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Autor: Alexander Florin, Berlin, 2015
Herstellung, Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783739290591
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch hat für mich kompilatorischen Charakter. Viele Themen werden angerissen und vorgestellt, um die Breite des Themas zu veranschaulichen und Anregungen für die vertiefende Beschäftigung zu geben. Etwas tiefer und anschaulicher sind die Passagen zu praktischen Aspekten der Umsetzung in HTML oder zur Integration in den Projekt- und Arbeitsalltag geraten.
Dass mir dieses Buch gelingen konnte, ist zahlreichen Personen zu verdanken.
Hartmut und Kosta gaben mir ihr Vertrauen und den Freiraum, die Themen zu erkunden und praktisch anzuwenden. Unbewusst verschafften sie mir (indirekt) sehr viel Anschauungs- und Lernmaterial.
Kevin, Thomas, Sven und Dirk erhellten in zahlreichen Debatten vor allem Umsetzungsfragen und haben sich auf das eine oder andere Experiment eingelassen. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen der vergangenen Jahre haben durch Widerspruch, Anregungen und gemeinsame Projekte Gedanken mitentwickelt oder deren Entstehen maßgeblich befördert. Deren wohlmeinende Reibefläche und Kooperation ist ein nie versiegender Quell.
Martin weckte vor über zehn Jahren durch eine unbedachte Äußerung mein Interesse am Gebiet der Usability. Volkmar und sein Team ebneten mir in zahlreichen Projekten und kreativen Diskussionen den Einstieg und legten wichtige Grundlagen. Florian und Sebastian gaben mir die Möglichkeit, vor allem im Printbereich meine Projekterfahrungen zu vertiefen und zu erweitern und mit meinem damaligen Kollaborateur Stephan das Thema Usability auf Papier auszuleben – auch wenn wir uns alle dessen oft nicht bewusst waren. Gemeinsame Online-Ausflüge ließen uns weiter reifen.
Zahlreiche Menschen teilen ihr Wissen freigiebig mit anderen: in Büchern, Web-Artikeln oder Forenbeiträgen. Als Autoren sind – zusätzlich zu den an den jeweiligen Stellen benannten – vor allem Steven Johnson (beginnend mit seinem Buch „Interface Culture“) und Daniel Eran Dilger (und seine Analysen auf RoughlyDrafted.com und AppleInsider.com) eine stete Inspiration. Auch Jakob Nielsen und sein Team liefern kontinuierlich wertvolle Hinweise zum weiten Feld der Usability.
Christiane wühlte sich als Fachfremde durch die vielen Seiten, und ihre konstruktiven Hinweise taten dem Text insgesamt sehr gut.
Sascha ermöglichte durch enormes Verständnis und mitunter argen Zeitverzicht es überhaupt erst, dass ich dieses Buchprojekt trotz ungewissen Ausgangs angehen und über viele Monate betreiben konnte.
All diesen und den vielen ungenannten Menschen gebührt mein Dank.
Alexander Florin. Berlin, Mai 2015
Wer die Antworten bereits meint zu kennen, findet in diesem Buch unterstützende Argumente oder Hinweise. Was er oder sie jedoch kaum finden wird, sind endgültige Weisheiten, wie in einer bestimmten Situation die perfekte Lösung aussieht. Erstens gibt es keine perfekte Lösung, nur besser oder weniger geeignete. Zweitens handelt es sich bei Usability nicht um eine Rezeptsammlung, der man nur zu folgen braucht. Usability ist vielmehr das Verständnis, wie der Geschmacksapparat funktioniert, welche Servier- und Speise-Konventionen bestehen, welche Zutaten und Küchenwerkzeuge zur Verfügung stehen – aus diesen wird ein dem Anlass entsprechendes Mahl zubereitet und würdig serviert.
Die häufigen Fragen werden meist von denen gestellt, die sich bislang nicht eingehender mit Usability beschäftigt haben. Für diese ist Usability meist entweder ein Kostenfaktor oder ein Teil der Umsatzoptimierungsstrategie. Wie alle gern verwendeten Schlagwörter verliert der Begriff „Usability“ zunehmend an Schärfe und Präzision – er wird schlichtweg für alles verwendet, was irgendwie mit der Bedienung von Webseiten oder Software zu tun hat. Für unsere Zwecke verstehen wir das Kunstwort „Usability“ als Mischung aus Gebrauchstauglichkeit, Anwenderfreundlichkeit und einfacher Bedienung.
Alle Personen, die Webseiten oder Software betreiben, verantworten, entwickeln, planen, bewerben, konzipieren, umsetzen, testen oder einfach nur einige Zusammenhänge besser verstehen wollen:
Unternehmer, Leiter: die tatsächlichen Nutzer-Interessen verstehen
Projektmanagement: Usability in Planung und Projektalltag integrieren
Anforderungserfassung: Nutzer verstehen und geeignete Dokumente erstellen
Umsetzung: technische Anforderungen berücksichtigen, Design-Grundlagen und Bedienkonzepte kennen, verfügbare Elemente und Werkzeuge anwenden
Marketing: als Schnittstelle zwischen Entwicklern und Nutzern passendes Erwartungsmanagement betreiben
Gelegentlich erweiteren theoretische oder historische Ausflüge die Perspektive und inspirieren zu anderen Denkbahnen. Als Schnelleinstieg oder zum Nachschlagen dient das Glossar am Buchende, das die häufigsten Begriffe und Konzepte kurz erläutert. Viele Kapitel bzw. Unterkapitel werden durch Checklisten beschlossen. Diese unterstützen bei Entscheidungen und fassen die für die Praxis wichtigsten Punkte zusammen.
