Univ. Prof. i.R. Dr. Hartmut Bossel wurde an der Technischen Hochschule Darmstadt als Maschinenbau- und Flugzeugbau-Ingenieur ausgebildet, wanderte dann mit seiner jungen Frau Rike in die USA aus, lehrte und forschte viele Jahre an der University of California in Berkeley und in Santa Barbara (als Professor of Mechanical Engineering) und kehrte dann mit Rike und den drei Kindern nach Deutschland zurück. Nach Forschungsaufgaben bei der Fraunhofer-Gesellschaft übernahm er eine Professur für Umweltsystemanalyse an der Universität Kassel und leitete dort das Wissenschaftliche Zentrum für Umweltsystemforschung bis zu seiner Pensionierung. Er ist Mitbegründer des Öko-Instituts und Ko-Autor der Energiewende-Studie von 1980. Seine wissenschaftliche Arbeit (vor allem in den Bereichen Strömungsforschung, Energietechnik, Zukunftsalternativen, Land- und Forstwirtschaft) führte ihn in alle Kontinente. Rike Bossel begleitete ihn auf vielen dieser Aufenthalte. Seit seinem 18. Lebensjahr fliegt Hartmut Bossel mit Segelflugzeugen, später mit Hängegleitern und Gleitschirmen.

Ich hatt einen Kameraden, einen bessern findst du nit

(Soldatenlied, Ludwig Uhland 1809)

In dankbarer Erinnerung an Rike, die mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens mit mir teilte

Rike Gerlind Bossel, geb. Rückert

5. Juli 1942 – 20. Januar 2011

Inhalt

Gleise

Aufbruch in die Berge

Darauf habe ich gewartet. In den nächsten Tagen dieses Jahres 2002 scheint sich die für Anfang Juni typische Hochdruckwetterlage zu entwickeln. Ein Hoch über den Alpen, dem Balkan und Polen. Weiter Abstand der Isobaren, geringe Windgeschwindigkeiten. Das Tiefdruckgebiet über den Britischen Inseln bewegt sich kaum. Kleine Tiefdruckstörung an der Adria, die aber in einigen Tagen verschwinden könnte. Ich blättere am Bildschirm durch die Vorhersagekarten der US Air Force für die nächsten fünf Tage. Von allen Wetterkarten, die ich mir aus dem Internet holen kann, gefallen sie mir am besten: dunkelgrünes Europa, blaues Meer, graue bis weiße Wolkenfelder, blau und rot gezackte Frontlinien. Auf diesen Karten gibt es in Deutschland nur drei Orte: Ramstein, Spangdahlem, Heidelberg. Heute hat Second Flight Lieutenant Golding die Karten gezeichnet: FLT/2LT GOLDING steht auf jeder Karte unten links. Ich fühle mich persönlich beraten. Ich verlasse mich auf Leutnant Golding und die Simulationen des Wettercomputers: In den Alpen ist in den nächsten Tagen Flugwetter zu erwarten, seltene Chance für hohe und weite Segelflüge, von denen ich aber nicht wissen kann, wohin sie mich führen werden.

Wieder so eine Entscheidung, wie ich sie eigentlich nicht mag: eine Chance ergreifen, ohne genau zu wissen, wohin sie führen wird. Aber die verpasste Chance wäre keine Alternative.

Ich werde meine Sachen zusammensuchen und morgen früh mit dem Zug nach Süden fahren.

Der Triebwagen rollt aus im Gleisgewirr des Kasseler Hauptbahnhofs, rumpelt über Weichen – ein Ruck links, dann rechts. Neben den Gleisen die steile, mit Büschen und Bäumen bewachsene Böschung des Tannenwäldchens. Auf dem langgestreckten bewaldeten Hügel habe ich als Kind gespielt. Die Bäume im frischen Grün sehen noch genauso aus wie damals, aber es müssen längst andere Bäume sein.

Der Triebwagen kommt kurz vor dem Prellbock des Sackbahnhofs zum Stehen, Druckluft öffnet die Türen mit einem zischenden Seufzer, die Jungen und Mädchen springen mit ihren Schultaschen laut schwätzend auf den Bahnsteig und laufen zum Bahnhofsausgang. Vor kurzem noch hätte ich gleich hinter den Kindern gestanden, um möglichst rasch in mein Büro zu kommen: ein rascher Fußmarsch von fünfzehn Minuten zur Uni, im Rucksack den kleinen tragbaren Rechner und die Notizen für meine Vorlesung. Jetzt habe ich Zeit. Die Hektik von Schule, Arbeitsplatz, Büro und Vorlesung habe ich fast vergessen. Sollen andere dafür sorgen, dass die Welt weiter läuft. Ich bin Professor ‘im Ruhestand’, ausgeschieden aus dem Hochschuldienst aus Altersgründen, trage keine Verantwortung mehr. Naturverjüngung wie im Wald: die alten Bäume fallen, die jungen wachsen nach, der Wald lebt weiter und sieht immer gleich aus.

Ich hebe den schweren Rucksack mit dem Fluggerät auf den Sitz, schlüpfe in die Tragegurte, greife mir die Tragetasche mit Kleidung und Utensilien für zwei Wochen und steige hinter dem letzten Fahrgast aus.

Viele hundert Male habe ich in meinem Leben auf diesem Bahnsteig gestanden, ohne von ihm viel Notiz zu nehmen. Jetzt, wo ich nur noch selten hier her komme, drängen sich Erinnerungen auf.

Es ist immer noch derselbe Bahnsteig wie damals, vor mehr als sechzig Jahren. Die Sandsteinquader an der Bahnsteigkante. Die eisernen Säulen, die das niedrige Dach über dem Bahnsteig tragen. Die alten Eichenschwellen der Bahngleise. Die Schienen – an einigen findet man noch eingewalzte Jahreszahlen aus dem 19. Jahrhundert. An diesem Bahnsteig, in diesen Gleisen bündeln sich die Bahnen meines Lebens wie an keinem anderen Ort. Längst verweht, unsichtbar, nur noch bewahrt in meinem Gedächtnis, gänzlich getilgt in nicht allzu ferner Zukunft. Diese Gleise brachten mich als Kind in diese Stadt, sie nahmen meinen Vater in den Krieg, sie ließen mich mit Mutter und Geschwistern vor den Bomben flüchten, sie brachten mich aus anderen Kontinenten immer wieder in meine Heimat zurück, sie führten mich täglich zur Arbeit.

Die Gleise dieses Bahnsteigs brachten die Menschen in den Tod, die im Herbst 1941 vor unserem Haus die Straße kehrten, in langen schwarzen Mänteln mit gelben Sternen. An sie erinnerten auf diesem Bahnsteig jahrelang zweitausend Kieselsteine auf einem alten Gepäckkarren. Jeder Stein mit einem anderen Namen. Wenn ich früher hier auf meinen Zug wartete, versuchte ich manchmal, verwaschene Namen zu entziffern und mir die Menschen vorzustellen, die so hießen. Irgendwo in diesem Haufen waren Steine, die die Namen der Menschen trugen, deren Bild sich in mein Gedächtnis eingegraben hat. Anders als die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig hatte ich einen direkten Bezug zu diesen Steinen, zu den Schicksalen, die sie symbolisierten. Und jedes Mal wieder: dieses Gefühl von Trauer, Wut und Scham.

