Frieda liegt in den Wehen und erwartet Zwillinge. Die Hebamme sitzt am Fußende vom Kreißbett und strickt dicke Socken für den Winter.
Wilhelm, der Ehemann läuft ungeduldig auf den langen Korridor auf und ab und Schwester Martha kommt gerade daher, um nach dem Patienten zu sehen.
Sie ist sehr resolut und Oberschwester von der Gynäkologie.
”Schwester, wie geht es meiner Frau? Es dauert schon solange.”
“Mein Herr, die Kinder kommen wann es ihnen danach ist. Da kann man auch nicht die Geburt beschleunigen.”
“Was ist, wenn Komplikationen auftreten?”
“Hier kommen alle Kinder normal auf die Welt. Am Besten gehen sie nach Hause und kommen später wieder.”
“Nein, ich bleibe hier bei meiner Frau.”
“Ich kann es Ihnen nicht verbieten.”
Schwester Martha ließ Wilhelm stehen und eilte in den Kreissaal. Polternd in ihrer Art, öffnet sie die Tür.
”Wie weit ist die Patientin“, fragte Schwester Martha.
“Es geht nicht so voran wie es sollte. Die Patientin ist schon sehr geschwächt. Lange hält sie nicht mehr durch.“
Plötzlich schreit Frieda voller Schmerz auf. Hedwig sah noch einmal nach der Öffnung vom Muttermund und musste feststellen, dass das Köpfchen schon zu sehen war.
“ Frau Winter, sie müssen jetzt alle Kräfte zusammen nehmen, das Kind ist gleich da.”
Frieda presste so gut sie konnte und die Geburt ging nun doch gut voran. Hedwig entband ein Mädchen. Sie hielt die Kleine an den Beinen und klopfte ihr aufs Hinterteil. Der erste Schrei ertönte.
Der Säugling wurde gründlich untersucht, gebadet und angezogen.
Wilhelm konnte es kaum abwarten, dass man ihn endlich benachrichtigte. Schwester Martha kam kurz heraus.
”Mein Herr, Sie haben eine Tochter.
Wie soll das Kind heißen?”
Wilhelm sagte spontan “meine Tochter bekommt den Namen Philomene.”
“Danke, Herr Winter, Ihre Tochter ist gesund, aber um Ihre Frau mache ich mir Sorgen.
Das zweite Kind muss auch noch geholt werden.“
Schwester Hedwig rief Schwester Martha zur Hilfe.
”Ich muss wieder in den Kreissaal.”
Mit diesen Worten ließ Schwester Martha Wilhelm wieder allein zurück. Wilhelm sah aus dem Fenster in den Wald hinein. Inzwischen war das zweite Kind im Geburtskanal. Frieda nahm noch einmal alle Kräfte zusammen und presste bis zur Ohnmacht. Nun konnte Schwester Hedwig auch das zweite Kind entbinden.
”Hier haben wir noch ein Mädchen”, sagte Schwester Hedwig freudig.
Wieder der gleiche Ablauf, bis Frieda versorgt werden konnte.
Schwester Martha teilte nun dem ungeduldigen Vater mit, dass ein weiteres Mädchen geboren sei.
”Herr Winter, wie soll dieses Mädel denn heißen?”
“Ihr Name soll Elisa sein.”
“Da haben sie aber schöne Namen gewählt. Ich werde die Zwillinge gleich beim Standesamt anmelden.
Sie können beruhigt nach Hause gehen. Ihre Frau braucht jetzt Ruhe. Das verstehen sie doch, nicht wahr?”
“Selbstverständlich, Schwester. Danke für alles. Ich komme morgen wieder.”
“Das wird wohl das Beste sein. Sie brauchen auch Ruhe und ihre Frau braucht ihre Unterstützung.”
”Sie haben Recht, Schwester. Danke bis morgen. Auf wieder sehen.”
“Schwester Martha, schnell kommen Sie. Frau Winter geht es sehr schlecht.”
Über das Haustelefon beorderte sie den Dienst habenden Arzt. Dr. Wolters kam eilends herbei und sah den Ernst der Lage. Er gab ihr eine Spritze und noch weitere Verordnungen. Hedwig verstand die Welt nicht mehr, dass Dr. Wolters nichts weiter unternommen hatte. Frieda war inzwischen ins Koma gefallen.
”Was machen wir jetzt?”
Martha entschied, dass Wilhelm eine Entscheidung treffen sollte. Wilhelm hatte keine Ahnung und erzählte überall von seinen wunderschönen Zwillingen. Er kehrte in ein Bauernstübchen ein und trank einen Schoppen Wein.