Wie beim Lernen eines Instruments benötigt es jedoch mehr als nur die richtige Lektüre. Für gutes Spielen sind mindestens 2.000 Übungsstunden nötig; wer auf Profi-Niveau spielen will, benötigt etwa 10.000 Stunden. Gleichermaßen ist für Usability-Experten die praktische Erfahrung entscheidend, Bücher (wie dieses) können allenfalls Anregegungen und Hilfestellung bieten.
Entscheidend ist vor allem, dass Usability nicht als Einzeldisziplin begriffen wird, sondern gut in alle Prozesse integriert ist. Wie beim Qualitätsmanagement oder Controlling kann der Erfolg nur interdisziplinär entstehen. Oft bedarf es einer Person oder kleinen Personengruppe, bei der die Fäden koordiniert zusammenlaufen – aber ohne die gute und kontinuierliche Zusammenarbeit mit anderen Unternehmensbereichen oder Projektbeteiligten verpufft der Effekt oder bleibt kosmetische Fassade. Für solche Usability-Verantwortlichen und alle Personen, die mit diesen zusammenarbeiten, ist dieses Buch gedacht und soll eine gemeinsame Grundlage bilden. Auf dieser aufbauend entwickeln die Personen dann gemeinsam ihre Lösungen für ihre Nutzer.
So früh wie möglich. Usability ist nicht der Zuckerguss, der am Ende drübergegossen wird, sondern das Mehl, das alles gut zusammenhält. Auch alle Funktionen und technischen Aspekte haben Auswirkungen auf die Bedienbarkeit. Die Belange der Nutzer bereits am Anfang zu berücksichtigen, zahlt sich insgesamt aus, denn diese bezahlen mit ihrem Geld, ihrer Aufmerksamkeit oder ihrer Anerkennung.
So wie zu einem erfolgreichen Auftritt mehr gehört als die richtige Kleidung – eben auch die korrekten Umgangsformen, Körperhaltung und sprachlichen Codes –, so gehört zu einer guten Software die Usability essenziell dazu. Sonst erhält man den „Proll im Anzug“ oder den „Ritter im Penner-Look“, und beide bieten keinen guten Gesamteindruck.
Usability kostet nichts extra, wenn sie von Anfang an einbezogen wird. Gute Usability kann die Summe aller entstehenden Kosten über den gesamten Life-Cycle einer Software oder Webseite verringern. Vor allem nachgelagerte Aufwände – oft versteckte und gern ignorierte Kostenverursacher – sinken beträchtlich. Mittel- und langfristig entstehen Einsparungen:
Außerdem steigt die Nutzerzufriedenheit. Das Produkt bietet wenig Frustanlässe und hat eine hohe Empfehlungswahrscheinlichkeit.
Die praktische Erfahrung bestätigt, dass eine gute Planungsstunde zehn schlechte Reparatur-, Schulungs- oder Entwicklungsstunden spart. Das Thema Usability kann einen guten „Vorwand“ bieten, um bereits in der Konzeptionsoder Planungsphase kostenintensive Nutzerprobleme zu identifizieren und zu vermeiden.
Jede realistische Projektkalkulation berücksichtigt die voraussichtlichen direkten und indirekten Gesamtkosten für die gesamte Lebensdauer: Schulung, Wartung, Nachbesserung, Pflege, Erweiterung, Änderungen, verbaute Wege. Als Richtwert können drei Jahre dienen.
Häufig entstehen sogenannte technische Schulden in diesen Bereichen:
Was in dem jeweiligen Moment Zeit und Ressourcen spart, muss durch zusätzliche Ressourcen in der Zukunft ausgeglichen werden. Ständig muss eigentlich fertige Software korrigiert, angepasst oder erweitert werden. Änderungen sind aufwändig, weil die ursprüngliche Lösung nur auf einen unflexibel-konkreten Fall zugeschnitten wurde. Fehler werden erst im Produktivbetrieb erkannt. Jede Nachbesserung beinhaltet die Folgekosten des erneuten Bereitstellens und Aktualisierens; auch wenn diese Prozesse stark automatisiert ablaufen können, so sind sie dennoch nicht umsonst zu haben. Der Entwickler selber versteht seinen Code nach einigen Monaten bereits selbst kaum noch und benötigt lange, um dessen Funktionsweise nachzuvollziehen und eine Änderung vorzunehmen. Die Auswirkungen auf andere Code-Teile errät er dabei. Ist es nicht sein eigener Code, ist die Wartung ohne Coding-Standards für ihn unanständig aufwändig.
Die Problemliste, die Wikipedia bei „Anti-Pattern“ auflistet, bietet viele Anregungen, was es zu vermeiden gilt.
So lassen sich durch besseres Arbeiten an aktuellen Projekten deren technische Schulden in der Zukunft reduzieren, was Ressourcen freisetzt.
Weil niemand liest. Vor allem die Nutzer nicht. Hand aufs Herz: Wie viele ungelesene Bedienungsanleitungen liegen bei Ihnen zuhause? Bei Ihren Kollegen? Dennoch ist eine gute Anleitung bzw. Dokumentation unverzichtbar; denn einige Nutzer benötigen diese. Die Nutzerdokumentation muss dem aktuellen Stand der Software oder Webseite entsprechen. Wird sie parallel erstellt, hat das oft positive Auswirkungen auf die Konzeption, da durch die Textform einige Aspekte auffallen, die sonst übersehen werden.