Ich steige in den Anschlusszug, fahre wieder über das Gleisgewirr am Tannenwäldchen vorbei, steige am Bahnhof Wilhelmshöhe aus, warte dort auf den ICE-Zug, der mich nach München bringen soll. Ich finde meinen Sitzplatz, verstaue den großen Rucksack in einer Ecke, wo niemand darüber stolpern kann, stelle die Sitzlehne flacher und hänge meinen Gedanken nach, während der weiße Zug durch die Einschnitte und Tunnel hastet, die man für ihn in das Gesicht der hügeligen nordhessischen Landschaft gekerbt und gebohrt hat. Ab und zu ein kurzes Auftauchen aus den Tiefen des Berglands, ein Flug von wenigen Sekunden über eine Talbrücke: über frischgrüne Wälder an sanften Hängen, hoch über grüne Wiesen, durch die sich von Weidenbäumen bewachte Bäche schlängeln. Rotbunte und schwarzbunte Rinder auf den Wiesen. Alte Bauernhöfe und Mühlen, Fachwerkdörfer mit schiefergrauen Kirchtürmen in der Ferne.

Schon taucht der Zug wieder in ein schwarzes Loch im Berg. Wir haben keine Zeit zum Schauen, scheint der Zug zu sagen, wir müssen weiter. Ich fühle mich in dieser dunklen Röhre sowieso wohler, scheint er zu sagen, hier muss ich mich nicht nach der Landschaft richten. Draußen, im Wechsel der Berge und Täler, zwingen mich die Gleise durch diese chirurgischen Schnitte und über Brückenbauwerke, die mir wie Prothesen stehen. Der gelbe Computerbildschirm am Verbindungsgang zwischen den Wagen zeigt in großen Lettern: 250km/h.

Der Zug schießt wieder aus seinem Loch im Berg und rast über die nächste Talbrücke. Ich erhasche einen kurzen Blick auf die Burg Spangenberg und die alte Stadt mit den schönen Fachwerkhäusern am steilen Hang. Zwischen den Feldern und Wiesen unter der Talbrücke versuche ich, die alte Trasse der ‘Kanonenbahn’ zu erkennen, auf der wir uns vor vielen Jahren vor dem Bombenhagel auf Kassel retteten. Hier fährt schon lange kein Zug mehr; die Gleise sind abmontiert, Bäume und Gebüsch wachsen auf dem Bahndamm.

Der ICE bohrt sich wieder in den Berg auf der anderen Talseite, nimmt mir rüde den Blick auf die Landschaft, in der ich meine Vergangenheit suche. Vergiss es, scheint er zu sagen, wen interessiert das denn noch.

Wenige Minuten später stürzt der Zug wieder aus seinem Loch im Berg als wolle er Luft schnappen, rast auf einer langen hohen Brücke über das grüne Tal. Unter mir windet sich die Fulda durch grüne Wiesen. Vom Horizont hebt sich ein bewaldeter Kegel ab, höher als die anderen Bergkuppen am Rand des Fuldatals. Ich kenne diesen Berg gut: der Alheimer, höchste Erhebung im Stölzinger Gebirge. Dahinter liegen Jahre meines Lebens. Kriegsjahre. Schnitt. Dunkelheit. Der Zug versenkt sich bereits wieder im nächsten Berg.

Der ICE gleitet in Fulda am Bahnsteig aus. Türen öffnen sich seufzend, Menschen werden ausgeatmet, eine Lautsprecherstimme nennt Verbindungszüge mit Städtenamen, Abfahrtszeiten, Bahnsteige. Der Zug saugt neue Fahrgäste vom Bahnsteig, lässt die Türen hinter ihnen zuklacken wie eine Falle. Leise und immer rascher gleitet der Bahnsteig wieder vorbei.

„Gersfeld“: einziges Wort aus dem Lautsprecher, das ich registriert habe. Hier auf dem Bahnhof in Fulda habe ich in einem Kriegswinter mit meinem Vater und meinem Bruder auf den kleinen Dampfzug nach Gersfeld gewartet. Ein Soldat holte uns dort im Pferdeschlitten ab. Fahrt durch tiefen Schnee und dunkle Nacht zum Truppenübungsplatz Wildflecken. Wir verloren den Weg und stürzten um in den Schnee.

Der Zug rast jetzt wieder durch die freie Landschaft. Am östlichen Horizont erkenne ich – an der Gestalt des mächtigen Berges und an der letzten, als Relikt des Kalten Krieges verbliebenen Radarkuppel – die Wasserkuppe, ‘Berg der Flieger’. Erinnerungen an Fliegerkameraden, an die Hektik der Segelflugwettbewerbe, an lange Flüge über Deutschland, an das geteilte Land vor der Wende.

„Zugestiegene die Fahrscheine, bitte!“ Ich zeige dem Schaffner meinen Fahrschein; er stempelt ihn mit seiner Zange, während er meine Bahncard studiert. Bahncard S für Senioren, Pensionär seit einigen Jahren, aber das Alter scheint nicht zum Farbbild auf der Karte zu passen. Der Schaffner schaut mir kurz ins Gesicht, nickt dann. Ich sehe so aus wie auf der Bahncard: volles, kurzes, immer noch braunes Haar mit wenig Grau, braune Augen, goldrandige Brille gegen starke Kurzsichtigkeit, schmaler Mund, ernste Gesichtszüge. Ich habe schon lange aufgegeben, beim Fotografieren zu lächeln – es wirkt nicht sehr überzeugend. Ich habe mein Lachen als Kind verlernt.

Wieder taucht der ICE in lange Tunnel, versteckt sich unter der Landschaft, um kurz darauf ans Tageslicht zu kommen und sich am nächsten Bergrücken wieder hastig in die Erde zu bohren wie ein verirrter Maulwurf. Hier sagt mir die Landschaft nicht mehr viel. Mein Leben hat sich mit ihr nie verknüpft. Meine Augen suchen nicht mehr nach Spuren von früher. Die Gedanken driften nach innen.

Kriegskind – für immer

Bombenkrieg, Evakuierung, Judenverfolgung, Tiefflieger, Hunger... Wer von den Mitreisenden hat das wohl noch erlebt? Ich schaue mich um im Großraumwagen – nicht der Ingenieur, der da an seinem Laptop arbeitet, nicht die Mutter, die ihre zwei Kinder beschäftigt, nicht die zwei Geschäftsleute, die irgendeinen Geschäftsbericht kritisch durchgehen.

Ich muss wohl der Älteste sein unter den zwei Dutzend Menschen im Abteil, ich muss wohl der einzige sein, der noch unter einer Hakenkreuzfahne das Horst-Wessel-Lied singen musste, der einzige, der einen Bombenangriff im Luftschutzbunker erlebt hat, der einzige, der noch gesehen hat, wie Juden auf der Straße gedemütigt wurden, bevor man sie in den Tod schickte, der einzige, der verhungernden russischen Kriegsgefangenen in die Augen geblickt hat, der einzige, der zwischen verbrannten Leichen deutscher Soldaten auf einem Schlachtfeld gespielt hat. Ich bin vielleicht der einzige hier, der richtig gehungert hat, jahrelang.

