Copyrightvermerk
© 2011 Danner/ Gansen/ Heyd/ Lieber (Hrsg.)

Titelbild
Axel von Criegern

Herstellung und Verlag
Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN
978-3-8448-2490-2

Bibliographische Informationen der deutschen Bibliothek

Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel I: Perspektiven der Bildungstheorie und Didaktik

Hermann Forneck
Bildung und Dekonstruktion. Überlegungen zu einer poststrukturalistischen Bildungstheorie

Hartmut Flechsig
Der günstige Augenblick. Überlegungen zu einer fächerübergreifenden ästhetischen Bildung

Jens Dressler
Von der Grundschule lernen? Ein Nachdenken über die ästhetische Dimension gymnasialer Bildungsprozesse

Wolfgang Sander
Ästhetisches Lernen in der politischen Bildung

Andreas Nießeler
Vorstellen und Gestalten. Vielperspektivität beim Philosophieren mit Kindern

Antje Danner & Annabelle Felber Schulbuchseiten brauchen keinen Text. Ein Praxisbeispiel
zum Lernen mit Bildern

Carl- Peter Buschkühle
Bilderkultur und künstlerisches Denken. Aspekte zur Theorie und Praxis künstlerischer Bildung

Kapitel II: Perspektive der Kunst

Christoph Cless & Axel von Criegern
Bischof Martin von Tours. Ein theologisch- künstlerischer Dialog

 

Kapitel III: Perspektiven empirischer Forschung

Peter Gansen
Die Lesbarkeit der Welt. Kinderforschung im Schnittfeld von Literalität und Bildung

Corinna Heyd
Bildungspotential in Sammlungen. Oder vom Sinn und Unsinn einer Mops-Sammlung

Bettina Uhlig
„Der hat bestimmt schon mal ein Tier mit dem Speer geangelt.“ Bildgespräche mit Kindern

Gabriele Lieber
„Da muss man voll gut nachdenken.“ Kindliches Bildinteresse im Spannungsfeld von Wahrnehmungsgewohnheiten und Bildungsansprüchen

 

Autorenverzeichnis

Vorwort

Im Laufe eines so fruchtbaren akademischen Lebens wie dem von Ludwig Duncker gibt es eine solche Fülle von Inhalten, von theoretischen und didaktischen Beiträgen in verschiedenen fachlichen Zusammenhängen und Projekten, dass der hier vorliegende Sammelband nur einen kleinen Ausschnitt repräsentieren kann. Zudem hatte das Buchvorhaben mit den üblichen Problemen zu kämpfen (räumliche Distanz des Teams, Zeitdruck, Absagen, Nicht-pünktlich-fertig-werden). Wir meinen aber eine Zusammenstellung von verschiedenen Themenaspekten vorlegen zu können, die dem Jubilar gefallen möge.

Ludwig Duncker war nie beschränkt auf die Grundschulpädagogik – nicht mal auf die Schulpädagogik. Die meisten seiner Arbeiten öffnen thematisch einen weiten erziehungswissenschaftlichen Horizont, viele überschreiten auch die wissenschaftlichen Grenzen des eigenen Fachgebietes und sind gewissermaßen von allgemeinem Interesse. So verwundert es nicht, dass er ständig auch Anfragen von außerhalb der akademischen Kreise bekommt. Bedingt durch unterschiedliche Denomination und Profile von Professuren, universitäre Fluktuation usw. hat er sich einer Vielzahl unterschiedlicher Aufgaben und Themen gewidmet. Allerdings dürfte jedem klar sein, der je mit ihm intensiv zusammengearbeitet hat, dass Bildungsprozesse im Kindesalter und insbesondere Fragen der ästhetischen Bildung ihm immer besonders am Herzen lagen. Und wenn er sich je auf ein bestimmtes Forschungsfeld hätte beschränken müssen - oder dürfen - wäre es dieses gewesen. So gesehen verwundert es nicht, dass die vorliegende Sammlung von Beiträgen eindeutig diesen Schwerpunkt hat. Auch dass die jüngeren Kolleginnen und Kollegen einen großen Teil des Buchs bestreiten, ist hoffentlich in seinem Sinne, denn die Nachwuchsförderung ist vor allem im letzten Jahrzehnt zu einem wesentlichen Schwerpunkt seines Arbeitsalltags geworden.