Friedas Zustand war äußerst kritisch. Dr. Wolters sah noch einmal nach der Patientin. Er fühlte den Puls und hob beide Augenlider hoch. Er sah resigniert zu Schwester Hedwig und schüttelte den Kopf.
”Die armen Würmchen, kaum auf der Welt und dann gleich Halbwaisen.”
”Liebe Schwester Hedwig, ich bin auch nicht glücklich über die Lage. Die Medizin ist leider noch nicht auf den neuesten Stand. Immerhin schreiben wir das Jahr 1864.
Fünfzig oder Hundert Jahre weiter werden die Menschen nicht mehr so wegsterben.”
“Der arme Vater! Nun muss er sich um alles Weitere kümmern. Eine Kinderbewahranstalt sind wir schließlich nicht.”
Hedwig ging noch einmal zu Frieda und sah, dass sie gerade verstorben war.
Das Pflegepersonal von der Station brachte Frieda herunter in den Keller, wo sie aufgebahrt wurde.
Wilhelm schlief sehr unruhig und hatte Mühe, sich auf seinen Arbeitsplatz zu konzentrieren der hatte schon einen gehobenen Posten bei der Post.
Irgendwie fühlte er, dass etwas nicht in Ordnung war.
Ein kalter Windzug zog durch den Raum.
”Nanu? Wo kommt denn die Kälte plötzlich her?”, sagte er zu sich selbst. Draußen schien die Sonne. Es war ein goldener Oktobertag.
Plötzlich stand Frieda vor ihm und wie erstarrt stand Wilhelm hinter seinem Schreibtisch.
”Frieda?”
“Wilhelm! Bitte hör mir genau zu. Du musst die Zwillinge in gute Obhut geben. Bringe sie ins Kloster Heisterbach.
Du musst jetzt sehr stark sein.”
Wie in Luft löste sich dieses Bild wieder auf. Wilhelm hatte keine Ruhe mehr und eilte zum Chef.
”Ich muss sofort in die Klinik. Irgendetwas stimmt mit meiner Frau nicht.
”Herr Winter. Nehmen sie ruhig frei. Meine Empfehlungen an ihre Gemahlin und gute Besserung.”
”Danke, Chef. Ich gehe sofort ins Krankenhaus.”
Mit großer Besorgnis lief Wilhelm zum Krankenhaus.
Ganz außer Atem erreichte er die Station. Schwester Martha kam gerade durch den Flur ihm entgegen.
“Herr Winter, bitte kommen sie ins Schwesternzimmer“, befahl sie. ”Ich will erst zu meiner Frau und meinen Kindern”, antwortete Wilhelm bestimmt.
Schon machte er sich auf die Suche. Martha lief ihm hinterher und rief:
”Herr Winter, ich muss ihnen etwas Trauriges mitteilen.
Bitte kommen sie mit mir, damit wir in Ruhe reden können.”
”Was ist mit meiner Frau?” Schwester Martha sah ihn mitleidig an und sagte dann:
”Herr Winter. Ihre Frau ist gestern Nacht verstorben. Sie war zu schwach. Wir konnten nichts mehr für sie tun.”
Wilhelm saß wie versteinert da und vergrub sein Gesicht hinter seinen Händen. Mit Tränen in den Augen blickte er auf und fragte, was nun aus den Kindern werden sollte.
”Herr Winter, wir sind keine Bewahranstalt. Sie müssen die Kinder ins städtische Kinderheim bringen, oder von Verwandten großziehen lassen.”
“Leider gibt es bei uns keine lebenden Verwandten, aber Kinderheim, das kommt nicht in Frage.”
“Wie wäre es mit dem Kloster?”
“Das käme schon eher in Frage. Können sie da etwas in die Wege leiten?”
“Selbstverständlich helfen wir ihnen gerne. Solange können die Zwillinge in unserem Hause bleiben. Gleich heute werde ich verschiedene Klöster konsultieren.
Kommen sie morgen Nachmittag vorbei. Vielleicht kann die Verlegung der Kinder schon erfolgen.”
“Danke, Schwester Martha. Sie sind sehr gütig.
”Schweren Herzens verließ Wilhelm das Krankenhaus, ohne seine Kinder gesehen zu haben.
Kopflos lief er durch die Gassen ohne nach rechts oder links zu blicken.
Eine vertraute Stimme rief ihn in die Wirklichkeit zurück.
”Herr Winter. Was ist mit ihnen?”
Wilhelm schaute seinem Chef in die Augen und dieser verstand die Situation.
”Es tut mir so leid für sie. Nehmen sie sofort Urlaub und regeln sie ihre persönlichen Verhältnisse. Melden sie sich einfach bei mir, sobald sie wieder in der Lage sind zu arbeiten. Tröstend legte er’s eine Hand auf Wilhelms Schulter. Wilhelm sah auf und nickte stumm.