Ich habe selbst erlebt, was die anderen nur aus Berichten Älterer kennen können. Ich habe es erlebt in einem Alter, in dem es sich in Einzelheiten in mein Gedächtnis eingraben konnte, in dem ich aber selber nur einen passiven Anteil am Geschehen haben konnte: alt genug um zu verstehen, zu jung, um selbst zu handeln. Das lässt sich nur von denen sagen, die Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts geboren wurden: Kriegskinder – alt genug um Zeugen, zu jung um Täter zu sein. Ich bin ein ‘weißer Jahrgang’, wie das später hieß: Uninteressant für die junge Bundeswehr, weil wir keine Wehrmachtserfahrung hatten, und schon wieder zu alt, um als Rekrut einberufen zu werden.

Mich unterscheidet äußerlich kaum etwas von den Menschen in diesem Abteil. Aber ich schleppe andere, tiefe Erfahrungen mit mir herum: Wissen aus erster Hand, aus eigenem Erleben, das mich misstrauisch und vorsichtig gemacht hat – wie die meisten meiner Jahrgangsgenossen – gegenüber ‘hehren’ Ideen, gegenüber dem, wozu sich Menschen bewegen und missbrauchen lassen können.

Ich weiß, dass die Erfahrungen meiner Kindheit auch mein späteres Leben bestimmt haben: die Entscheidungen für Beruf, Arbeitsplatz, Forschungsgebiete, für die Länder, in denen ich gearbeitet habe, für vieles, das ich geschrieben habe und für das ich mich auf mancherlei Weise eingesetzt habe.

Selbst diese Reise, mit dem Gleitschirm neben mir, zu irgendwelchen Flügen mit bisher unbekanntem Ziel und Ausgang, hat ihre Wurzeln in den Kriegsjahren meiner Kindheit – als ich ans Fenster stürzte, um vorbeifliegenden Flugzeugen nachzusehen, als ich meine ersten Flugmodelle bastelte, als ich als Siebenjähriger meinem Vater einen Feldpostbrief nach Russland schickte mit der Botschaft „Ich will Flieger werden!“. Ich bin es geworden, mit Leib und Seele, wie man sagt, und mit dem Privileg, immer wieder in eine ganz andere Welt einzutauchen, die wohl keiner der Mitreisenden so kennt wie ich.

Und deshalb ist mein Leben sicher auf eine gewisse Weise anders verlaufen, als das meiner Mitreisenden – andere Anfangsbedingungen, andere Randbedingungen, andere Ziele, anderer Entwicklungspfad – um in der Sprache meiner Wissenschaft zu reden.

Niemand in diesen bequemen Sitzen des ICE, der jetzt mit 250km/h durch das deutsche Mittelgebirge hastet, hat wohl so viel von der Welt, und so viel Wandel in der Welt gesehen wie ich. Niemand wird barfuß zur Schule gelaufen sein, oder mit Kühen und Pferden gepflügt haben, oder an einer Dampflok für Indien gebaut, oder ein Segelflugzeug in Wolken gesteuert, oder Tausende von Zahlen mit einem Rechenschieber bearbeitet, oder Rechenprogramme in Lochkarten gestanzt, oder Forschung im Tropenwald von Borneo betrieben, oder Studenten in China unterrichtet oder unter dem Sternenhimmel der Sahara geschlafen haben.

Na und? Andere Leute erleben andere Dinge. Aber ich sage ja auch nicht, dass meine Geschichte etwas Besonderes sei – jedenfalls nicht in diesem Zeitabschnitt, in dem mein Leben ablief und abläuft. Aber in diesen fast sieben Jahrzehnten hat sich doch so viel Unerhörtes und Unerwartetes in der Welt ereignet, dass man es erst fassen kann, wenn es sich in persönlichen Schicksalen spiegelt.

Ich sollte niederschreiben, wie ich mein Leben erlebt habe, rein persönlich. So eine Art Endbericht, wie ich auch immer die Endberichte für die Forschungsvorhaben geschrieben habe, an denen ich beteiligt war: Bericht über den Ablauf, Schilderung der wichtigen Ergebnisse, Schlussfolgerungen. Jetzt fehlt noch der Endbericht über das Gesamtprojekt, das mein Leben darstellt.

Ich werde mir ein paar Gedanken machen, jetzt auf der langen Fahrt und später auf der Alm, wenn das Wetter keine Flüge erlaubt.

Fahnen, Uniformen, Stiefel

Meine erste bewusste Erinnerung: Ein grelles, fauchendes Licht. Zwei Männer in Arbeitsanzügen machen sich an dem hohen Eisengitterzaun vor unserem Haus zu schaffen. Das Licht zertrennt die Stahlpfosten knapp über dem fußhohen Mauersockel; Funken fliegen über Rasen und Bürgersteig. Das Eisengitter wird Stück für Stück abgenommen. Jemand erklärt mir, dass Deutschland Kanonen brauche, um Krieg zu führen gegen böse Feinde, die ihm Land weggenommen hätten, und dass man daher jetzt überflüssige Eisengitter in nützliche Kanonen verwandeln müsse. Das überzeugte mich. Ich hatte den hohen Zaun mit seinen Eisenspitzen sowieso nicht gemocht. Das war noch in Braunschweig, bevor mein Vater 1938 nach Kassel versetzt wurde.

Erinnerung an einen Sommertag in der Stadt Kassel: Hakenkreuzfahnen an allen Häusern, Uniformierte in allen Straßen, Nachbarn in gelb-braunen SA-Uniformen, mit eckiger Schildmütze, Lederkoppel und Schulterriemen, braunen Schaftstiefeln, Reithosen. Langsamer Überflug eines riesigen Zeppelins.

Erinnerung an einen Wintertag: Frauen in dunklen Mänteln mit einer Armbinde klappern mit ihren Sammelbüchsen, fordern von den Passanten Spenden für das ‘Winterhilfswerk’ WHW, geben uns Kindern kleine Anhänger mit Märchenfiguren.

Auch wir hatten eine Hakenkreuzfahne. Sie musste an manchen Feiertagen in eine Fassung an einem Fenster zur Straße gesteckt werden. Auch mein Vater trug manchmal die Uniform der SA. Und meine Mutter dekorierte ab und zu den Schaukasten der NS-Frauenschaft an der Stadthalle.

Eltern und Geschwister

Mein Vater war auf dem Gut seines deutschstämmigen Vaters in Rumänien geboren und in Schwaben aufgewachsen. Er hatte in Forstwirtschaft promoviert, war Forsteinrichter, plante die langfristige Bewirtschaftung von Wäldern. Manchmal arbeitete er zu Hause am Schreibtisch über großen, handgezeichneten Karten, rechnete Tabellen. Meist ging er tagsüber in sein Büro in der Stadt. Manchmal verabschiedeten wir Kinder ihn auf der Straße, wenn er mit seiner 500er BMW in den Wald fuhr, um selber Daten aufzunehmen.

Meine Mutter stammte aus Dresden. Sie hatte in Volkswirtschaft promoviert – über die ‘Konjunkturstabilisierung durch Kartelle’: diesen Zungenbrecher lernte ich früh, ohne ihn zu verstehen. Sie hatte im Planungsstab der IG-Farben in Berlin gearbeitet, bevor sie sich entschloss, vier Kinder groß zu ziehen. Ich war der Älteste. Mein Bruder Ulf war ein Jahr jünger, die ältere Schwester Uta war drei Jahre jünger. Meine Schwester Dietlind wurde im zweiten Kriegsjahr geboren; sie war fünf Jahre jünger als ich. Ich lernte irgendwann, dass ich im Jahr 1935 geboren war – an einem Vorfrühlingstag, als die ersten Schneeglöckchen blühten, wie meine Mutter erzählte.

