„Es gibt kein Kind,
das nicht integriert werden könnte“
(Wahl-Immel 2012)
Mehr denn je wird über die gemeinsame Beschulung aller Schülerinnen und Schüler, gleichwohl ob mit oder ohne Behinderung, debattiert. Es gibt eine Vielzahl von Fürsprechern, die sich für ein Gelingen eines solchen Vorhabens einsetzen und dieses für unkompliziert und schnell realisierbar halten, wohingegen es ebenso eine große Zahl von Widersachern gibt, die Probleme bei der Verwirklichung des gemeinsamen Unterrichts aufzeigen.
Das oben angeführte Zitat ist die Schlagzeile eines Artikels des Spiegels . Im Artikel selbst liest man, dass es sich um eine Aussage von Winfried Godde handelt, dem Schulleiter einer laut eigener Aussage inklusiv arbeitenden Schule in Nordrhein-Westfalen. Auf der anderen Seite wird dort auch deutlich, dass das Zitat in der Überschrift nicht vollständig abgebildet wurde, denn es heißt im Fließtext: „Es gibt kein Kind, das nicht integriert werden könnte, aber man muss den Schulen schon die Voraussetzungen geben.“ (ebd.)
In der hier vorliegenden Arbeit wird der Fokus auf das Unterrichtsfach Sport und speziell auf den Bereich „Bewegen im Wasser“ als Bewegungsfeld gerichtet sein. Der Sportunterricht nimmt im Fächerkanon von Grund- und Sekundarschulen, welche in dieser Arbeit beleuchtet werden, eine besondere Rolle ein. Neben dem Ausgleich, den die körperliche Aktivität im Sportunterricht zu allen anderen Schulfächern ermöglichen soll, hat dieser auch einen Doppelauftrag, dem er gerecht werden muss. Der Sportunterricht soll einerseits die Schülerinnen und Schüler durch die sportliche Betätigung erziehen und dabei essentielle Kompetenzen sowohl herausbilden als auch weiterentwickeln. Andererseits hat er aber auch die Aufgabe, die Lernenden auf das eigenständige Sporttreiben vorzubereiten und dazu zu motivieren.
Der Schwimmunterricht bzw. der Unterricht im Bereich „Bewegen im Wasser“ nimmt innerhalb des Fächerkontextes Sport nochmals eine Sonderrolle ein, da dieser andere Bedingungen bezüglich der Unterrichtsgestaltung als der übrige Sportunterricht aufweist. Hierbei sind exemplarisch die speziellen äußeren Rahmenbedingungen, die besondere Ausbildung der Lehrkräfte sowie die unnachahmliche Art des Bewegungsraumes zu nennen. Dies stellt die Lehrerinnen und Lehrer sowie auch die Lernenden vor spezielle Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.
Sportliche Bewegung stellt für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung eine besondere Möglichkeit dar, den eigenen Körper wahrzunehmen und kennenzulernen. Des Weiteren zeigt ihnen die körperliche Betätigung Perspektiven für den Umgang mit ihrer Beeinträchtigung auf. Der Unterricht im Wasser bietet einen vergleichsweise großen Bewegungsspielraum durch den Auftrieb des Wassers und steigert die Lebensqualität durch seine physischen, psychischen und psycho-sozialen Auswirkungen auf den Menschen. Nichtsdestotrotz müssen für diese spezielle Gruppe von Schülerinnen und Schülern andere bzw. weitere Voraussetzungen geschaffen werden, um eine an die Lernenden angepasste Unterrichtsgestaltung in dem hier beleuchteten Bereich möglich zu machen.
Ich werde in dieser Arbeit den Blick jedoch nicht nur auf die körperbehinderten Schülerinnen und Schüler richten, sondern ebenfalls untersuchen, wie ein gemeinsamer Unterricht von Lernenden mit und ohne Förderbedarf gestaltet werden kann. Aus dieser aktuellen Problematik heraus leitet sich sogleich das Ziel und die zentrale Fragestellung dieser wissenschaftlichen Hausarbeit ab: Welche Bedingungen sind nötig, um ein Gelingen vom gemeinsamem Unterricht im Bereich „Bewegen im Wasser“ mit körperbehinderten Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen?