Das Werk von Ludwig Duncker, das mittlerweile mehr als 150 Publikationen umfasst, ist von einer enormen thematischen Breite und im wahrsten Sinne des Wortes einschlägig. Insbesondere als Schultheoretiker ist er aus der Fachdiskussion der letzten 20 Jahre nicht wegzudenken, und seine Stimme wird gehört und geschätzt – auch von vielen, die nicht seiner Meinung sind. Allen seinen Arbeiten ist die tiefe Verankerung in die geisteswissenschaftliche und bildungstheoretische Tradition anzumerken. Von dieser Warte aus gelingt es ihm immer wieder, aktuelle Themen quer zu denken und durch kritische Analysen den Diskurs voranzubringen. Dabei ist er nie im mainstream mit geschwommen oder hat auf irgendwelche aktuellen Modethemen gesetzt. Dagegen hat er immer wieder dazu beigetragen, sträflich vernachlässigten Themen wieder öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken und dabei auch vor unpopulären Positionen nicht zurückgeschreckt. So hat ihm zum Beispiel sein Engagement für die Hauptschule – oder besser für eine bestimmte benachteiligte Schülerklientel – auch heftige negative Reaktionen eingebracht. Indessen hat diese Arbeit nicht nur großes Echo in der Bildungspolitik ausgelöst, sondern es wurde auch in der Schulpraxis dankbar aufgenommen, dass jemand unbequeme Wahrheiten deutlich angesprochen hat – stets mit dem Ziel, konstruktiv Verbesserungsmöglichkeiten für Probleme aufzuzeigen. Auch in der Universität ist Ludwig Duncker dafür bekannt dafür, dass er problematische Entwicklungen aufdeckt und schonungslos anspricht. In seinem eigenen Wirkungskreis entwickelt er schnell Ideen, um mögliche und manchmal auch scheinbar unmögliche Lösungen zu finden, was in den Mühlen eines Verwaltungsapparates mit allen politisch Verwicklungen sehr viel Kraft kostet und manchmal ein gesundes Maß an Cervantischen Humors bedarf.

Für all dieses wissenschaftliche und hochschulpolitische Engagement gilt es sich bei einem solchen Anlass zu bedanken, denn dieses hat schließlich nicht selten dazu gedient, uns als Nachwuchswissenschaftlern eine Perspektive zu bieten, unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern und uns vieles zu lehren. Möge Ludwig Duncker es zukünftig genießen, immer mehr Freiheit vom Joch der Verwaltung zu haben und sich nur noch den Dingen zu widmen, die ihm wirklich am Herzen liegen. Wir wünschen alles Gute und hoffen auf viele weitere inspirierende Beiträge, in den nächsten Jahren im Amt – und hoffentlich auch noch lange darüber hinaus.

Gießen, November 2011

Antje Danner, Peter Gansen,
Corinna Heyd und Gabriele Lieber

Kapitel I

Perspektiven der Bildungstheorie

und Didaktik

Bildung und Dekonstruktion. Überlegungen zu einer poststrukturalistischen Bildungstheorie