Meine Eltern hätten kaum unterschiedlicher sein können. Meine Mutter: rational, sachlich, kritisch, kompetent in allem, was sie anfasste und immer hilfsbereit, aber sparsam mit Lob und Anerkennung, völlig unmusikalisch – jede Art von Musik bereitete ihr körperliche Schmerzen. Mein Vater: bedächtig, schweigsam, gutgläubig, einfühlsam und besorgt, interessiert an anderen Menschen, leicht zum Lachen zu bringen, Forstmann mit Leib und Seele, musikalisch und gelegentlicher Klavierspieler. Auch wenn die beiden sich gelegentlich stritten, so hingen sie doch mit unverbrüchlicher Loyalität aneinander.

Der Krieg kommt, der Vater geht

Kinderspiele. Kleine Wanderungen. Warten auf den Vater abends. Abendessen zusammen. Vorlesen. Und dann war auf einmal alles anders.

Eines Tages kam mein Vater vorzeitig aus dem Büro zurück, grüßte uns Kinder kaum. Vater und Mutter redeten miteinander mit ernsten Gesichtern, besprachen Dinge, von denen wir Kinder nichts verstanden, packten im Schlafzimmer ein paar Sachen zusammen. Dann nahm Vater uns einzeln in die Arme, drückte uns, ging mit meiner Mutter weg. Nach einer Weile kam sie allein zurück. Es war der 1. September 1939, Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen. Mein Vater hatte seinen Gestellungsbefehl erhalten. Von nun an sahen wir unseren Vater nur noch ganz selten, acht Jahre lang.

Bei diesen seltener werdenden Besuchen baute mein Vater seine alte Plattenkamera auf das dreibeinige Stativ, ließ uns unter dem schwarzen Tuch das auf dem Kopf stehende Bild auf der Mattscheibe betrachten, arrangierte die ganze Familie sorgfältig auf dem Sofa, zündete die Zündschnur an einem Päckchen voll Magnesiumpulver, drückte auf den Selbstauslöser und sprang dann mit ins Bild, bevor das Blitzlicht rauchend explodierte. Es schien, als wollte er auf diese Weise festhalten, was ihm und uns nun genommen wurde.

Der Frankreichfeldzug. Zum 40. Geburtstag meiner Mutter kam im Juni 1940 ein Feldpostbrief aus Besançon mit getrockneten Heckenrosen. Zu Weihnachten bekamen wir für unsere Spielzeugeisenbahn zwei französische Wagen. Aus Frankreich kamen damals viele Pakete deutscher Landser mit Spielzeug, Kleidung und Luxusartikeln, die es in Deutschland längst nicht mehr zu kaufen gab.

Lebensmittel und Kleidung gab es nur noch auf ‘Marken’ und Bezugsscheine. Ich wurde oft zum Einkaufen zum ‘Kolonialwarenhändler’ geschickt. Dort legte ich unsere Lebensmittelkarten und ein kleines Heft vor, in das meine Mutter die Einkaufsliste geschrieben hatte. Die Frau im Laden packte mir die Dinge in mein Einkaufsnetz, schnitt die entsprechenden Marken aus den Lebensmittelkarten heraus und schrieb die Preise ins Heft. Am Monatsende rechnete meine Mutter im Laden ab.

Luftschutzkeller, Gasmaske, Verdunkelung, Flak

Hammerschläge, Staub, das Kratzen von Schaufeln. Im Keller wird die Wand zum Keller des Nachbarhauses durchbrochen. Eine schwere Stahltür wird eingesetzt. Auch die Kellerluke bekommt eine Stahlklappe zur Straße hin. Dreistöckige Holzbetten mit Lattenrosten werden aufgestellt. Wir haben jetzt unseren ‘Luftschutzraum’. Neben der Stahltür stehen Löscheimer mit Feuerpatsche und Handpumpe. An der Wand ein Merkblatt über das Verhalten bei Luftangriffen, den Umgang mit Brandbomben und die Bedeutung der Sirenensignale. Über der Kellerluke wird an der Straßenseite ein dicker weißer Pfeil auf die Hauswand gepinselt, der auf die Luke zeigt. Alle Häuser haben jetzt solche Pfeile.

Wir bekamen jetzt alle eine eigene Gasmaske, ein graugrünes Gummiding mit runden Glasaugen, Gummibändern mit Schnallen zum Einstellen, einem großen abschraubbaren Kohlefilter und einer lustigen Gumminase. Wenn man schnell ausatmete, erzeugte die ein Schnodder-Geräusch.

Inzwischen war überall strikte Verdunklung angeordnet worden. Es gab spezielles ‘Verdunklungspapier’, mit dem Fenster abgedichtet werden mussten, die sich nicht durch Läden oder dichte Vorhänge verdunkeln ließen. Die Gaslampen der Straßenbeleuchtung wurden nicht mehr angezündet. Es gab im Dunkeln leuchtende ‘Leuchtplaketten’, die man sich an die Kleidung heftete, um nicht von anderen angerempelt zu werden, wenn man nachts auf die unbeleuchtete Straße gehen musste. Auto- und Fahrradscheinwerfer waren bis auf einen kleinen Schlitz abgeklebt. Taschenlampen wurden zum lebensnotwendigen Hilfsmittel, aber auch sie durften nur durch einen schmalen Schlitz leuchten. Auf höheren Gebäuden wurden Sirenen installiert. Wir gewöhnten uns bald an das aufgeregt auf- und abschwellender Signal für ‘Luftalarm’ und den beruhigenden Dauerton der ‘Entwarnung’. Zunächst waren die Sirenen nur zu Übungs- und Testzwecken zu hören. Über den Industrieanlagen der Stadt schwebten große Fesselballone, die den Einflug von Bombern verhindern sollten.

An einem Winterabend kreisten am Nachthimmel die Leuchtfinger von einem halben Dutzend Scheinwerfern. In einem der Scheinwerferkegel blitzte es auf: ein Flugzeug. Die anderen Strahlen schwenkten jetzt auch dorthin; sie schnitten sich am Flugzeug, das jetzt dahinflog, als ob es durch die Strahlen getragen würde. Die Flakgeschütze der Luftabwehrbatterien belferten wie eine aufgeregte Hundemeute. Vielleicht war es nur eine Übung – sonst hätte ich sicher nicht zuschauen dürfen.

Wir gewöhnten uns an den Gedanken, dass jetzt nachts bald fremde Flugzeuge kommen würden, um Bomben zu werfen. Wir hofften, dass sie die Stadt mit ihren verdunkelten Häusern nicht finden würden. Wir vertrauten auf die Flak mit ihren Suchscheinwerfern, die alle Eindringlinge schon abschießen würde.

Flugzeuge faszinierten mich. Ich zeichnete fast nur Flugzeuge. Ich war fünf, als ich mein erstes Flugzeug schnitzte und bemalte, samt Balkenkreuz der deutschen Luftwaffe. Ich bekam ‘Modellierbögen’ von deutschen und englischen Jagd- und Bombenflugzeugen, schnitt die Teile aus und klebte sie mit Uhu zu Flugzeugmodellen zusammen, die ich über meinem Bett schweben ließ: den Jäger Me 109, den Bomber He 111, den englischen Spitfire- Jäger und den englischen Wellington-Bomber.