Um diese Frage beantworten zu können, werde ich in den nachfolgenden Kapiteln zunächst Regelschulen und anschließend Förderschulen für Körperbehinderte näher beschreiben, in denen der Unterricht im Bereich „Bewegen im Wasser“ angeboten wird. In beiden Schulfeldern werde ich die zugrunde liegenden Erfordernisse, die den Unterricht bedingen, im Speziellen betrachten, um zunächst Vergleiche zwischen den Schulformen zu ziehen und daraus auf Bedingungen für den gemeinsamen Unterricht zu schließen. Diese werden darüber hinaus den Aussagen und Erfahrungen aus dem Praxisalltag gegenübergestellt, um eine realitätsnahe und nicht nur theoretisch konstruierte Kompatibilität der Ansprüche aus der Sportdidaktik, der Körperbehindertenpädagogik und dem gemeinsamen Unterricht zu erreichen.
Abschließend werde ich die hier dargestellte Problematik aufgreifen und die zentralen Ergebnisse zusammenfassen. Mit einem Ausblick auf Fragen und Aspekte, die im Kontext dieser Arbeit und der Forschung in diesem Bereich zwar interessant sind, aber wegen der räumlichen Begrenzung nicht bearbeitet werden konnten, werde ich die vorliegende Arbeit beenden.
Um der zugrunde liegenden Fragestellung gerecht zu werden und sie beantworten zu können, ist es notwendig, das Thema unter Zuhilfenahme einer hermeneutischen Arbeitsweise zu untersuchen. Das daraus resultierende theoretische Verständnis wird mit einem praktischen Bezug ergänzt, um ein praxisorientiertes, aber dennoch theoretisch fundiertes, Ergebnis zu erhalten.
Aus diesem Grund ist es erforderlich, die Lehrkräfte aus den verschiedenen Bereichen, also der Regel- und Förderschulen, zu befragen. Hierzu erstellte ich einen im Anhang befindlichen Interviewleitfaden für Einzelinterviews mit relevanten Fragen speziell zu dem Bereich, in dem die befragte Person tätig ist, um qualitative Interviews durchführen zu können. Dabei ist die Basis für den Leitfaden eine Kombination aus halbstandardisierten Interview (vgl. Scheele/Groeben 1988) und Experteninterview (vgl. Meuser/Nagel 1991).
Bei der befragten Zielgruppe handelt es sich um Lehrkräfte, welche seit mindestens 25 Jahren im Schwimmunterricht der jeweiligen Schulform tätig sind, um Rückschlüsse auf eine gewisse Praxiserfahrung ziehen zu können. Alle Personen, die an diesen Interviews teilgenommen haben, gelten als qualifizierte Gesprächspartner auf Grund der professionellen Kompetenz ihres Fachwissens für ihre jeweilige Schulform.
Das erste Interview führte ich am 06.07.2015 mit einer Lehrkraft aus dem Bereich der Grundschulen durch, welche vorrangig im Schwimmunterricht in Halle (Saale) tätig ist. Für das zweite Interview stellte sich eine Förderschullehrkraft von einer in Halle (Saale) ansässigen Förderschule für Körperbehinderte am 04.09.2015 zur Verfügung. Zur Verwirklichung einer möglichst genauen Transkription der Interviews wurden diese auditiv aufgezeichnet. Die beiden interviewten Lehrkräfte stimmten einer Veröffentlichung der Tondatei im Rahmen dieser wissenschaftlichen Hausarbeit nicht zu, sodass ausschließlich je ein anonymisiertes Interviewtranskript (Anhang) vorliegt.
Anschließend erfolgte die Datenauswertung im Rahmen einer qualitativen, zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2010, 67 f.). Die herausgefilterten und zusammengefassten Daten mündeten in einer Themenmatrix (vgl. Kuckartz 2014, 73 f.). Auf diesem Wege konnten die Aussagen der interviewten Personen sowohl einzeln betrachtet werden, um eine Fallzusammenfassung der jeweiligen Person hervorzubringen, als auch bezüglich eines Themenbereichs hinsichtlich der Ähnlichkeiten und Differenzen untereinander zu untersuchen (vgl. ebd.).
Diese Arbeit widmet sich der Unterrichtsgestaltung im Bereich „Bewegen im Wasser“ des Schulfaches Sport. Daher müssen zunächst der Begriff und die dazugehörigen Zusammenhänge aus der allgemeinen Fachdidaktik des Sports beleuchtet werden, um eine Basis für die anschließende Diskussion zu schaffen.