Dann eilte er schnellstens nach Hause, denn er musste jetzt alleine sein mit seinem Schmerz.
An den nächsten Tag lief Wilhelm mit schleppenden Schritten zur Klinik.
Dort angekommen eilte er gleich zu Schwester Martha.
Die Tür zum Büro war halb offen.
”Kommen sie herein, Herr Winter. Ich habe gute Nachrichten für sie. Die kleinen können sofort ins Kloster Magdalena gebracht werden. Dort sind die kleinen Engel gut aufgehoben. Zufällig kenne ich die Oberin. Was halten sie davon? Bedenken sie, dass das Kloster hier ganz in der Nähe ist und sie ihre Kleinen öfter besuchen können.”
“Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Vielen herzlichen Dank, Schwester. Sie sind zu gütig. Bitte veranlassen sie alles, was notwendig ist.”
“Gut, dann werde ich die Kinder fertig machen lassen und eine Kutsche bestellen. Natürlich begleite ich sie, Herr Winter.”
Während Wilhelm im Büro wartete, gab Schwester Martha auf der Säuglingsstation grünes Licht.
Die Säuglingsschwester zog die Mädchen an und packte sie reisefertig ein. Schwester Martha holte sie von der Station und brachte sie herunter, wo Wilhelm schon wartete. Voller Sehnsucht sah er auf seine kleinen Prinzessinnen, nahm sie in den Arm und herzte sie.
”Wie schön sie doch sind”, sagte er mit erstickter Stimme und konnte seinen Blick nicht von ihnen abwenden.
”Herr Winter. Die Kutsche ist gerade vorgefahren. Es wird Zeit.”
So stiegen sie in die Kutsche. Schwester Martha und Wilhelm trugen jeder einen von den Zwillingen.
Die Fahrt dauerte vielleicht nur zehn Minuten, bis sie vor dem großen Tor des Klosters hielt. Der Kutscher sprang herunter und öffnete die Tür. Er verbeugte sich und half beim Aussteigen. Wilhelm bedankte sich und sah etwas entgeistert auf das große Eisentor.
” Das kommt einem ja vor wie eine Festung!”
Schwester Martha klopfte an das Eisentor mit dem großen Ring, der dazu diente.
Nach kurzer Zeit öffnete eine sehr liebenswerte, warmherzige Ordensfrau.
“Oh, da sind die kleinen armen Wesen. Kommen sie bitte herein. Die Kleinen haben bestimmt Hunger, nicht wahr?”
Wilhelm und Martha folgten der Oberin ins Kloster durch die langen Gänge. Da kamen schon die angehenden Novizinnen, die von der Oberin gleich vorgestellt wurden. Angela wurden die Zwillinge anvertraut.
Sie sollte die Bezugsperson sein und bleiben.
Die Oberin bat nun Wilhelm und Martha in ihr Büro, nachdem die Kinder versorgt waren. Von Martha wusste sie um die unglücklichen Umstände.
Sie sah Wilhelm liebevoll an.
”Sorgen sie sich nicht, Ihren Mädels soll es an nichts fehlen. Unsere Angela wird ihren Beiden eine liebevolle Mutter ersetzen. Sie können ihre Töchter sooft sehen, wie sie wollen. Haben sie noch weitere Fragen?”
“Nein, Oberin. Ich bin ihnen sehr dankbar.”
”Gut, dann wäre alles geklärt.
Die Oberin erhob sich von ihrem Stuhl und Wilhelm tat des gleichen. Schwester Martha und Wilhelm gingen zum Ausgang.
”Was habe ich gesagt?”
“Tja, sie hatten Recht, Schwester. Ich habe ein gutes Gefühl. Wie heißt eigentlich die Oberin?”
“Ihr Name ist Ludowiga.”
Die Zwillinge wuchsen unbeschwert heran und Angela war ihre Mutter. Angela war inzwischen dem Orden ganz beigetreten. Die Zwillinge schauten voller Ehrfurcht zu ihr auf.
”Mutter Angela, wir wollen auch Nonne werden.”
“Das freut mich sehr, ihr Hübschen. Seid ihr euch auch bewusst, was es bedeutet, auf allen irdischen Mammon verzichten zu müssen.”
“Das ist uns bewusst und wir wollen auch keine Reichtümer. Wir wollen nur Gutes tun und den Menschen helfen.”
“Wenn es denn so sein soll, dann lasst uns zur Oberin Ludowiga gehen.”
Ludowiga war in die Jahre gekommen und zählte schon achtzig Jahre.
Angela klopfte leise an ihrer Tür.