Schulanfang: Sütterlin, Hakenkreuz und Hitlergruß

Erster Schultag im Herbst 1941. Ich saß zum ersten Mal unter anderen Kindern auf einer Schulbank. An der Wand stand meine Mutter unter den anderen Müttern. Auf dem Heimweg mit ihr trug ich eine liebevoll gestaltete und gefüllte Zuckertüte.

Wir lernten Sütterlin-Schrift nach einer Lesefibel mit den Hauptfiguren ‘Heini’ und ‘Lene’, die immer zwischen Autos, Tieren und Hakenkreuzfahnen agierten. Im Jahr darauf wurde auf die lateinische Schrift umgestellt.

Beginn des zweiten Schuljahres: Unsere Klasse ist mit den anderen Schulklassen auf dem Schulhof in Reih und Glied vor dem Fahnenmast mit der Hakenkreuzfahne angetreten. Wir singen das Horst-Wessel-Lied: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert, in ruhig festem Tritt. Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geiste in unser’n Reihen mit“, dann das Deutschland-Lied: „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“. Die Prozedur will kaum enden; wir müssen die ganze Zeit die rechte Hand zum Hitlergruß nach vorn strecken. Jemand hält eine Rede. Dann marschieren wir klassenweise in unsere Klassenräume.

Volksempfänger – und Komponisten im KZ?

Irgendwann bekamen wir einen Volksempfänger. Wenn Musikstücke gespielt wurden, erwähnte der Sprecher jedes Mal den Namen des Komponisten und sagte sogar noch ein paar freundliche Worte über ihn. Ich war verwirrt. Ich wusste inzwischen aus den Gesprächen der Erwachsenen, dass alle ‘Komponisten’ Volksfeinde waren und in Konzentrationslager gesteckt worden waren.

Irgendjemand erklärte mir den Unterschied zwischen Komponisten und Kommunisten. Die Komponisten denken sich Musik aus. Die Kommunisten aber, das sind die Leute von der Rotfront und Reaktion. Die haben auch den guten Kameraden Horst Wessel erschossen. Mir leuchtete ein, dass die ins KZ mussten.

Mir leuchtete auch ein, dass Deutschland jetzt – ab dem Sommer 1941 – Krieg gegen die russischen ‘Bolschewiken’ und ‘Untermenschen’ führen musste, die doch auch Kommunisten waren, wo doch Deutschland ein ‘Volk ohne Raum’ war und dringend mehr Land brauchte.

Menschen mit gelben Sternen

Herbst 1941. Das braune Laub fällt von den Kastanien der Kölnischen Straße vor unserem Haus. Mitten auf der Straße gehen in einer breiten Reihe Menschen in dunklen langen Mänteln, mit einem gelben Stern auf der Brust. Sie fegen mit Reiserbesen das Laub von der Straße. Ich beobachte sie, wie sie sich an unserem Haus vorbei arbeiten, langsam, schweigend. Ich habe sie noch nie hier gesehen; ich verstehe den Vorgang nicht und frage aufgeregt meine Mutter. „Das sind Juden“ sagt sie. „Zahnärzte, Rechtsanwälte.“ Sie wusste sogar, wo einige von ihnen wohnten – nicht weit von uns.

Aus Gesprächsfetzen der Erwachsenen und aus Sendungen des Großdeutschen Rundfunks aus dem Volksempfänger schnappte ich allmählich auf, was es mit den Juden auf sich hatte: Sie waren schlauer als die Deutschen, konnten raffiniert mit Geld umgehen, arbeiteten in einer internationalen Verschwörung gegen die Deutschen, hatten Jesus kreuzigen lassen, waren bolschewistische Plutokraten – was immer das war. Man konnte sie an ihren Nasen und Ohren erkennen. Bei Tisch schnappte ich auf, dass einer der Kollegen meines Vaters eine ‘nichtarische Großmutter’ hatte und dafür mit beruflichen Nachteilen bestraft wurde.

Ich habe damals nie gehört, dass man Juden den Tod wünschte, aber ihre ‘Umsiedlung’ war den meisten Erwachsenen wohl recht. Im Herbst 1941 wurden zweitausend Kasseler Juden nach Riga ‘umgesiedelt’, in den Wäldern dort erschossen oder später in Auschwitz und Treblinka umgebracht. Aber das erfuhren wir damals nicht.

Kohlenklau, Eiserne Kreuze, Mutterkreuze

Mit dem Einmarsch in die Sowjetunion 1941 war der Krieg auf einmal viel spürbarer geworden. Kohle wurde knapp. Mit Kohle wurde geheizt, Strom erzeugt, der Stahl geschmolzen für die Rüstungsindustrie; mit Kohle fuhren die Dampfloks der Reichsbahn. Auch Kohle gab es nur auf Bezugsschein, und sie sollte nur noch sparsam verwendet werden. An den Häuserwänden und in der Zeitung erschienen überall Aufrufe zum Energiesparen mit dem ‘Kohlenklau’, einer finsteren Gestalt mit einem Kohlensack auf dem Rücken und verschlagenem Blick.

Die Männer bekamen jetzt ihre Eisernen Kreuze, Verwundetenabzeichen, Nahkampfspangen, manchmal das Ritterkreuz. Die Frauen ‘kämpften an der Heimatfront’, fuhren die Straßenbahnen, führten die Geschäfte, arbeiteten in der Rüstungsindustrie, bekamen Kinder – ‘Soldaten für den Führer’ – und dafür Mutterkreuze. Immer mehr Männer starben den ‘Heldentod’ für ‘Volk und Führer’ oder ‘Führer und Vaterland’. Jeder Tag brachte neue Todesanzeigen mit den Eisernen Kreuzen oder Hakenkreuzen auf den hinteren Seiten der Zeitung. Und Frauen und Kinder starben bei den Bombenangriffen; auch für sie gab es immer mehr Todesanzeigen.

Unser Vater wurde in Russland verwundet, lag eine Weile im Krankenhaus, wurde wieder nach Russland geschickt, war ein Jahr lang weg, wurde wieder verwundet, lag wieder im Krankenhaus.

Bombenkrieg: mit dem Teddybär im Luftschutzkeller

Und nachts immer wieder Bombenalarm. Die Angriffe der englischen Bomber wurden immer häufiger und heftiger. Wir erwarteten sie jetzt jeden Abend.

Wir schliefen in unseren Trainingsanzügen. Neben dem Bett lag griffbereit ein Rucksäckchen mit Gasmaske und Teddybär. Aus dem ersten Schlaf, so gegen neun oder zehn Uhr abends, weckte uns das durchdringende Auf und Ab der Sirenen. Wir nahmen unsere Rucksäckchen und rannten in den Luftschutzkeller.