Für die Dokumentation ist eine geeignete Struktur zu wählen, und auch für die Dokumentation gilt der Usability-Anspruch: gut verständlich, leicht zu nutzen, passend zu den Nutzerzielen strukturiert. Für Webseiten bieten sich häufig die sogenannten FAQ an. Diese „Frequently Asked Questions“ (Häufigen Fragen) beantworten Fragen, die sich die Nutzer stellen oder stellen könnten. Das Format ist etabliert, und wenn es gut angewendet wird, stellt es einen wirklichen Mehrwert dar. Ein Webshop sollte sich beispielsweise folgende Fragen stellen:
Über solche und ähnliche Fragen lässt sich auch ein komplexer Webshop gut dokumentieren. Die Antworten beschränken sich dabei jeweils auf die konkrete Frage, unterstützend sind sie untereinander verlinkt. Die ideale Antwort besteht aus einem Satz, der die Frage kurz und bündig beantwortet. Dies ist oft nicht möglich, daher gibt der erste Absatz eine allgemeine Antwort, und weitere Absätze beschreiben Details oder geben ergänzende Hinweise.
Für Software ist der sehr ähnliche „Wie tue ich“-Ansatz geeignet. Dabei werden die Aufgaben aus Nutzerperspektive benannt und anschließend die nötigen Schritte in der korrekten Reihenfolge beschrieben (und durch Screenshots illustriert): „Bild einfügen“ [die Aufgabe des Nutzers]
Auf diese Weise wird jede Funktion (ausgehend von der Nutzeraufgabe) auf ein bis maximal zwei Seiten beschrieben.
Zur Software-Dokumentation gehört noch mindestens ein Kapitel, das die Elemente und deren Grundbedienung sowie das Bedienparadigma vorstellt. Auch wenn viele Nutzer die Dokumentation nicht lesen, wissen sie doch, dass sie da ist. Bereits ihr Vorhandensein und die Möglichkeit, im Bedarfsfall auf sie zugreifen zu können, erhöhen das Sicherheitsgefühl erheblich. Dazu wird sie an geeigneten Stellen im Programm integriert und der Aufruf sowie die Recherche darin sind einfach möglich. Ergänzend ist an möglichst vielen Stellen die entsprechende Hilfe-Seite aufrufbar (oft als „?“-Icon). Auch Kurztexte in der Oberfläche verlinken für detaillierte Informationen auf entsprechende Hilfe-Seiten.
Die beiden Begriffe werden gern synonym verwendet, wie auch von Steve Jobs: „Design ist nicht nur, wie es aussieht oder sich anfühlt. Design ist, wie es funktioniert.“ Im praktischen Alltag bietet sich eine Trennung an: Design ist das konkrete Aussehen, Usability umfasst alle Aspekte der Bedienung, auch die abstrakten, esoterischen, metaphorischen oder prozessuralen.
Das Design beschreibt bei Software und Webseiten „lediglich“ die Optik. Die Usability dagegen gibt an, wie gut etwas benutzbar ist, damit ist sie ein funktionales Kriterium, das nicht von persönlichem Geschmack abhängig ist. Die Usability lässt sich messen (z.B. als benötigte Zeit, die für eine Aufgabe benötigt wird).
Das Design ist der sichtbarste Aspekt der Usability, doch besitzen auch viele Programme und Webseiten ohne aufwändige Gestaltung eine hohe Usability. Zugespitzt lässt sich formulieren: „Je schicker, desto schlechter benutzbar“. Nutzern fällt es in Designexzessen schwer, das gewünschte Bedienelement schnell zu finden, oder die Gestaltung verstellt den Blick auf die Funktionalität. Der Umkehrschluss gilt übrigens nicht, eine hässliche Webseite oder Software besitzt nur selten eine gute Usability – dieser Eindruck entsteht auch dadurch, dass schlecht bedienbare Webseiten und Programme schneller als hässlich wahrgenommen werden als gut bedienbare.
Wenn sich der Designer an das FFF-Credo („Form follows function“) hält, dann unterstützt das Design die Usability.
Standards sind lediglich „Denkhilfen“, Guidelines, Orientierungen. Sie wecken Erwartungen bzw. entsprechen diesen nur. Explizite Standards wie Normen beschreiben die Funktion, implizite Standards wie das Corporate Design beziehen sich auf die Optik.
Jeder Fall ist individuell und von zahlreichen Faktoren abhängig:
Indem von Anfang an mindestens eine Person, die sich mit deren Anforderungen und Umsetzung auskennt, in das Projekt einbezogen wird. Diese hat bei allen Usability-Aspekten die Entscheidungsbefugnis und kann in den anderen Feldern als Moderator fungieren. Eine offene, konstruktive und sachlich-kritikfähige Arbeitsumgebung lässt Usability fast von allein entstehen. Bedingung dafür ist ein fachlich buntes Team. Dieses umfasst mindestens Entwickler, Marketingmitarbeiter, Nutzer-Vertreter, Usability-Erfahrene.
Praktisch ist es von Vorteil, wenn die Beteiligten außerhalb ihrer fachlichen Kompetenz fordernde Hobbys betreiben, beispielsweise ein Instrument spielen, Modelleisenbahnen bauen, Autos reparieren oder kunstgewerbliche Stücke anfertigen. Ein breites Interessenspektrum erweitert den Kompetenzhorizont und befruchtet die Arbeit aufgrund des größeren Erfahrungsraumes.
Analog lässt sich auch fragen: Warum essen wir ungesund, obwohl wir wissen, wie wichtig eine gesunde Ernährung ist? Wer Hunger oder Appetit hat, konsultiert nicht die Ernährungspyramide und Nährstofftabellen, sondern das umgebende Nahrungsangebot, seine Brieftasche und die Umstände.
Essen ist situativ und sinnlich. Die Portion Pommes, das Glas Cola, der Burger, das zerkochte Gemüse, das Weißbrot, die Extra-Portion Fleisch, der Fertigpudding, die süßen Corn Flakes – darauf habe ich gerade Appetit, die werden mich schon nicht umbringen, außerdem sind sie günstig, gerade in Reichweite und günstig.