Hermann J. Forneck

Strukturtheoretische Verortung des Bildungsbegriffs

Versteht man, wie dies im Folgenden in Anlehnung an Foucault geschehen soll, Bildung als Pastoralmacht, in deren Mittelpunkt die ‚Regierung der Seelen’ steht, so sind pädagogische Verhältnisse nicht als determinierte Zwangs- oder Gewaltverhältnisse, sondern als strategische Machtbeziehungen konzipiert, die offen bleiben für ihre Umkehrung oder Veränderung. Damit wird auch unterstellt, dass alle beteiligten Akteure ihren Beitrag zur Konstituierung bestimmter Formen der Machtbeziehungen leisten und diese nicht per se negativ konnotiert sind. Vielmehr geht es in pädagogischen Verhältnissen immer auch um die Aufrechterhaltung der ‚Macht des Anderen’ und damit um den Versuch, das Erstarren der Machtbeziehungen zu verhindern“ (Kobbé 1998, S. 13). In der Moderne ist pädagogische Gouvernementalität in ein Fortschrittskonzept eingebettet, welches Strukturbildungen immer mit einer Dynamisierung verknüpft. Zumindest programmatisch ist die Einschreibung von Struktur und Praktiken, in die es in der Generationenfolge geht, immer begleitet von deren Infragestellung. Insofern ist Kritik ein konstitutives Moment moderner Gesellschaften, als sie die Voraussetzung für die Weiterentwicklung der überkommenen Struktur und der diesen korrespondierenden Praktiken ist. Lernen wird im Folgenden als eine Strukturierungsaktivität verstanden, die von gegebenen Strukturierungen ausgehend diese neu arrangiert und umarbeitet (Wrana 2008, S. 64ff) und die zu Praktiken führt, die den Lernenden vorher nicht möglich waren. Diese Aktivität wird in der hier angelegten Perspektive dabei nicht klassisch bildungstheoretisch, also von einem aktiv handelnden Subjekt her gedacht, sondern aus einer gouvernementalen Perspektive als kulturelle Praktiken des Strukturierens verstanden. Mit diesen Strukturierungsleistungen ergeben sich dann die kulturellen Bedeutungen des Gelernten. Wenn wir von erfolgreichem Lernen sprechen, realisieren Lernende eine spezifische Lesart (Forneck 2006, S. 34; vgl. Wrana 2008, S. 71), in der Lernende verschiedene, in didaktischen Arrangements angeregte, Elemente miteinander verbinden, also eine Struktur bilden und so zu einer Deutung eines Lerngegenstandes kommen. Aber diese Strukturbildung ist weder determiniert, noch beliebig. Sie wird dadurch Leistung eines gesellschaftlichen Subjekts. Somit darf die Struktur des Lerngegenstandes nicht in sich geschlossen, sondern muss so offen sein, dass verschiedene Lesarten möglich bleiben. In den Praktiken des Lernens soll so die Vermittlung kulturell bedeutsamen Wissens bereits dynamisiert werden. Im Lernen ist bereits das Nichtidentische das Ursprüngliche. Jede Strukturbildung soll somit ihre Dekonstruktion enthalten. Es soll mit Hilfe von Lernpraktiken zu einer Balance von Identität und Nichtidentität kommen, die allererst ermöglicht, dass sich das autonome Subjekt in Bildungsprozessen konstituiert. Die Moderne setzt zu ihrer Selbsterhaltung auf eine fluide Strukturierung. In den so entstehenden Räumen des nicht vollständig Bestimmten, zwischen Freiheit und Determination, kann sich eine Subjektivierung vollziehen, die den Schein eines autonomen Subjekts hervorbringt.

Differenz von Strukturbildung und Dekonstruktion

Diese gouvernementalitätstheoretischen Nachzeichnungen einer bildungstheoretischen Programmatik müssten sich nun in den konkreten Lernpraktiken und in den Praktiken der schulischen Arrangements auch wiederfinden lassen.

Nun zeichnen sich jedoch vor allem schulische Lerngegenstände durch einen hohen Grad an Strukturiertheit aus. Schulische Lerngegenstände sind oft idealisierte Lerngegenstände, in denen differenztheoretisch formuliert, also im Sinne Derridas, das Ausgeschlossene unsichtbar ist. Dies erreicht man pädagogisch mit verschiedenen didaktischen Praktiken. Eine dieser ’Idealisierungspraktiken’ besteht in der Entkopplung von alltäglichen Phänomenen und dem schulischen Wissen. Diese ‚Idealität’ nun wird durch ein entsprechendes didaktisches Arrangement nochmals verstärkt. Didaktik ist in diesen Fällen eine professionelle Disziplin. Sie versucht Lesarten über die Vorgabe von Lernpraktiken nochmals einzuschränken und so Inkommensurabilität nicht entstehen zu lassen. Nun könnte man der schulischen Praxis ihren eigenen Begriff vorhalten, wie dies etwa Heydorn tut, in dem er den Widerspruch von Bildung und Herrschaft in eine Kritik empirischer pädagogischer Verhältnisse mit Hilfe eines bürgerlichen Bildungsbegriffs transformiert.1 Aber damit gerät man in ein doppeltes Dilemma. Gouvernementalitäts-theoretisch betrachtet wird man mit einer solchen Kritik in die grundlegende Strukturbildung des modernen Bildungsbegriffs inkorporiert und zum Bestandteil eines Diskurses, der seit der bürgerlichen Moderne die Pädagogik auszeichnet: Gegen ihre (schlechte) empirische Realität hat die Disziplin immer ihre Antipode hervorgebracht. Diese kritische Antipode ist inzwischen auch als Reformpädagogik disziplinär verortet. (Oelkers 2005). In diese Struktur des Bildungsbegriffs eingebunden, wird man unfähig zu einer Analyse dieser antinomischen Struktur der Humanreproduktion moderner Gesellschaften. Die (schlechte) empirische Realität folgt nämlich, analysiert man die Logik strukturbildender Praktiken, nicht einer Herrschaftslogik sondern einer Eigenlogik pädagogischer Praktiken der Strukturierung, so die These, die im Folgenden verfolgt werden soll. Praktiken der Strukturierung sind notwendigerweise different zu Praktiken der Dekonstruktion.