Während des Angriffs lagen wir Kinder in unseren Trainingsanzügen unter grauen Wolldecken auf den dreistöckigen Holzbetten im Luftschutzkeller; die Erwachsenen – Frauen und alte Männer aus den anderen Wohnungen unseres Hauses – standen und saßen herum. Meine Mutter las vor, aus Grimms Märchen. Aber wir waren nur mit einem halben Ohr dabei. Wir lauschten auf die Bombeneinschläge ringsherum, mal näher, mal ferner. Meist waren es ‘normale’ Sprengbomben, ab und zu aber auch schwere Luftminen, die mit ihrer gewaltigen Detonation die Erde erzittern ließen. Dazwischen belferten ununterbrochen die Flakgeschütze aus der nahen Flakstellung, die die Gleisanlagen des Hauptbahnhofs auf der anderen Seite des ‘Tannenwäldchens’ schützen sollte. Ein wütender, hilfloser Abwehrkampf aus allen Rohren, der keinen Einfluss auf den Bombenhagel zu haben schien. Die Glühbirne an der Kellerdecke flackerte, brannte wieder hell, ging dann ganz aus. Jemand zündete eine Kerze an. Draußen ständig Explosionen, mal ganz nah, mal fern. Dann wurde es ruhiger. Die Sirenen heulten wieder: Entwarnung. Der Angriff war vorbei, aber immer öfter gab es später in der Nacht noch einen zweiten oder dritten Angriff.

Nach einem großen Angriff standen wir am Kellerausgang im Garten und schauten über die brennende Stadt. Der Himmel war rot. Eine ganze Häuserzeile unterhalb unseres Hauses stand in Flammen. Die Explosionen waren verstummt; überall hörte man jetzt das Tatü-Tata der Löschzüge.

Am Morgen nach einem Angriff gingen wir ganz ‘normal’ zur Schule, in der Annahme, dass sie noch stand. Auf dem Weg mussten wir teilweise über Trümmerbrocken steigen. Die Straßen waren übersät mit Flaksplittern, bizarren Metallbrocken, die wir anfangs noch sammelten. Überall lagen noch die ausgebrannten oder auch noch nicht gezündeten sechseckigen Stabbrandbomben. Auf dem Schulhof hatten uns ältere Schüler in Hitlerjugend-Uniformen gezeigt, wie man mit Brandbomben umzugehen hat, wie man sie anfasst und wegwirft, wie man sie mit Sand und Löschpatsche löscht, wenn sie brennen. Vor Brandbomben hatte ich daher keine Angst. Wir wurden vor den Phosphorbomben gewarnt: Wenn man den Phosphor aufnahm oder abbekam, brannte er sich durch Kleidung und Haut ins Fleisch.

Blindgänger der Sprengbomben und Luftminen waren weiträumig abgesperrt und mussten erst weggeräumt werden. Auch vor der Kellerluke unseres Luftschutzkellers musste nach einem Angriff eine nicht explodierte Sprengbombe weggeräumt werden. Richtige Angst hatten wir nur vor den Luftminen, die mit ihrer gigantischen Sprengkraft ganze Häuserblöcke in Schutt und Asche legen und Lungen platzen lassen konnten.

Nach einem größeren Angriff dehnte ich den Rückweg von der Schule in benachbarte Straßen aus, um mir die Schäden zu besehen. Häuser, an denen ich am Vortag noch vorbeigegangen war, waren jetzt Trümmerhaufen aus Ziegeln, Balken, Fensterrahmen und Treppenstufen. An gekachelten Badezimmerwänden im ersten oder zweiten Stock schwebten jetzt Waschbecken, Klos und Badewannen im Freien. Durch fehlende Häuserfronten konnte man in staubüberschüttete Wohnzimmer sehen. An den Ruinenwänden klebten Plakate „Wer plündert, wird erschossen!“ In den Straßen patrouillierten Bewaffnete. Neben den weißen Pfeilen, die die Rettungsluken der Luftschutzkeller kennzeichneten, waren oft mit Kreide Nachrichten auf die Mauern geschrieben: „Karl, wir sind alle bei Oma in Melsungen“.

In der Nacht des 17. Mai 1943 wurden die Möhne- und die Edertalsperre von englischen Flugzeugen mit Spezialbomben zerstört. Die gewaltige Flutwelle der Eder erreichte auch Fulda und Weser und überschwemmte die flussnahen Stadtteile von Kassel. Wir schauten uns am Tag danach die braunen Fluten vom ‘Rondell’ über der Fulda an, auf dem in fröhlicheren Zeiten beim Kasseler ‘Zissel’-Volksfest der ‘Zisselhering’ aufgehängt wurde.

Flucht vor dem Bombenkrieg: Evakuierung aufs Land

Ein heißer Augusttag, 1943. Mit meiner Mutter stiegen wir vier Kinder mit vielen Frauen und anderen Kindern in eine Straßenbahn an der Stadthalle. In unseren Rucksäcken war das Notwendigste, meine Mutter hatte einen Koffer mitgenommen. Wir fuhren an zerbombten Häuserzeilen vorbei, rangierten auf dem Königsplatz, fuhren irgendwelche Umwege, weil die Gleise zerstört waren und kamen über den Lutherplatz schließlich zum Hauptbahnhof. Überall Trümmerhaufen, kaum noch intakte Häuser.

Auf dem Bahnhof stiegen wir in einen endlos langen Zug, mit Wagen der 3. Klasse, die noch Holzbänke und seitliche Einstiege in jedes Abteil hatten. Niemand kannte das Ziel; die Frauen rätselten darüber. Der Zug fuhr schließlich nach Malsfeld, fuhr dann nach langer Verzögerung über ein Verbindungsgleis auf die heute stillgelegte Strecke der ‘Kanonenbahn’ in Richtung Waldkappel.

In Spangenberg war Endstation für uns. Dort warteten schon viele Helferinnen des Roten Kreuzes und der NSV, der ‘Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt’, um uns auf Familien in der Stadt zu verteilen. Mein Bruder und ich wohnten mehrere Tage bei einem Frisör, meine Mutter war mit meinen Schwestern bei einer anderen Familie untergekommen.

Als ich am nächsten Morgen vor dem Haus des Frisörs stand, kam auf der Straße eine Gruppe englischer Offiziere in ihren Uniformen vorbei. Zwei zogen einen Handwagen. Dahinter ging ein deutscher Soldat mit umgehängtem Gewehr. Die Burg Spangenberg war jetzt Gefangenenlager für englische Offiziere.

Auch wir waren jetzt dem Krieg vorläufig entronnen, aber noch immer seine Gefangenen. Wir waren jetzt ‘Evakuierte’ und mussten uns eine neue Heimat suchen.

Bombennächte

Ich versuche, mich an die Bombennächte zu erinnern.

Aufschrecken aus dem ersten Tiefschlaf, das auf und abschwellende Geheul der Sirenen, der Sprung aus dem Bett, der Griff nach dem Rucksäckchen mit der Gasmaske, das einsetzende zornige Belfern der Flakgeschütze, das Hasten in den Luftschutzkeller mit Mutter und Geschwistern – und dann das ängstliche Lauschen auf die Bombenexplosionen – erst fern, dann näherkommend, dann plötzlich ganz nah, dass die Erde erzitterte, dann wieder abklingend und sich entfernend. Ich erinnere mich daran, aber es ist eine Erinnerung wie jede andere. Ich entsinne mich, dass mich die Ungewissheit quälte – würde die nächste Bombe bei uns einschlagen? Aber ich kann mich nicht daran erinnern, richtige Angst gehabt zu haben. Was bedeutet der mögliche eigene Tod schon für einen Siebenjährigen, der das Leben kaum kennt? Wir saßen und lagen da, sprachen leise miteinander, lauschten, warteten und hofften auf die Entwarnung.