Jeden Tag ein halbes Kilo frisches Obst und Gemüse vorzuhalten und zuzubereiten, ist viel zu aufwändig. Fast nur Wasser und ungesüßten Früchtetee trinken macht ebenfalls keinen Spaß. Gesundes Essen zeigt seine Effekte langfristig. Ungesundes Essen bringt uns nicht um, verringert nur unsere Chancen auf gute und beständige Gesundheit; der Zyniker stirbt sowieso nicht an Ungesundheit, sondern an einem Unfall oder einer neuen Krebsart.
Jeden Tag gesund zu essen erfordert genauso wie das Erreichen guter Usability:
Im Gegensatz zu ungesundem Essen äußern sich die Effekte guter Usability eher, unmittelbarer und besser erkennbar. Sie haben betriebswirtschaftliche Auswirkungen, während potenzielle Gesundheitsprobleme eine Hypothek für die eigene Zukunft und die gesellschaftlich finanzierten Gesundheitssysteme aufnehmen.
Wer den Wechsel zu bewusster und gesunder Ernährung geschafft hat, weiß um die Vorteile und das verbesserte Körpergefühl. Genauso wissen jene Teams, die Usability fest in ihre Projekte integriert haben, um die positiven Auswirkungen. Alle anderen leben auch (irgendwie) und verzichten auf gute Chancen für ein besseres Leben oder erfolgreicheres Projektergebnis.
Die User Experience (abgekürzt UX) beschreibt das Gesamt-Nutzererlebnis. Dabei geraten auch Faktoren außerhalb der Software oder Webseite in die Betrachtung. Zur UX eines Webshops gehören beispielsweise auch das Verhalten bei einer telefonischen Support-Hotline, die Verpackung der Lieferung, der Umgang mit Retouren, die Präsentation in Katalogen, Broschüren oder Anzeigen. Bei Software gehören beispielsweise die Verpackung, Präsentation auf der Internetseite oder im Katalog, die Produktbeschreibung und Nutzerdokumentation, der Support, der Installations- und Aktualisierungsprozess zum Gesamterlebnis.
Ergänzend wirken sich die Leistungsfähigkeit des eigenen Geräts sowie die Internetgeschwindigkeit auf die UX aus. Bei der Konzeption sind daher die realen Verhältnisse zu berücksichtigen, die auf Nutzerseite herrschen. Insbesondere bei Mobilgeräten ist das technische Spektrum sehr breit, daher ist die Geräteverteilung unter den Nutzern bei der Entwicklung zu berücksichtigen.
Historisch hat sich die User Experience aus den Ansprüchen des Architekten und Designers Vitruv (1. Jh.v.u.Z.) entwickelt: Firmitat (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit, Usability) und Venustas (Schönheit). Je nach Objekt (Gebäude, Kleidung, Software, etc.) fällt die Gewichtung der Aspekte unterschiedlich aus. Die ISO 9241-210 (Seite →) definiert User Experience über die Wahrnehmungen und Reaktionen einer Person, die sich bei der Benutzung oder der erwarteten Verwendung eines Produkts ergeben. Das umfasst die psychologischen und physiologischen Aspekte, die Emotionen, die Erwartungen und das Verhalten.
Um die emotionale Wirkung zu steigern, ist es gelegentlich angebracht, mit Konventionen oder Regeln (und dadurch mit den Erwartungen) zu brechen. So lassen sich gezielt Akzente setzen oder Reibeflächen erzeugen, die das Verhältnis zum Produkt intensivieren.
Die Grenzen zwischen Webseiten, Web-Applikationen und Software werden immer weicher. Der Hauptunterschied liegt nicht im Medium „Web oder Software“, sondern in der Nutzung und Funktionalität. Daher illustrieren die Beispiele in diesem Buch jeweils prototypische Anwendungsfälle und stellen keine Dogmen für Web oder Software dar. Tendenziell gilt folgende Orientierung:
Tab. 1.1: Unterschiede zwischen Webseiten und Software
Prototypische Webseite | Pragmatische Software | |
Nutzung | gelegentlich | intensiv, dauerhaft |
Kontext | Freizeit | Arbeit |
Motivation | eigene, selbstbestimmt | zielgerichtet, fremdbestimmt |
Ziel | Unterhaltung, Information | Funktionalität, Aufgaben erledigen |
Design | eigenständig, ein wenig verspielt | funktional, zurückhaltend |
Farbigkeit | meist deutliche Farbigkeit | Farbigkeit nur zur Akzentuierung |
Inhalte | Webseiten-Inhalte (vorwiegend Konsum) | Nutzerinhalte (vorwiegend Kreation, Bearbeitung) |
Web-Apps wie Dokumentbearbeitung im Browser oder Webmailer-Oberflächen übertragen die Ansprüche von Software in das Web. Spiele oder kleine Softwaretools erfüllen teilweise mehr Web-Ansprüche. In vielen Fällen stellt sich bei neuer Software die Frage, ob sie als Web-App umgesetzt wird. Mobile Apps bilden oft optimierte Oberflächen für den Zugriff auf Webseiten-Funktionen. Daher gibt es kaum Regeln, die software- oder web-exklusiv sind. Es gelten stets die Regeln, die für die Nutzungsituation und Zielgruppe angemessen sind.
Jede Webseite und jede Software sollte in irgendeiner Form Nützlichkeit besitzen; diese kann sich in erfolgreicher Maschinensteuerung, guter Aufgabenbewältigung, effektiver sozialer Interaktion, aber auch in Spielspaß äußern. Diese Nützlichkeit spiegelt sich in der Präsentation wider, daher lohnt sich im ersten Schritt die Orientierung an pragmatischer Software. Im zweiten Schritt erhöhen soziale, ästhetische oder Gamification-Aspekte die Nutzfreude und steigern ergänzend die Motivation.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teil. (Aristoteles)
Usability stellt den Nutzer in das Zentrum – eine Software oder Webseite dient dessen Zielen. Was heute wie ein Allgemeinplatz klingt, ist für viele Entwickler noch keine Selbstverständlichkeit. Projekte werden meist aus der technischen Perspektive vorangetrieben und dabei der Nutzen für die späteren Anwender aus dem Blick verloren.