Strukturbildung

Pädagogische Praktiken der Strukturbildung zielen darauf, eine durch kulturelle Wissensbestände tradierte Struktur in die (Denk)Handlungen von Menschen einzuschreiben. Einschreibung muss nicht identisch mit Passivität sein. Diese Frage von Aktivität versus Passivität soll hier nicht weiter verfolgt werden. Sie ist in den Arbeiten von Forneck und Wrana (Forneck 2006 und Wrana 2008) behandelt. Strukturbildungen sind Prozesse, die von Lernenden eine Verknüpfung von Elementen verlangen, die kulturell als Sachverhalte gelten. Kulturelle Sachverhalte wiederum sind bedeutungs- und somit voraussetzungsvoll. Verfahren zur Lösung einer ‚Gleichung mit zwei Unbekannten’ setzen eine große Zahl von mathematischen Praktiken voraus. Diese wiederum schreiben z.B. kulturelle Werte in die Menschen ein. Im Falle der Mathematik wären dies die Exaktheit bestimmter Praktiken, die wiederum ihre Reproduzierbarkeit garantieren. Die gelingende Reproduktion wiederum soll eine bestimmte Form moderner Rationalität in die Menschen einschreiben, von der angenommen wird, dass sie lebenspraktisch wird. Diese Einschreibungen allerdings gelingen nur, wenn Lernende, so die Unterstellung, diese Praktiken ‚beherrschen’. Es ist evident, dass ein umfassender schulischer Kanon ein umfassendes Programm von Praktiken ergibt, deren Struktur sich in die Lernenden einschreiben muss. Diesem Programm verschreibt sich im Wesentlichen eine wissenschaftliche Disziplin, die Didaktik, die sich in eine Vielzahl von Subdisziplinen ausdifferenziert hat. Unabhängig davon, ob in den gegenwärtigen empirischen Unterrichtswirklichkeiten Sachverhalte (Elemente) in einer angemessenen Form mit Praktiken der Strukturbildung verknüpft werden, unterliegen Strukturbildungen einer sie auszeichnenden Logik. Elemente werden hier zu einer Struktur zusammengefügt, die bei Gelingen die Lösung eines Problems ermöglicht, die weiter das Verstehen dieser Lösung erlaubt, also zur Bildung einer Metastruktur führt und die drittens als Element einer weiterführenden Strukturbildung dient. Strukturbildungen erschließen kulturelle Bedeutungen, schaffen motivational bedeutsame Selbstwirksamkeitserlebnisse, die sich zu Selbstwirksamkeitspraktiken entwickeln können und sie erlauben eine Teilhabe an kulturell etablierten Diskursen. Ist diese Logik etabliert, gibt es keinen Grund, diese Strukturierung irritieren zu lassen. Aus der Perspektive von Lernenden und Lehrenden erscheinen Strukturbildungen als das, was sie bildungstheoretisch sind: Praktiken, denen man sich unterwerfen muss, um an der Vielzahl gesellschaftlich etablierter Praktiken und Diskurse teilnehmen zu können. „Am Ende winkt Freiheit, nach schwerem Ringen um die Verwirklichung, …“ (Heydorn 1972, S. 7).