Die Bombennächte haben sich mir nie als Alpträume in Erinnerung gebracht. Ich nahm die Nächte im Luftschutzkeller wie auch alle anderen Erlebnisse dieser Jahre als etwas Selbstverständliches und Unabänderliches hin. In der Welt der Erwachsenen wurde ein Krieg geführt; ich war ein unbedeutender kleiner Gast in dieser Welt, Erwachsene sorgten für mich und sagten mir, was zu tun war. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, mir über das Handeln der Erwachsenen Gedanken zu machen. Mein Vertrauen in meine Mutter und Erwachsene allgemein war grenzenlos – und über alle bestimmte ‘unser Führer’, der – irgendwie gottähnlich und unfehlbar – genau wusste, was gut war für das deutsche Volk, die Menschen um mich und mich selbst. Und wenn ich die seitenlangen Todesanzeigen für Soldaten und Bombenopfer auf den hinteren Seiten unserer Tageszeitung sah, wenn ich wieder von Verwandten oder Bekannten der Familie hörte, die ‘gefallen’ waren, so schien mir das doch alles zum Leben dazu zu gehören – ich hatte es ja bewusst kaum anders erlebt. Und es war mir auch undeutlich bewusst, dass ich später als junger Mann selbst noch die Gelegenheit haben könnte, ‘für Führer und Volk’ im Krieg zu sterben. Vielleicht nahmen wir Jungen aus dieser Einsicht auch die Überheblichkeit, mit der wir Mädchen unseres Alters oft drangsalierten und schikanierten.

Aber diese Zeit hat wohl doch gewisse Spuren hinterlassen: die Gewöhnung an unvorhersehbare plötzliche Veränderungen der vertrauten Welt, der Orte, der Menschen, der Dinge; die Einsicht, dass es keine Gewissheit, keine letzte Sicherheit, keine Dauerhaftigkeit gibt; die Erwartung, sich immer wieder von Menschen, Dingen und Orten trennen zu müssen und die Scheu, sich allzu fest an sie zu binden. Hier wuchs eine Generation heran, die später neue Freiheiten gewinnen sollte, weil in ihr eine unbewusste Scheu davor entstanden war, allzu feste Bindungen einzugehen, allzu dauerhafte eigene Wurzeln zu schlagen.

Aussteigen in einer ganz anderen Welt

Ein warmer sonniger Augustnachmittag, 1943. Der kleine Zug mit der schwarzen Dampflok und den alten dunkelgrünen Wagen der 3. Klasse mit ihren Holzbänken hatte uns aus Spangenberg gebracht und fauchte jetzt weiter nach Waldkappel. Wir standen mit unserem wenigen Gepäck mit unserer Mutter auf dem kleinen Bahnhof Burghofen: mein Bruder und ich in Lederhosen, meine Schwestern im rotkarierten ‘Dirndl’. Getreideernte auf den Dörfern ringsum. Wir sollten mit dem Pferdewagen abgeholt und zu unserer neuen Bleibe im fünf Kilometer entfernten Stölzingen gebracht werden, wenn die Garben eingefahren waren. Jetzt mussten wir warten.

Am Südhang hinter dem Gleis hatte der Bahnhofsvorsteher einen Garten angelegt, ein buntes Sommerblumenwunder, dazwischen Gemüse. Oben am Hang ein großes Bienenhaus. Davor in einem Bogen von metergroßen Lettern aus Blüten die Aufforderung: „VOLK FLIEG!“

„Volk flieg!“ Mir war der Spruch in den flugbegeisterten Schriften und Zeitschriftenartikeln jener Zeit begegnet, die ich fasziniert las, wenn sie mir vor die Augen kamen. Vor allem waren es Berichte über immer neue Rekorde der Segelflieger auf der Wasserkuppe, wo nach dem Verbot des Motorflugs in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg das motorlose Fliegen in Aufwinden seinen Anfang nahm. Seinen toten Pionieren hatte man 1931 ein Fliegerdenkmal gesetzt mit der Inschrift: „Wir toten Flieger, wir blieben Sieger durch uns allein. Volk flieg du wieder, und du wirst Sieger durch dich allein!“

Inzwischen hatte der Pilotenbedarf des Luftkriegs die verbreitete Flugbegeisterung der 20er und 30er Jahre längst für die Zwecke der Luftwaffe pervertiert. Vom dicken ‘Reichsluftmarschall’ (und ‘Reichsjägermeister’) Hermann Göring, Jagdflieger des Ersten Weltkriegs, kam die vielzitierte Aufforderung: „Das deutsche Volk muss ein Volk von Fliegern werden!“ Mir war längst klar, dass ich da mitmachen würde: wenn nicht als Pilot, dann als Flugzeugbauer. Am liebsten beides.

Ich starrte lange auf die Blumenschrift, hing meinen Gedanken übers Fliegen nach und wunderte mich über diese Inschrift auf einem Bahnhof der deutschen Reichsbahn mit ihren erdgebundenen Dampflokomotiven, ehe ich das „Volk flieg!“ in Verbindung brachte mit dem Bienenhaus dahinter. Ich lernte erst später, dass Menschen oft versuchen, mit Doppeldeutigkeiten ihre Integrität zu bewahren, besonders in Diktaturen: Sie sagen das Gerngehörte und meinen das Unerhörte, und man kann sie nicht überführen. Vielleicht war es eine stille Demonstration des Bahnhofsvorstehers für friedlichen Bienenfleiß in einer blühenden Welt.

Endlich kam die Kutsche, bespannt mit zwei schweren Arbeitspferden. Hortischuk, ein Ukrainer, der jetzt auf dem Stölzinger Hof arbeitete, begrüßte uns und half uns mit unserem Gepäck. Dann kutschierte er das Gefährt hinter den langsamen Kaltblütern auf der Straße aus festgewalztem Kalkschotter durch den Augustabend, vorbei an abgeernteten Getreidefeldern, wo noch die pferdebespannten Erntewagen mit Getreidegarben beladen wurden.

Unsere neue Heimat: Ein einsamer Hof in einem stillen Waldtälchen. Stölzingen war einmal Jagdsitz eines hessischen Landgrafen gewesen. Auf der einen Seite des Hofs stand eine große Scheune mit zwei Toreinfahrten, auf der anderen Seite lag das Stallgebäude. In der Mitte das Wohnhaus: zu groß selbst für eine Bauernfamilie mit ihren Knechten und Mägden. Eine Wohnung im ersten Stock stand leer. Hier zogen wir ein.

Die Wohnung war kleiner als unsere Stadtwohnung, aber wir Kinder hatten ein riesiges neues Reich dazu gewonnen: große und kleine Tiere auf dem Hof, endlose Versteck- und Spielmöglichkeiten in Scheune und Ställen, Dachboden und Keller, Hecken und Kletterbäume, Wiesen mit Blumen, Schmetterlingen und Heuschrecken, Bach und Fischteiche mit Molchen, Kröten, Fröschen und Wildenten, endlose Wälder mit Pilzen, Beeren, Rehen, Füchsen, Dachsen, Wildschweinen und sogar Rothirschen, die im Herbst selbst bei Tageslicht am Waldrand röhrten. Die beiden Töchter Waltraud und Ingrid des gemütlichen Bauern Schäfer und seiner stillen hageren Frau wurden unsere Spiel- und Schulkameraden.

