden kam so gut wie nie auf den Tisch, der aus einem Pappkarton bestand. Daneben ein wackliger Schemel und ein Ofen, für den es keine Kohlen und kein Holz zum Heizen gab. So froren sich die Zilles durch den ersten Winter. Denn Arbeit gab es hier ebenso wenig wie in Radeberg. Das Nötigste zum Essen verdienten sie sich mit Gelegenheitsarbeiten. Es war die große Zeit der Armut und die vier Zilles gehörten zu denen, die die Fettaugen auf der Suppe nur in fremden Töpfen und Tellern bestaunen konnten. Es war die Zeit, in der Familien tagsüber die Betten an Schlafburschen vermieteten, die nachts arbeiteten gingen. Aber selbst das war im Hause Zille nicht möglich – man schlief auf Strohsäcken auf dem Fußboden. Oft quälte sie der Hunger so stark, dass an Schlafen ohnehin kaum zu denken war. Doch Vaters Mut und Zuversicht übertrugen sich auf Mutter, Margarete und auf Heinrich. Oft erzählte er ihnen die wildesten Geschichten aus der Zeit, die er im Schuldturm gesessen hatte, von Hochstaplern, Einbrechern und Menschen, die ohne eigenes Verschulden dorthin gekommen waren. Doch immer fanden die Geschichten ein gutes Ende. Und war man erstmal eingeschlafen, plagte auch der Hunger nicht mehr.

Die Erlebnisse seiner Kindheit wurden bestimmend für sein ganzes Leben. Mit so einer Wohnung kann man einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt, erzählte Heinrich später oft. Dabei schloss er die Augen, und jedermann fühlte, dass ihm gerade wohl wieder die Bilder der Kindheit in den Sinn gekommen waren. Und als er viele Jahre später einmal mit einem Freund durch die Andreasstraße spazierte, blieb er für einen Augenblick vor dem Hause Nummer 17 stehen. Er schloss die Augen, atmete den Duft von damals ein und - ging weiter, ohne das Haus zu betreten. Zu schwer waren die Erinnerungen, die ihn immer noch bedrückten. Mutter Ernestine, Margarete und Heinrich bastelten in Tag- und Nachtarbeit billigen Jette-Schmuck, der groß in Mode war. Uhrkettenglieder wurden aus Papier und Pappe gestanzt, mehrere Minuten in Leinöl gekocht, in den damaligen Modefarben rot und marineblau angemalt und in einem Ofen hart getrocknet. Die Mutter, handwerklich sehr geschickt und kreativ, ließ sich immer neue Dinge einfallen. So fertigte sie aus alten Lumpen und Putzlappen farbige Tintenwischer an. Sie bastelte aus alten Stoffresten Hunde und Katzen, die Heinrich mit Knopfaugen versah. Als derlei Tiere sich nicht mehr verkaufen ließen, produzierte Mutter Zille Stecknadel-Igel, die mit Sand gefüllt wurden. Da der Sand noch feucht war, rosteten die Nadeln. Da kam Heinrich auf die Idee, die Tiere mit Sägespäne zu füllen. Einmal in der Woche fuhr er ins Holzwerk und holte zwei Körbe voller Späne. Sah er ein paar Stückchen Holz rumliegen, ließ er sie schnell und unbemerkt unter der Jacke verschwinden, um sie im häuslichen Ofen zu verheizen. Es war ein hartes, ungerechtes Leben. Zeit für Müßiggang gab es selten. Jede freie Minute musste genutzt werden, um Geld zu verdienen. Jeden zweiten Nachmittag zog Klein-Heinrich los und verkaufte den Jette-Schmuck, die Tintenwischer und die Sägespan-Igel in den Papierwarengeschäften der Umgebung. Besonders gern ging er zum alten Bormann in der Brüderstraße, denn der kaufte ihm Schmuck und Tintenwischer oft gleich dutzendweise ab. Das hat Heinrich nie vergessen. Und Zeit seines Lebens kaufte er dort seine Zeichensachen ein. Gegessen wird in zwei Schichten in der Volksküche. Aus Angst vor seinen Gläubigern hatte Vater Zille bei der polizeilichen Anmeldung und auf dem Namensschild an der Wohnungstür das –e am Ende des Namens weggelassen. So hießen sie nun schlicht und ergreifend Zill. „Erst während meiner Militärzeit habe ich erfahren, dass mein richtiger Name Zille war. Das war ein richtiger kleener Schock für mich jewesen. Hatte ick doch imma jedacht, ick wär der Heinrich Zill.“

Das alte Berlin

Spielplätze gab es damals kaum, und schon gar nicht in der Armeleutegegend um den Bahnhof herum. Straßen und Hinterhöfe waren der Abenteuerspielplatz der Kinder. Auf dem Königsgraben fuhren die Jungs Kahn, die Soldaten des Kaisers exerzierten auf dem Dönhoffplatz, und ihre Pickelhauben glänzten in der Sonne als hätte man sie extra dafür mit Fett eingeschmiert. Die Kinder sangen vor dem Denkmal auf dem Platz:

„Wenn die jrüne Katze

uff dem Dönhoffplatze

Wasser speit

Is der Frühling von Berlin nicht weit.„

Die Guckkastenmänner ließen für ein paar Pfennige die große weite Welt durch Röhren betrachten. Frauen mit dicken Busen und schmierigen Schürzen standen vor den Häusern, schwatzten und hörten den Leierkastenmännern zu. Einer von ihnen, Drehorjelkarlchen, hatte immer seine schwarze Katze dabei. Von seinen dünnen Schultern herab fauchte sie jeden an, der näher als einen Meter herankam. So musste jeder seinen Groschen in hohem Bogen in die Mütze werfen. Orjelmaxe hatte einen kleinen Affen, der ein rotes Röckchen trug und eine weiße Schleife auf dem Kopf. Man lachte, sang und warf in Zeitung eingewickelte Pfennige aus dem Fenster. Die Jungs maßen ihre Kräfte mit den Fäusten, die Mädchen heulten, wenn sie Blut sahen. Oder man band eine Geldbörse an eine dünne, fast unsichtbare Angelsehne und legte sie auf den Bürgersteig. Bückte sich jemand nach dem Portmone, zogen die Bengels aus dem Hauseingang heraus blitzschnell an der Schnur, und schwupp, war die Börse weg. Die Erwachsenen fluchten…wenn ick euch awische, denn könnta aba war aleben…die Jungs hielten sich die Bäuche vor Lachen und warteten auf den Nächsten, der nichtsahnend vorbei käme und mit dem sie das Spiel noch einmal machen konnten. In der nahen Spree standen Männer in hohen Gummistiefeln und schöpften das Flusswasser in große Tröge, die auf Pferdewagen am Ufer standen. Daneben schrubbten die Waschweiber Hemden, Kittel und Hosen. Man kicherte, summte vor sich hin, genoss das, was man Leben nannte.

Mit zehn Jahren verdient sich Heinrich nach der Schule ein paar Groschen als Stadtführer hinzu. Der kleene Zille war schon als Kind ein guter Redner, und ohne Angst und Scheu Fremden gegenüber. Trotz seiner jungen Jahre musste er zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Doch trotz Schule und der Arbeit nebenbei findet Heinrich immer noch Zeit zum Lernen. Und Lernen, Lernen, Lernen wird die Devise seines Lebens bleiben. Denn das was du im Kopf hast, kann dir niemand mehr weg nehmen, erklärt er