Ein Weiteres kommt hinzu. Das Feld der kulturell bereits erfolgreich etablierten Strukturen ist nicht nur eine Ansammlung von Strukturen, sondern diese sind auch parzelliert. Jeder Struktur ist eine weitere nachgeordnet, die im Kanon höherwertig angesiedelt ist, insofern eine vorhergehende Strukturbildung Element der neu zu erwerbenden ist. Das Feld der kulturell bereits erfolgreich etablierten Strukturen ist nun nicht nur parzelliert sondern darüber hinaus auch weit. Auf ihm kann sich pädagogisches Geschehen lebenslang abspielen, ohne dass Strukturbildungen in Frage gestellt werden müssten. Die Kritik von Strukturbildungen aber, die z.B. in einem empathischen Begriff von Selbststeuerung das ganze Arsenal moderner pädagogischer Gouvernementalität im Namen der Autonomie des lernenden Subjekts ausschalten will, verwechselt institutionelle mit nicht institutionellen, occasionellen Lernprozessen. Das jedoch ist insofern eine barbarische Verwechslung, als sie blind ist gegen die Dignität kultureller Strukturbildungen einerseits und gegen die Funktion pädagogischer Institutionen andererseits.

Die pädagogischen Strukturierungspraktiken stellen die wesentlichen Parameter organisierter Bildungsprozesse und damit das eigentliche professionelle Handlungsfeld dar. Das sind: Stoffauswahl, Beurteilungsmaßstäbe, Zeitbedarf, Arbeitsweisen. Letztere werden dann nochmals ausdifferenziert in Unterrichts- und Sozialformen, letztlich in ein für die Pädagogik inzwischen unüberschaubares Methodenrepertoire.

Im Kern besteht das eigentliche Professionskönnen aus der Fähigkeit, Lehr- und Lernprozesse optimal zu planen, zu gestalten und die eigene Person als wichtigstes Medium in diesem Prozess sinnvoll einzusetzen. Die Professionalisierungsstrategien der siebziger und achtziger Jahre zielten nur darauf, qua wissenschaftlicher Ausbildung die entscheidenden Faktoren von Lehr-Lernprozessen zu verbessern, indem sie einmal die Lehrfähigkeit der Lehrenden und zum andern die methodischen Gestaltungsqualifikationen entwickeln sollten. Damit handelte man sich eine weitreichende Implikation ein. Die Verfügung über die Gestaltung von Lernprozessen wurde verstärkt in die Verantwortung der Profession genommen, die alltäglichen Fähigkeiten und Problemlösekapazitäten im Zuge der Professionalisierung aus der Lebenswelt ins System überführt.

Nun soll die Logik professioneller Strukturierung des Lehr- Lernprozesses mit der Etablierung selbstgesteuerten Lernens, bleibt man auf der programmatischen Ebene, umgekehrt werden. Überall liest man Aussagen wie diese: "Der Lehrer wird vom Wissensvermittler zum Moderator/ Organisator für die Teamarbeit …" (Kuss 1996, S. 184), was natürlich impliziert, dass es die Teilnehmenden sind, die über ihre Lernprozesse bestimmen. Diese können professionell allenfalls moderiert oder begleitet werden.

Damit werden jene Parameter von formalisierten Bildungsprozessen, die qua Professionalisierung und Verwissenschaftlichung ‚rationaler’ gestaltet werden sollten, in die Verfügungsgewalt der Lernenden transferiert.

Wenn nun mit Hilfe des selbstgesteuerten Lernens die Verfügung über diese Parameter aus der Profession zurück in die Verfügung der einzelnen Individuen gelegt werden soll, so impliziert dies eine Individualisierung des Lernens. Diese ist aber nicht mit dem Individualisierungsbegriff, wie er in der bisherigen didaktischen Diskussion verwendet wurde, zu verwechseln. Dort meint Individualisierung einen Qualitätsanspruch an geplante Lehrprozesse, die so gestaltet sein müssen, dass sie auf die Spezifik der Individuen in der Weise zugeschnitten sind, dass sie das Lernen dieser Individuen optimal fördern. Individualisierung im Zusammenhang mit selbstgesteuertem Lernen ist hingegen ein notwendig ablaufender und intendierter Prozess, in dem die Lernprozesse durch die individuellen Möglichkeiten und Begrenzungen der Lernenden bestimmt werden. Die Bestimmung dieses Lernprozesses soll ja gerade nicht mehr bei der Profession liegen, sondern, so die Programmatik, bei den Subjekten selbst.