Gute Usability befriedigt die fünf Grundbedürfnisse der Nutzer:
Bei jedem Element, bei jeder Funktion, bei jeder Entscheidung über die Bedienung werden diese fünf Faktoren erfüllt, mitunter sind diese gegeneinander abzuwägen. Einige historische Beispiele illustrieren, wie unterschiedlich sich diese in der Praxis ausprägen.
Drei große Bereiche geraten in den Blick, wenn man über User-Interface-Design spricht:
Projekt: Alles ist heute ein Projekt, von der ersten Idee bis zum fertigen Ergebnis. Ein Projekt beginnt mit seiner Definition: Mit gegebenen Ressourcen (Zeit, Personal, Geld) soll zu einem bestimmten Zeitpunkt das Projektziel erreicht sein. Daraus lassen sich die Anforderungen an Projektmanagement ableiten:
Einige Kurzausflüge in Bereiche des Projektmanagement zeigen, wie User-Interface-Design in der Praxis integriert werden kann. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes wäre die Abspaltung dieses Aspekts eine Degradierung. In allen Projektphasen und Teilprojekten sind die Anforderungen an das User-Interface-Design zu berücksichtigen.
Software: Programme und Apps stellen Nutzern bestimmte Funktionalitäten oder Erlebnismöglichkeiten (beispielsweise Spiele) bereit. Die Software läuft auf dem Computer bzw. Smartphone oder Tablet des Nutzers und kommuniziert so direkt mit der Hardware. Die Definition einer Software umfasst mindestens:
Auch wenn gelegentlich Spiele zur Illustrierung eines Aspekts herangezogen werden, so richten sich die Ausführungen bewusst nicht an Spiele-Designer. Ziel ist vielmehr die Entwicklung von produktiver Software, die mit einem Nutzen beispielsweise in der Arbeit eingesetzt wird.
Webseite: Eine Webseite repräsentiert in gewisser Weise das Ergebnis einer Software, die auf dem Webserver läuft; die Eingaben und Ausgaben der Software erfolgen über den Browser auf dem Nutzer-Gerät. Die funktionalen Möglichkeiten sind durch die Browser und deren Zugriff auf die Geräte-Ressourcen begrenzt. Die Definition einer Webseite umfasst mindestens:
Software und Webseiten teilen sich zwar die gestalterischen Grundlagen, doch die Nutzungsszenarien unterscheiden sich. Dadurch weichen die Ansprüche an Benutzerführung und Gestaltung zum Teil erheblich voneinander ab. Bei Webseiten sind häufig gestalterische Fragen wichtiger als die Funktionalitäten im Hintergrund. Etwas vereinfacht gelten die Software-Regeln vor allem für produktive Systeme, die im Arbeitsalltag eingesetzt werden (ob nun als Software oder Webseiten-Backend). Die Webseiten-Regeln dagegen gelten vorwiegend für Webseiten, die sich an Endverbraucher richten, die Nutzung erfolgt häufig aus privatem Interesse oder in privatem Umfeld.
Mit den sogenannten Web-Applikationen rücken Software und Webseiten zusammen. Google-Docs beispielsweise bieten komplexe Möglichkeiten für Textverarbeitung und Tabellenkalkulation innerhalb einer Webseite. Die meisten E-Mail-Dienste bieten ebenfalls eine Web-Oberfläche, die sich wie ein Programm bedient. Zahlreiche Dienste stehen gleichermaßen als Software und Webseite bereit, beispielsweise der Cloud-Speicherdienst Dropbox oder die E-Mail- und Termin-Verwaltung Outlook. In diesen Fällen verdient die technische Infrastruktur besondere Aufmerksamkeit, um die benötigte Robustheit, Skalierbarkeit und Zuverlässigkeit zu gewährleisten. Wie gut ein System tatsächlich ist, zeigt sich immer dann, wenn etwas nicht wie erwartet funktioniert.
Absehbar ist, dass sich die Vielfalt der Nutzer-Schnittstellen weiter erhöht. Vom Computer über Tablet und Smartphone bis zu Smart-Watches, Smart-Brillen und anderen Wearables. Dazu gesellen sich sprachgesteuerte Systeme wie Siri, Google Talk oder Cortana, Gestensteuerung und auch ganz neue Nutzungsszenarien wie Smart-Cars oder Head-On-Displays, um die Hände im Operationssaal oder bei anderen Einsätzen frei zu haben.
Der konkrete Fokus des Buchs liegt zwar auf Software und Webseiten, die mit Computer, Tablet oder Smartphone genutzt werden. Doch die Regeln zu Projektmanagement, Design und anderen Aspekten gelten für alle Nutzer-Schnittstellen. Auf dem abstrakten Level gehorchen alle Interfaces den gleichen Ansprüchen und Regeln, erst in der konkreten Umsetzung prägen sich diese unterschiedlich aus. Je etablierter eine Schnittstelle ist, desto stärker sind Standards und Erwartungen gefestigt, neue Interface-Konzepte probieren noch zahlreiche Varianten aus.