Der Wandel des Sport- und hier im Speziellen des Schwimmunterrichts beruht auf einer Umstrukturierung der Lehrpläne des Landes Sachsen-Anhalt im Fach Sport. Hierbei wurde die veraltete, auf den Sportarten basierende Lehrplangestaltung überarbeitet und zu einem erweiterten, neuen Konzept entwickelt (vgl. Laging 2009, 89). Insbesondere die Kompetenzorientierung im Fach Sport wurde in den Vordergrund gerückt. Daraus resultierte die Einführung von Bewegungsfeldern, welche den bisherigen Sportunterricht öffnen sollten. Dennoch blieben die „alten“ Sportarten erhalten, jedoch führte die Öffnung zu einem höheren Handlungsspielraum für die Lehrkräfte und somit zu einer besseren Anpassungsmöglichkeit des Unterrichts an die Schülerinnen und Schüler. Sie kommt diesen zugute, welche ausgehend von ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten besser gefördert werden können.
Darüber hinaus ist zu vermerken, dass sich dieses Kapitel mit der Unterrichtsgestaltung in Regelschulen auseinandersetzt, so wie sie aktuell in Sachsen-Anhalt Anwendung findet bzw. finden soll. Hierbei liegt der Fokus der Betrachtung auf einer dennoch recht heterogenen Schülerschaft, welche allerdings keinen ausgewiesenen Förderbedarf aufweist. In der Abhandlung dieses Themengebiets stehen insbesondere Faktoren im Mittelpunkt, die den Unterricht und dessen Gestaltung beeinflussen. Dieser Prozess wird durch verschiedene Perspektiven wie die der Lehrkräfte, der Schülerinnen und Schüler sowie der Fachdidaktik geprägt und im Folgenden erörtert.
In dem Bereich wurden theoretische Hintergründe mit Aussagen einer Fachlehrkraft aus dem Schwimmunterricht, welche in einem Interview befragt wurde, verglichen, um einer kritischen Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Herangehensweise an diese Arbeit gerecht zu werden.
Im Rahmen der Umgestaltung der Lehrpläne im Fach Sport liegt ein grundsätzliches Umdenken bezüglich der fachlichen Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler zugrunde. Vor der Umstellung im Jahr 2010, die den Sekundarschulbereich betraf (vgl. Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt [KM LSA] 2010), war der Sportunterricht in den Schulen sehr stark an den regulären, auch olympischen Sportarten orientiert. In diesem Zusammenhang fiel jedoch auf, dass sich diese Unterrichtsgestaltung mit der Schulwirklichkeit nicht im Einklang befindet, da in der Schule keine (Höchst-)Leistungssportler ausgebildet bzw. trainiert werden. Aus diesem Grund wurde der Lehrplan im Unterrichtsfach Sport neu ausgerichtet. Insbesondere hatte diese Umgestaltung das Ziel im Blick, dass die Schülerinnen und Schüler spezielle Kompetenzen herausbilden und weiterentwickeln (vgl. KM LSA 2012, 4 f.).
In der Literatur findet man abhängig davon, wie der Kompetenzbegriff verstanden und in welchem Zusammenhang er verwendet wird, diverse Definitionsversuche und Diskussionen. Da in dieser Arbeit mit dem schulischen Kompetenzbegriff gearbeitet wird, orientiere ich mich an der bildungspolitischen Definition von Weinert (2001, S. 27 f.). Dieser definiert Kompetenz als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“.
In Bezug auf den allgemeinen Schulsport stellt die sportliche Handlungskompetenz die bedeutsamste Kompetenz dar. Sie ist die Fähigkeit eines Individuums, sich unabhängig und zielgerichtet in allen Alltagssituationen motorisch zu betätigen. Diese Handlungskompetenz bedingt und begünstigt die Erschließung einer Kultur von Bewegung, Spiel und Sport (vgl. KM LSA 2012, 4). Die Kompetenz wird über vier Bereiche entwickelt, wobei der Bereich „Erfahren, Gestalten und Leisten von Bewegung“ (KM LSA 2012, 4) die Grundlage bildet. Die weiteren drei Kompetenzbereiche stehen untereinander in Verbindung stehen und sind interdependent. Es handelt sich dabei um:
Um diese Kompetenzen entsprechend des Lehrplans entwickeln zu können, wurden sogenannte Bewegungsfelder geschaffen.