Bildung aber setzt einen Konsens über die Bildungsintentionen voraus, mit und an denen Menschen sich abarbeiten können sollen. Bildung soll so die subjektiven Voraussetzungen der Gesellschaftsmitglieder aufrechterhalten, um sich miteinander über wesentliche Fragen des Gemeinwesens verständigen zu können. Allgemeinbildung ist dann eine für alle gleichermaßen geltende Zumutung einer kulturell geteilten Emanzipationsvorstellung, die die Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern durchsetzt. Bildung hat dann die widersprüchliche Aufgabe, sowohl Individuation als auch Vergesellschaftung zu fördern. Der Begriff des selbstgesteuerten Lernens wird also nicht an ein anspruchsvolles aufklärerisches Projekt gebunden, sondern an den eines empirischen, affirmativen Selbst (vgl. Griese 1998, S. 134 f.).

Dahinter verbirgt sich eine grundlegende Veränderung des Freiheitsbegriffs. Dieser wird nicht mehr als Vermögen der Person gedacht, qua Aneignung einer kulturellen Identität sich selbst zu gestalten und diese vorgefundene Wirklichkeit weiterzuentwickeln. Freiheit wird vielmehr als Wahlmöglichkeit begriffen, also apriorisch gedacht. Sie ist nicht mehr ein Vermögen, das durch die sich bildende Person in dieser allererst hervorgebracht bzw. immer wieder neu aufrechterhalten und zugleich weiterentwickelt werden muss. Der dem bildungstheoretischen Denken noch zugrundeliegende Freiheitsbegriff wird abgelöst durch eine Freiheitsvorstellung, nach der Lernende dann frei sind und bleiben, wenn sie zwischen verschiedensten Angeboten (Inhalten, Kurstypen, Dozierenden, Einrichtungen mit besonderem Profil, Lernwegen, Lernformen) wählen können.

'Teilnehmerorientierung‘, 'Subjektorientierung‘, 'Zielgruppenorientierung‘ sind Begriffe, mit denen der Diskurs spezifische Verfahren der Geltung von professionellem Handeln und Teilnehmer/innenhandeln festgelegt hat. 'Selbstgesteuertes Lernen‘ nun – und das ist die neue Operation – verortet mit Hilfe eines veränderten Freiheitsbegriffs das Subjekt nicht im institutionalisierten Bildungsbereich, sondern als diesem gegenüberstehend, als das Andere dieses Bereichs. Das aber impliziert mitnichten, dass selbstorganisierte oder –gesteuerte Lernprozesse selbstbestimmter sind. Im Gegenteil: Die Programmatik des 'selbstorganisierten Lernens‘ erzeugt die Illusion, Lernen und Bildung ließen sich jenseits von Macht und damit jenseits von kultureller Strukturierung überhaupt denken.

Die ausgeschlossene Struktur

Dem bildungsbürgerlichen Denken ist die Logik der Strukturbildung in einem parzellierten Feld bewusst. Die Kanonisierung und Parzellierung der durch Lernende zu leistenden Strukturbildungen sind auch keine Fehlentwicklungen, sondern folgen einer Logik, die bisher nur unvollständig skizziert wurde. Die dem bildungstheoretischen Denken innewohnende bipolare Grundstruktur wird in den etablierten pädagogischen Verhältnissen durch eine Differenz abgebildet, in der Fächer der strukturbildenden Seite und wiederum Fächer der Seite jenseits fester Strukturbildungen zugeordnet werden. Ästhetische Bildung gilt als ein solches Fach jenseits fester Strukturbildungen. Ist die Schulmathematik wesentlich von der Irritation einer möglichen Dekonstruktion frei, so verschiebt sich die grundlegende antinomische Struktur des bildungstheoretischen Diskurses bei der ästhetischen Bildung in das Fach hinein. Dies soll im Folgenden an der Anthropologie des Ästhetischen von Seel skizziert werden.

Seel unterscheidet drei Dimensionen ästhetischer Wahrnehmung als einer Praxis des Weltbezugs (Seel 1991), wobei er Wahrnehmung als eine Handlung begreift.

In der ‚korrespondiven Wahrnehmung’ erfassen Menschen Bedeutungen, die ästhetische Gegenstände kulturell haben. Hier nehmen Menschen die Stimmungen, die Musik oder Malerei ausdrücken, wahr. Diese Wahrnehmung soll dann darüber hinausgehend in eine Relation mit der ‚Lebenskonzeption’ (Seel) des ästhetisch wahrnehmenden Menschen gesetzt werden. Korrespondieren ästhetischer Gegenstand und Lebenskonzeption, so ist die korrespondierende Wahrnehmung nach Seel gelungen.