”Kommt herein, meine Kinder”, sagte sie mit schwacher Stimme.“
Philomene und Elisa stürmten voller Freude zur Oberin und umarmten sie.
”Nicht so wild, meine Damen mit einer so alten Dame.” ”Liebste Oberin, wir haben beschlossen, uns unseren Orden zu verschreiben.”
Ludowiga schaute angenehm überrascht und ihre Augen strahlten. Sie sah sich die Zwillinge genau an und ihre Augen wanderten im Wechsel von der Einem zur Anderen.
”Meine Herzchen, wie alt seid ihr jetzt?”
”Wir sind siebzehn Jahre alt”, kam es wie im Chor.
Die Oberin dachte kurz nach, blickte lächelnd auf und sagte:
”Euer Wunsch soll auch der Meine sein. Ich werde euch unterstützen und ich weiß, dass ihr dazu berufen seid.
Stellt euch helfend den Hilfesuchenden, tut Gutes allen Menschen.”
”Liebe, liebe Oberin, das wollen wir auch tun. Wir werden dich nicht enttäuschen.
Zehn Jahre waren seit dieser Entscheidung ins Land gezogen. Schwester Ludowika war verstorben und konnte die feierliche Weihe zur Nonne nicht mehr miterleben. Angela benachrichtigte Wilhelm, damit er bei dieser Feier dabei sein sollte.
Der Tag war gekommen, wo die Zwillinge nun ihr Gelübde ablegten. Wilhelm saß vorne in der ersten Bank, damit er alles genau sehen konnte.
In seinem Innern war er sehr stolz auf seine Töchter.
Wieder waren weitere zehn Jahre ins Land gezogen.
Wilhelm lebte auch nicht mehr. Eine neue Oberin hatte Ludowika ersetzt. Sie war auch eine Seele von Schwester. Wir schreiben das Jahr 1898. Der Postbote brachte einen Brief von einem Notar, der an Philomene und Elisa gerichtet war. Oberin Maria ließ die Zwillinge kommen.
”Elisa war verdutzt, wer ihnen da wohl geschrieben hat?
Sie klopfte an die Tür.
”Herein.” Elisa öffnete.
”Komm herein. Wo ist deine Schwester?”
“Die ist auf dem Weg, Schwester Maria.”
“Bitte setze dich, mein Kind. Ihr habt eine große Erbschaft gemacht.”
“Was? Wer sollte uns was vererben? Sie scherzen, Oberin!”
“Oh nein, ich scherze durchaus nicht. Ihr habt soviel Gutes getan, dass Jemand euch bedacht hat, der keine Anverwandten mehr hat. Es ist eine stolze Summe von 200.000 Talern.”
Da trat auch Philomene ein.
”Stell dir vor Schwesterchen. Wir haben geerbt!”
”Ich verstehe nicht.”
Die Oberin sprach nun wieder und sagte zu Beiden:
”Am kommenden Donnerstag müsst ihr zum Notar, um das Erbe entweder anzunehmen oder abzulehnen.”
Die Zwillinge erhoben sich vom Stuhl und verließen das Büro. Elisa sagte dann nach kurzer Überlegung.
”Wir haben viel Geld geerbt; Reichtümer dürfen wir aber keine haben. Was hältst du davon, wenn wir von dem Geld ein Krankenhaus bauen?”
”Das ist eine brillante Idee.
Damit tun wir etwas Gutes und helfen den Menschen.
Also nehmen wir das Erbe an.”
“Ja Schwesterherz, einverstanden.”
Oberin Maria war von der Entscheidung hellauf begeistert. Sie begleitete die Zwillinge zum Notar, wo sie ihr Erbe antraten. Die formelle Abwicklung war schnell vollzogen. Zufrieden und voller Zuversicht wurden Pläne für den Neubau eines Krankenhauses gemacht.
Ein Architekt wurde hinzu gezogen. Er hatte schon einen Entwurf, was er für geeignet hielt. Elisa und Philomene waren sehr begeistert.
”Schau! Mit Kapelle.”
”Sehr schön, da können wir gleich Taufe und Messe halten.” “Wann können sie mit dem Projekt beginnen?”, fragte Philomene.
Herr Wierich, der Architekt versprach noch vor Einbruch des Winters zu beginnen. Die Dauer des Baus war mit gut zwei Jahren veranschlagt. Philomene und Elisa waren mit ihrem Medizinstudium fertig und wollten gleich als OP Schwester voll einsteigen.
Der Architekt rollte seinen Bauplan zusammen und fragte, wie das Krankenhaus heißen soll. Die Zwillinge bestimmten einstimmig, dass über dem Hauptportal Philomene uns Elisa Stift stehen soll.