Über funktionale Anforderungen besteht meist große Einigkeit bzw. diese lassen sich als Projektziel gut definieren:
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und verfeinern. So fehlt bereits beim ersten Beispiel eine Regelung, wie der Nutzer den Hinweis erhält. Auch die Frage, ob der Nutzer bei jedem Sensorwert jenseits des Grenzwerts den Hinweis erhält oder nur beim ersten, bleibt unbeantwortet. Handelt es sich um einen Temperatursensor, wäre folgende Logik eventuell sinnvoll:
Mit solchen Überlegungen befinden wir uns bereits mitten im User-Interface-Design. Es ist nicht nur zu definieren, wie der Hinweis erfolgen und gestaltet sein soll. Ebenso spielen die Interaktionsprozesse eine große Rolle: Wann werden dem Nutzer welche Informationen gegeben und wie wird auf Nutzeraktionen reagiert?
Der im letzten Beispiel skizzierte Webshop wirft zahllose Fragen auf: Wer pflegt die Produkte und wie? Wie erfolgt die Kundenkommunikation? Welche Aufgaben hat die Suche? Wie wird mit nicht erfüllbaren Bestellungen verfahren? Welche Auswirkungen hat die Preispolitik: Gibt es Angebote? Wie werden diese gekennzeichnet? Werden Preise durch Automatismen oder durch Zeitsetzungen gesteuert oder nur manuell gesetzt? Welche Preissuchmaschinen oder externen Dienste werden wie eingebunden? Welche Liefer- und Zahlmöglichkeiten hat der Kunde?
Bei Webseiten sind zwei Nutzergruppen zu berücksichtigen: Die Nutzer des Backends (Autoren, Produktpfleger, Manager, Controller, etc.) sowie die Nutzer der Webseite (Leser, Kunden, Webseitenbesucher und -nutzer). Beide Nutzergruppen stellen unterschiedliche Anforderungen an die Bedienung der Webseite. Was für die Backend-Nutzer gut und effektiv ist, kann für die Webseitennutzer störend und nervig sein – und andersherum. Eine pragmatische, schnörkellose Gestaltung im Backend ist oft zielführend, aber die Webseite darf und sollte den einen oder anderen Schnörkel aufweisen.
Während die funktionalen Anforderungen gut zu erfassen sind, entziehen sich die nicht-funktionalen Anforderungen der klaren Definition. Man weiß meist erst, was gut ist und gut funktioniert, wenn man es sieht oder ausprobiert. Daher steht in Anforderungen dann der Allgemeinplatz: „Die Software, die App, die Webseite weist eine gute Usability auf.“
Usability ist das Modewort, wenn über die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine gesprochen wird. Das betrifft Software, Webseiten, Maschinensteuerung, selbst Möbel mit Einstellungsfunktionen oder Unterhaltungselektronik. „Usability“ bezeichnet – vereinfacht gesagt – ein Konglomerat aus den deutschen Begriffen „Gebrauchstauglichkeit“, „Anwenderfreundlichkeit“ und „einfache Bedienung“. „Intuitive Bedienung“, „Fehlertoleranz“ oder „modernes Design“ begleiten oft die Vorstellungen von Usability.
„Usability“ ist kein Wert an sich, sondern zunächst nichts anderes als „Qualität“ oder „Wetter“ – jedes Produkt besitzt eine Qualität, manche eine hohe, andere eine geringe. Jeder Tag hat Wetter, manche gutes, andere schlechtes. Auch die am kompliziertesten zu bedienende Software besitzt Usability – nur vermutlich keine gute. Die Erfahrungen mit schlechter Usability leiten oft, was man bei eigenen Projekten vermeiden oder anders machen möchte. Doch bekanntes Schlechtes einfach nur zu vermeiden, führt nicht notwendigerweise zu einem guten Ergebnis.
Gute Usability schafft eine Verbindung zwischen Mensch und Maschine bzw. Computer, die „sich gut anfühlt“. Zu diesem Wohlfühlen tragen verschiedene Faktoren bei. Es sind die gleichen Faktoren, die auch für die Beziehungen zwischen Menschen gelten – ob nun Liebesbeziehung oder freundschaftliche Verbundenheit. Für negativ aufgeladene Beziehungen würden wir über die Faktoren „Frust, Unzuverlässigkeit, Vernachlässigung, Desinteresse oder Misstrauen“ sprechen. Doch diesen widmen wir uns höchstens als Negativbeispiele, denn schließlich wollen wir den Anwendern ein gutes Gefühl vermitteln – mittels einer guten Usability.
Respekt entsteht durch fachliche Kompetenz, durch angemessenes Verhalten, durch Wissen um die eigenen und fremden Stärken und Schwächen. Der respektvolle Umgang miteinander ist davon geprägt, andere Menschen nicht durch Worte oder Taten zu erniedrigen bzw. sich selbst nicht über andere zu erheben. Dazu gehört ebenso, gezogene Grenzen zu achten, Fähigkeiten zu fördern und Unfähigkeiten nicht bloßzustellen.
All das erwarten wir von unserem Computer bzw. der Art, wie dessen Software oder eine Webseite uns behandeln. Wir erwarten Aussagen über die fachliche Kompetenz (und dass wir uns auf die Korrektheit dieser Aussagen verlassen können). Wir erwarten, mit unseren Anliegen ernstgenommen zu werden, ohne uns als Bittsteller zu fühlen oder mit einer sich untertänig andienenden Software klarkommen zu müssen. Wir erwarten, dass die Software nicht mehr von uns verlangt, als wir in der Lage sind zu leisten.
Werden diese Erwartungen erfüllt, fühlen wir uns bestärkt und nutzen die Software oder Webseite gern.
Vertrauen ist leicht zu erschüttern und schwer zu verdienen. Besteht es jedoch erst einmal, steigen die Toleranz und die Nachsicht bei Kleinigkeiten. Vertrauen entsteht durch Zuverlässigkeit, durch gemeinsames Verständnis von der Welt und den Abläufen in der Welt, durch Offenheit, durch die Kongruenz von Worten und Taten. Jeder kennt aus seinem persönlichen Umfeld genügend Beispiele von Personen, die das eigene Vertrauen verdienen, und anderen, die das einst entgegengebrachte Vertrauen verwirkt haben. Natürlich genießen verschiedene Personen auch unterschiedliche Grade von Vertrauen. Einigen vertrauen wir in bestimmten Fachbereichen, anderen charakterlich wegen ihrer Integrität, wieder anderen nur in Bezug auf unsere emotionalen Befindlichkeiten.