In der ‚kontemplativen Wahrnehmung’ lernen Menschen, ohne jede Bedeutung wahrzunehmen.

Die ‚imaginative Wahrnehmung’ ist eine, die aus der kontemplativen heraus, Projektion der imaginierten Handlung auf Erscheinungen der Welt realisiert (Seel 1991, S. 146). Dabei spielt es keine Rolle, ob dies durch die Wahrnehmung eines Werks geschieht oder durch die eigene Kunstproduktion. In diesen drei Dimensionen kommt nach Seel ein Eigensinn der ästhetischen Rationalität zur Geltung, der sich durch das Fehlen ‚inhaltlicher Konstanten’ auszeichne. Allerdings wandeln sich bei Seel die Dimensionen ästhetischer Wahrnehmung in einer didaktischen Wendung in ein Artikulationsschema.

Es ist offensichtlich, dass in der ersten und dritten Dimension Strukturbildungen eine ganz zentrale Rolle spielen. Die ästhetische Expressivität von Stimmungen verdankt sich ja einer spezifischen Struktur ästhetischer Objektivationen. Diese wiederum muss man ‚lesen’ lernen, was wiederum nur möglich ist, wenn man das kulturell hervorgebrachte Repertoire als ein auch für das eigene Leben bedeutsames wahrnimmt. Die Entwicklung eines ästhetischen Weltbezugs, die sich nicht jenseits kultureller ästhetischer Objektivationen vollzieht, macht die Entwicklung kulturell etablierter Praktiken der Wahrnehmung und kulturell etablierter Selbstpraktiken, also Strukturbildungen, notwendig.

Aber ästhetische Wahrnehmung hat kein Zentrum. Jede ästhetische Expressivität kann als Dekonstruktion einer anderen verstanden werden. Strukturbildung und Dekonstruktion sind bei Seel in einen Prozess gebracht, der sich in zwei Stufen - kontemplativ und imaginativ - vollziehen soll. Klangwelten ohne Bedeutung wahrzunehmen, heißt allerdings, ihnen eine neue Bedeutung (die einer reinen Klangwelt) und damit Struktur zu geben. Aber diese Strukturbildung ist nicht durch eine vorhergehende in dem Sinne determiniert, dass letztere aus ersterer empirisch oder logisch folgt und so ist der imaginative Weltbezug auch realisierbar, ohne dass er auf die Ausdifferenziertheit der ästhetischen Expressivität, also Strukturbildung, zurückgreifen muss. Das allerdings wird nur dadurch erreicht, dass im schulischen Lernen die ästhetische Wahrnehmung radikal subjektiviert wird. Es geht um individuelles Erfülltsein, die situative Attraktivität und singuläre Schönheit, also um erfüllte, selbstzweckhafte Handlungen (Wallbrunn 2006). Das Seel’sche Artikulationsschema versucht auf der zweiten Stufe, der Kontemplation, jede durch die Moderne hervorgebrachte ästhetische Strukturierung und die dazu notwendigen Praktiken auszuschließen. Die ‚imaginative Wahrnehmung’ im Sinne Seels ist also nur dadurch möglich, dass die Projektion der imaginierten Handlung auf Erscheinungen der Welt unter Ausschluss der Standards moderner ästhetischer Expressivität geschieht. Mit Hilfe der Illusion einer strukturlosen Struktur (Kontemplation), die am Ausgangspunkt einer ästhetischen Handlung stehen soll, kann der individuellen Strukturierung ein Eigenwert zugemessen werden. Während im Mathematikunterricht die Praktiken kulturell etablierter Strukturen und die damit verknüpften genau festgelegten Praktiken in die Lernenden eingeschrieben und die individuellen Strukturierungen immer an den kulturellen Standards gemessen werden, werden in der ästhetischen Bildung die kulturellen Standards von der ersten zur zweiten Stufe in der Konzeption von Seel ausgeschlossen.