Ein Bewegungsfeld im Sinne des Schulsports ist ein Versuch eines „Neuzuganges zur Thematisierung sportlicher Inhalte“ (Laging 2009, 89). Diese Felder erproben die Umgestaltung der bisherigen Lehrpläne in dem Sinne, dass sich die Sortierung der Unterrichtsinhalte nicht mehr an den herkömmlichen Sportarten orientiert. Stattdessen wird eine Ordnung nach inhaltlichen und „Pädagogischen Perspektiven“ (Laging 2009, 90) vollzogen. Den Rahmen dieser Neugestaltung bilden die fundamentalen Übereinstimmungen „hinsichtlich der Handlungsideen (z.B. Spielen, Kämpfen), gemeinsamer Bewegungsräume (z.B. Wasser), Interaktionsformen (z.B. Mannschaften), Bewegungsabläufe oder spezifischer Körper- und Bewegungserlebnisse“ (KM LSA 2012, 5). Des Weiteren führt Neuber (2014, 41 f.) an, dass verschiedene Sportarten ähnliche Bewegungsvoraussetzungen und Bewegungsaufgaben an die Schülerinnen und Schüler stellen und so eine Umsortierung sinnvoll erscheine. Sie sollen sich im Rahmen der Bewegungsfelder durch eine mehrperspektivische Sichtweise und durch eigene gewonnene Erfahrungen besser als bisher mit den Inhalten auseinandersetzen. Hierbei geht es also um die Relation zwischen den Kindern und der Sache selbst (vgl. Laging 2009, 90 f. zit. nach Duncker & Popp 1994). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Schülerinnen und Schüler beispielsweise eine bestimmte Strecke in einem vorgegebenen Schwimmstil möglichst schnell absolvieren, sondern dass sie selbst einschätzen können, mit welcher Schwimmart die Strecke am schnellsten gemeistert werden kann.
Dennoch wird im soeben angeführten Beispiel deutlich, dass die Umorientierung zu Bewegungsfeldern eine grundsätzliche Abwendung vom sportartenorientierten Unterricht nicht ermöglicht. Jedoch lassen sich „die Sportarten, ihre Variationen, Alternativen und die nicht ‚sportart‘-bezogenen Bewegungsaktivitäten […] aus der Kernidee des Feldes entwickeln, nacherfinden, neu erfinden und bewegungsaktiv in Erfahrung bringen“ (Laging 2009, 92). Ziel soll es dabei sein, dass durch Bewegungs- und Spielhandlungen die grundsätzliche Kernidee bzw. Absicht des Feldes mit den darin einschließenden und appellierenden Bewegungsherausforderungen sichtbar wird, denen es gerecht zu werden gilt (vgl. ebd., 93). Diese Herangehensweise hat zur Folge, dass es nicht ‚die richtige Lösung‘ für eine Bewegungsaufgabe gibt, sondern jede Schülerin und jeder Schüler eine auf sich selbst zugeschnittene Lösungsmöglichkeit finden soll (vgl. Neuber 2000, 117 f.).
Der Bewegungsraum Wasser bietet für Kinder und Jugendliche eine unnachahmliche Form der Wahrnehmungsförderung. Insbesondere die physikalischen Eigenschaften des Wassers, speziell die Verbindung von Auftrieb, Vortrieb und Widerstand eines Körpers, welcher sich im und durch das Wasser bewegt, machen dieses Bewegungserleben im Vergleich zum Sporttreiben an Land so speziell (vgl. Eppinger 2012, 153). Die Schülerinnen und Schüler können sich durch die Auseinandersetzung mit diesem Bewegungsfeld einen individuell bedeutsamen Bewegungs- und Erfahrungsraum schaffen, der die Chance des lebenslangen Sporttreibens bietet (vgl. ebd., 154).
Die klassischen Fertigkeiten des Schwimmens (auch als Sportart) bleiben in dem Bewegungsfeld dennoch nicht außen vor, da sie eine lebenserhaltende und somit notwendige Kompetenz darstellen (vgl. KM LSA 2012, 9). Neben dieser herkömmlichen Ausrichtung des Unterrichts finden in zunehmenden Maße auch andere Bewegungsansätze den Weg in den Schulschwimmunterricht. Hierzu sind beispielsweise „Sprünge vom Einmeterbrett oder vom Sprungturm, Tauchen über längere Strecken oder in die Tiefe, Einüben und Präsentieren von Schwimmformationen“ (Eppinger 2012, 154) und das Rettungsschwimmen zu nennen. Der Fokus des Rettungsschwimmens liegt jedoch auf der funktionalen Komponente des ‚Sich-über-Wasser-Haltens‘ (vgl. ebd.) im Gegensatz zur kulturellen Komponente der anderen Teilbereiche (vgl. Prohl/Scheid 2012, 21-27).