Software hat den Vorteil, dass sie vorwiegend auf einer fachlichen Ebene Vertrauen erlangen muss. Das bedeutet zuvorderst, dass sie zuverlässig funktioniert und alle versprochenen Funktionen korrekt ausführt. Im Alltag bedeutet Vertrauen auch, dass man einer Software seine Daten anvertrauen möchte, da es keine Anzeichen für eine missbräuchliche Nutzung gibt. In der Bedienung kann man Vertrauen durch Konsistenz erheblich fördern. Konsistenz unterstützt den Lerneffekt, denn ein einheitliches Erscheinungsbild sorgt dafür, dass Nutzer sich schnell zurechtfinden und die Auswirkungen ihres Tuns abschätzen können. Damit entfallen überraschende oder verstörende Situationen, die Skepsis und Misstrauen säen.
Wie in einer Ehe kennt der Mensch die Geschichten, Antworten und Reaktionen des anderen bereits im Vorfeld und liegt damit meist richtig. Idealerweise dauert es bei der Beziehung zwischen Mensch und Maschine nicht viele Ehejahre, bis dieses Vertrauen aufgebaut ist, sondern dieses entsteht in den ersten Nutzungsstunden.
„Quid pro quo“ lautet der stille Subtext vieler menschlichen Interaktionen, ich helfe dir heute, du mir morgen. Heute die Antwort auf eine Fachfrage, morgen Hilfe bei der Kinderbetreuung, übermorgen gemeinsamer Theaterbesuch und am Tag darauf kocht der eine für den anderen. Die Kette solcher gegenseitigen Gefälligkeiten kann sich über Lebensjahre hinziehen. Um manche Gefallen muss man bitten, andere ergeben sich von ganz allein, wieder andere wirken, als hätte der andere meine Gedanken gelesen und bietet genau im richtigen Moment die benötigte Hilfe.
Gegenüber dem Computer ist meine Palette an Hilfeleistungen überschaubar: einschalten, für genügend Strom während des Betriebs sorgen, die korrekte Software starten oder Webseite aufrufen, benötigte Daten bereitstellen. Als Gegenleistung erhalte ich Unterstützung bei einer Vielzahl von Aufgaben: Steuererklärungen und andere Berechnungen, Bildbearbeitung und Video-Schneiden, E-Mail-Kommunikation und Rechtschreibkontrolle, Online-Shopping und Budgetkalkulation. Viele dieser Unterstützungen sind direkte Hilfeleistungen, die sich konkret aus der Aufgabe ableiten. Wie zwischen Menschen unterscheiden sich auch die Möglichkeiten, wie wir in der Computerwelt Unterstützung erhalten.
Die Steuererklärung beispielsweise kann im Ergebnis identisch sein, doch von dem einen Steuerberater wurde ich herablassend und besserwisserischlehrerhaft zur Einreichung der Unterlagen aufgefordert, während ein anderer mit mir die benötigten Angaben durchging und gemeinsam eine Liste der noch vorzulegenden Unterlagen erstellte. Der zweite Fall bot eine gute „menschliche Usability“, und ich würde ihn lieber benutzen als den ersten. Ebenso ist bei Software nicht nur entscheidend, die tatsächlich benötigte Unterstützung funktional anzubieten, sondern dies auch in angenehmer Weise zu tun – sodass der Nutzer sie annehmen möchte, weil er oder sie sich unterstützt fühlt. Dadurch wird er die Software häufiger (und motivierter) nutzen, und durch den begleitenden Lerneffekt steigen die Qualität der Eingaben sowie die Nutzungsgeschwindigkeit.
Der Grat zwischen dem Gefühl der Unterstützung und dem der Bevormundung ist schmal. Das weiß jede Mutter, die ihrem Kind versucht, die korrekte Kleidung für das Spielen im Freien anzuziehen. „Ich meine es doch nur gut mit dir“, lässt das Kind nicht als Argument der Mutter gelten, und die User nicht als Ausrede des Computers.
Tagaus tagein wird Verständnis erwartet: für Baustellen, für Warteschlangen, für Bearbeitungszeiten, für Probleme, für Hindernisse, für falsches Verhalten. Verständnis braucht es immer dann, wenn etwas nicht so läuft, wie es gemäß unserer Vorstellung oder Erwartung laufen sollte. Für viele Dinge fehlt uns aber das Verständnis, vor allem dann, wenn es offensiv eingefordert wird: „Wir danken für Ihr Verständnis wegen der entstehenden Unannehmlichkeiten.“ Verständnisbereit sind wir dann, wenn die andere Person oder die Institution unser Vertrauen erworben haben, und es sich um Ausnahmen handelt. Ein Verständnis, das aus dem Gefühl der Hilflosigkeit oder Ohnmacht erwächst, ist keines, sondern lediglich Resignation.
Verständnis setzt Verstehen voraus. Ich habe Verständnis, wenn ich verstanden habe, worin das Problem besteht und wenn es mir einsichtig ist. Eine Fehlermeldung wie „Diese Funktion steht nicht zur Verfügung“ ist nicht geeignet, für Verständnis zu werben. Dagegen erhöht „Um diese Funktion zu nutzen, sind weitere Angaben nötig“ meine Fähigkeit, das Problem zu verstehen: Ich muss noch weitere Daten zur Verfügung stellen. Wenn die Fehlermeldung um einen Link zu einem geeigneten Eintrag in der Software- oder Online-Hilfe ergänzt wird, werde ich befähigt, das Problem auch gleich zu lösen.