Eine solche Form ästhetischer Bildung ignoriert darüber hinaus die aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammende Einsicht Bourdieu’s dass ästhetische Expressivität "als Produkt einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen" in unserer Gesellschaft auf Merkmale bestimmter sozialer Gruppen hin (Bourdieu 19832, S. 18f., 104ff.) zu verstehen ist. Nur wer sich ästhetische Codes angeeignet hat (Bourdieu 1973, S. 96), kann kulturelle und künstlerische Äußerungen entschlüsseln. Ohne die Kenntnis kulturell etablierter ästhetischer Strukturierungsleistungen sieht man in einem abstrakten Gemälde nichts. Aus ästhetischem Unverständnis, so Bourdieu, erwachse "ästhetische Intoleranz" (Bourdieu 19832, S. 105). Was aber erwächst aus einer ästhetischen Bildung, die unter Ausschluss kultureller Standards jedes ästhetische Urteil und jede ästhetische Äußerung als gleichgültig ansehen muss, weil die kulturellen ästhetischen Standards ausgeschlössen sind? Peez weist darauf hin, dass sich die Beteiligten in einem solchen Fall auf ästhetischem Gebiet fremd bleiben (Peez 1994, S. 336). Wird diese Gleichgültigkeit der ästhetischen Urteile und Ausdrücke zum Prinzip erhoben, also als Ausdruck kultureller Toleranz gewertet, dann entsteht erst die schulische Bedingung für das, was Bourdieu die feinen Unterschiede nennt. Subkulturelle ästhetische Mileus werden einem sozialstratifikatorischen Werteschema zugeordnet und zu unfeinen Unterschieden. Ästhetische Toleranz wird dann zu einem Moment von Herrschaft.

Der Kanon und die Dekonstruktion

Unterstellen wir die Geltung der eingangs gemachten bildungstheoretischen Skizze, dass sich in den Räumen des nicht vollständig Bestimmten, zwischen Freiheit und Determination, eine Subjektivierung vollziehen kann. Dies impliziert in Übereinstimmung mit einem bildungstheoretischen Denken, dass sich weder in der reinen Strukturlosigkeit noch in der reinen Determination angemessene Subjektivierungen vollziehen. Die widersprüchlichen Bestimmungen pädagogischen Denkens lösen sich auf, wenn man einen angemessenen Strukturbegriff hat.

Der Strukturbegriff ist in der Erziehungswissenschaft bereits einmal in den siebziger Jahren rezipiert worden. In einem von Lenzen herausgegebenen Sammelband wird kritisch nach der Relevanz strukturalistischer Theorien für die Erziehungswissenschaft gefragt. Der Herausgeber weist in diesem Band darauf hin, dass Gegenstände sozialer Herkunft neben ihrer Oberflächenstruktur eine „zweite Struktur, die kognitive Tiefenstruktur jener Subjekte, die das Oberflächenphänomen generiert haben“, aufweise (Lenzen 1976, S. 12). Unabhängig davon, ob es tatsächlich die Subjekte sind, die die Tiefenstruktur generieren, lenkt Lenzen die Aufmerksamkeit auf die Aufgabe einer strukturalen Methode: Die „Erschließung oder besser: Rekonstruktion der den Oberflächenstrukturen zugrunde liegenden Tiefenstrukturen stellt nun die eigentliche Aufgabe der strukturalen Methode dar." (Lenzen 1976, S. 13). Strukturen sind bei Lenzen die Relationen zwischen den Elementen eines Systems. In der didaktischen Theoriebildung finden wir in den siebziger Jahren auch strukturale Überlegungen zur Struktur einzelner Wissenschaften, die dem Strukturbegriff Lenzens entsprechen und die der Strukturanalyse eine spezifische Aufgabe im Prozess der didaktischen Transformation zuschreiben: „Die Bedeutung … für Erziehung liegt klar genug auf der Hand. Diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen zu bestimmen, die gegenwärtiges Wissen und Beherrschung der Welt konstituieren, heißt den Gegenstand von Bildung und Erziehung zu bestimmen, das Material, das deren Mittel und Aufgaben ausmacht." (Schwab 1972, S. 33). Das Problem dieses ‚frühen’ Strukturbegriffs liegt darin begründet, dass er noch der aristotelischen Logik, wie Eco dies genannt hat (Eco 1985, S. 92 ff.), verpflichtet ist. In ihm sind die Relationen zwischen Signifikanten und Signifikaten logisch geordnet, jede Ebene und die Relationen zwischen den Elementen sind eindeutig definiert und die Strukturen werden als Eigenschaften der Realität aufgefasst.