Hortischuk, der uns vom Bahnhof abgeholt hatte, war einer der vielen ‘Russen’ die jetzt auf den Bauernhöfen die Arbeit deutscher Bauern taten, die inzwischen als Soldaten an der Front standen und fielen. Er war als ‘Fremdarbeiter’ aus einem Dorf der Ukraine gebracht worden. Er verstand sich bestens auf jede Art landwirtschaftlicher Arbeit im Feld und mit den Tieren und arbeitete fleißig, zuverlässig und selbständig. Hortischuk sprach verständliches Deutsch. Bauer Schäfer und Hortischuk arbeiteten partnerschaftlich Hand in Hand. Später kam noch ein zweiter Ukrainer, Grischa, hinzu. Obwohl es einen Befehl gab, dass die ‘russischen Untermenschen’ nicht mit arischen deutschen Bauern an einem Tisch sitzen durften, war es für Schäfer selbstverständlich, dass die ‘Russen’ mit ihm am Tisch aßen. Und zwar noch vor den Frauen im Haushalt, die traditionsgemäß erst nach den Männern aßen.

Schiefertafel, Rohrstock, Schuster und Schmied

Die Schule begann wieder für uns. Zusammen mit Ulf und Waltraud machte ich mich jeden Morgen auf den drei Kilometer weiten Weg zur Schule in Schemmern. Auf dem Weg mussten wir an Gehöften vorbei, in denen große schwarze Kettenhunde an über den Hof gespannten Drahtseilen bereits darauf warteten, sich zähnefletschend auf uns zu stürzen. Im Nachbardorf Gehau holte ich meinen Freund Karl von seinem Hof ab. In der kleinen Küche, wo in der dunklen Jahreszeit nur eine düstere 15 Watt Birne brannte, musste ich manchmal noch warten, bis er sein Frühstücksbrot gegessen und sich die Schuhe angezogen hatte. Diese Küche ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: Hier hörte ich am Morgen des 6. Juni 1944 aus dem Radio die Nachricht von der Invasion der Alliierten in der Normandie.

In den beiden Klassenräumen der Schule standen je ein großer Kachelofen, daneben ein Holzgestell, in das wir erst einmal unsere nassen Schuhe stellen und Haken, an die wir unsere nassen Jacken zum Trocknen hängen konnten. Im Klassenraum der ‘Kleinen’, in den ich jetzt ging, saßen in viersitzigen Schulbänken das erste und zweite Schuljahr auf der einen, das dritte und vierte auf der anderen Seite des Mittelganges. Der Lehrer betreute an die vierzig Kinder aus vier Schuljahren gleichzeitig. Während er zum Beispiel mit dem dritten und vierten Schuljahr Multiplikation übte, mussten die Kinder des ersten und zweiten Schuljahrs etwas von der Tafel abschreiben. Wir schrieben mit Tongriffeln auf Schiefertafeln, die auf der Vorderseite Schreiblinien, auf der Rückseite Rechenkästchen hatten. Die Tongriffel mussten immer wieder durch Schleifen angespitzt werden; sie zerbrachen leicht.

Der Rohrstock lag zur vorbeugenden Abschreckung immer griffbereit auf dem Tafelsims. Wenn der Rohrstock auch selten eingesetzt wurde, so wurde doch bei lautem oder ungebührlichen Betragen schon öfter mal ein Schüler für eine Weile ‘in die Ecke gestellt’. Die Scham vor der ganzen Klasse war Strafe genug.

Unser Klassenlehrer war gleichzeitig auch der Ortsgruppenleiter der NSDAP und vermittelte uns die Mythologie der Nazis – Hitlers Lebenslauf, Marsch auf die Feldherrnhalle, Festung Landsberg, Machtübernahme am 31. Januar 1933. Wohl hing ein Hitler-Bild in unserer Schule, aber wir mussten nicht unter Hakenkreuzfahnen zum Appell antreten und Deutschland-Lied und Horst-Wessel-Lied singen wie in Kassel. Der Arm der Partei reichte wohl nicht sehr weit in diesen Dörfern. Bei den Bauernfamilien schien die Partei wenig Resonanz zu finden, soweit ich das aus den Erwachsenengesprächen erahnen konnte. Hakenkreuzfahnen habe ich in den Dörfern nie gesehen, und Hitler-Bilder waren in den Bauernstuben nicht zu finden. Unser Nachbar, der Oberförster, war als Sozialdemokrat und Nazikritiker bekannt und wurde daher mit vorsichtigem Respekt behandelt. Der ‘Dorfidiot’ des Nachbardorfs – ein harmloser Irrer, dessen unverständliche Laute und seltsame Gebärden wir Kinder verwundert wahrnahmen – blieb während des ganzen Krieges trotz der Aktionen zur ‘Vernichtung unwerten Lebens’ ungeschoren.

Beim Heimweg von der Schule am Mittag hatten wir es nicht mehr so eilig wie am Morgen. Wir standen stundenlang und immer wieder in den Werkstätten von Schuhmacher, Schmied und Wagner und schauten ihnen bei der Arbeit zu. Wir sogen jeden Handgriff, den Rhythmus der Arbeit, den raschen Wechsel der Werkzeuge, den prüfenden Blick, das allmähliche Werden von Schuhen, Hufeisen, Pflugscharen und Wagenrädern in uns auf. Wir lernten das Ballett des Schmiedes am Amboss, zu dem er abwechselnd auf rotglühendem Werkstück und klingendem Amboss den Takt schlug, bevor er das dunkler glühende Stück wieder mit der Zange in das Schmiedefeuer schob und erneut erhitzte, mit der einen Hand die Zugstange des Blasebalgs betätigend. Am Ende seiner Arbeit tauchte er das Werkstück zum Härten in den Wasserbottich, aus dem dann unter Zischen und Fauchen eine Dampfwolke aufstieg.

Wir schauten unendlich oft zu, wenn Pferde beschlagen wurden: wie der Schmied den Huf in seinen lederbeschürzten Schoß nahm, das abgenutzte alte Hufeisen mit der Zange entfernte, mit scharfem gebogenen Messer den Huf säuberte und zurechtschnitt, das neue glühende Eisen das Horn des Hufes stinkend wegbrennen ließ, bis das Eisen passte, das neue Eisen mit vierkantigen Hufnägeln festnagelte und die aus dem Huf heraustretenden Nagelspitzen mit der Zange abkniff. Zur Not könnte ich wahrscheinlich heute noch ein Pferd beschlagen.

Säen, Ernten, Dreschen

Wir lebten auf dem Hof mit den Jahreszeiten, die die Arbeiten auf den Feldern bestimmten. Im Herbst und Frühjahr führten wir Jungen die schweren Kaltblüter beim Pflügen und Eggen, beim Säen des Getreides, beim Häufeln der Kartoffeln mit dem Häufelpflug. Im Frühsommer zogen die Pferde die ratternde Mähmaschine durch die Wiesen. Wir Kinder halfen, mit den handgeschnitzten Holzrechen das Heu zu wenden; später durften wir hoch oben auf den Heuwagen mit in die Scheune fahren.