Das ist das fundamentale Verständnis der Software bzw. Webseite für mein Anliegen: Ich möchte weder die Software noch die Entwickler ärgern, sondern eine Aufgabe erledigen. Hilf mir, dies mit möglichst wenig Aufwand zu tun, und du bist mein Freund.
Verständnis funktioniert in beide Richtungen. Behandelt der Computer seine Nutzer fair, so wird ihm auch Verständnis entgegengebracht. Zur fairen Behandlung gehört, dass der Computer seine Funktionen für den Nutzer verständlich anbietet und bei Eingaben nicht nur sagt, welche er benötigt, sondern vor allem auch warum. Auf einer Shopping-Webseite ist die Angabe einer Lieferadresse selbstverständlich, da genügt die indirekte Grund-Angabe durch eine Überschrift wie „Geben Sie die Lieferadresse an“ oder „An welche Adresse soll die Bestellung geliefert werde?“ oder schlicht „Lieferadresse“. Aber warum ist beispielsweise die Angabe einer Telefonnummer, des Geburtsdatums oder des akademischen Grades nötig? Manche Warum-Fragen beantwortet der Kontext eindeutig, andere müssen im vorauseilenden Verständnis begründet werden.
Wenn der Computer alle Eingaben so verarbeitet, wie er sie nach Nutzerverständnis verarbeiten sollte (eben die Lieferung an die angegebene Adresse veranlasst), dann steigt auch das Verständnis auf der Nutzerseite. Zu diesem Verständnis gehört auch das Wissen, dass keine anderen als die angebotenen Funktionen zur Verfügung stehen. Dass Angaben in einer bestimmten Form oder Reihenfolge benötigt werden. Dass der Computer kein Mensch ist, der zwischen den Zeilen lesen kann, sondern nur seinen vorgegebenen Bahnen folgt.
Verständnis wird vor allem über die Kommunikation erzeugt. Es gibt die offene Kommunikation („Das finde ich nicht gut von dir“) und die indirekte (Blicke des Missfallens). Wirkungsvolle Kommunikation funktioniert nur, wenn direkte und indirekte das Gleiche erzählen. Eine Person, die gequält zwischen den Zähnen hervorpresst, dass sie sich gern mit anderen unterhält, wirkt nicht glaubwürdig. Ebenso wirkt eine Webseite in technizistischem Design wenig geeignet, um Gedichte zu präsentieren. Eine verschnörkelte, pompöse Webseite, die schwafelig die Vorteile eines günstigen Produkts anpreist, funktioniert nicht. Inhalt und Form müssen miteinander harmonieren und kongruent sein.
Dabei besteht keine Software und keine Webseite im luftleeren Raum. Design-Konventionen und Gewohnheiten verleihen dem Design eine Inhaltsebene. Bestimmte Gestaltungen treffen oder evozieren inhaltliche Aussagen. Auch wenig geübte Anwender sehen einer Software oder Webseite an, was ihr Zweck ist bzw. was sie anbieten – ohne ein Wort zu lesen.
„Man kann nicht, nicht kommunzieren‘ “, hat Paul Watzlawick einstens formuliert. Umso wichtiger ist es, sich der zahlreichen Ebenen und deren gegenseitigen Beeinflussungen und den Abhängigkeiten der Kommunikation bewusst zu sein und diese zu einem einheitlichen Ganzen zu fügen.
Jeder Mensch hat seine eigenen kommunikativen Fähigkeiten. Der eine formuliert nüchtern karg auf den Punkt, der andere weitschweifig detailverliebt und wortspielbegeistert. Inhaltlich sagen beide das gleiche, und in manchen Situationen schätzen wir die knappe Präzision des einen, in anderen die eloquenten Fabulierungen des anderen. Weder können die Extreme noch ein ausgewogener Mittelweg alle Bedürfnisse befriedigen.
Wichtig ist daher, überhaupt zu kommunizieren, lieber zu häufig als zu selten. Bewährt hat sich die Kombination aus knapper Präzision mit Verweis auf eine detaillierte Langfassung, beispielsweise bei Fehlermeldungen mit Link zu einem Hilfe-Beitrag. Aber selbst diese Lösung hat ihre Grenzen. Nämlich dann, wenn der Nutzer sie nicht als konstruktive Kommunikation wahrnimmt, die ihm hilft, sein Anliegen zu erfüllen.
Software und die meisten Webseiten existieren nicht zum Selbstzweck und nur wenige aus dem Geltungsdrang eines Programmierers heraus – sie sollen Nutzer dazu befähigen, etwas Bestimmtes zu tun. Auf einem abstrakten Niveau gelten die fünf Faktoren (oder Prinzipien) daher gleichermaßen für Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Mensch und Maschine:
Respekt: Von mir werden nur Angaben erwartet, die für die Aufgabe nötig sind und die ich zu leisten in der Lage bin. Dafür wird mir der geringstmögliche Aufwand abverlangt.
Vertrauen: Meine Daten werden nicht missbraucht, sondern ich erhalte am Ende das versprochene Ergebnis. Gleiche Daten ergeben das gleiche Ergebnis, das Sprechen über die Vorgänge bzw. deren Darstellung entspricht dem tatsächlichen Umgang mit den Daten, und gleichartige Darstellung bedeutet gleichartige Funktionalität.
Unterstützung: Ich erhalte Hilfe dabei, eine bestimmte Aufgabe zu lösen oder ein Anliegen zu erledigen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich werde weder gegängelt noch bevormundet oder zu Aktionen gezwungen, die nicht meiner Aufgabe oder meinem Anliegen entsprechen.
Verständnis: