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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.d-nb.de > abrufbar.

© 2008 Axel Philippi

Umschlaggestaltung: Babette Robertz

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-8448-3337-9

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

DIE KAPELLE VON MONPLAISIR

EINLADUNG ZUR AUSBILDUNG ALS GEISTHEILER

DER HEILER DES KAISERS

DAS ERSTLINGSWERK DES AUTORS

DIE FLAMME DER ERKENNTNIS

VORWORT

Anstoß für diesen Roman waren persönliche Erinnerungen an mein letztes Leben sowie Erfahrungen meiner Patienten im Rahmen von Reinkarnations-Therapien.

Seit 1984 arbeite ich als Geistheiler, und es wurde mir schon bald bewusst, dass Erkrankung wie Heilung letztlich immer Bewusstseinsprozesse sind. Ich erlebte, dass Krankheitsbilder erst dann endgültig verschwanden, wenn es gelang, ihre seelischen Ursachen im Bewusstsein des Patienten aufzuspüren und zu verändern. Ich begriff, dass Handauflegen allein nicht ausreichte, wenn nicht nur das Symptom bekämpft werden sollte. In meinen Sachbüchern („Die Flamme der Erkenntnis“ und „Aus dem Tagebuch eines Heilers“) belege ich das an vielen Fällen aus meinem Patientenkreis.

Trance-Therapien, wie die Reinkarnations-Therapie, gehörten deshalb schon früh zu meinen begleitenden Techniken im Heilungsprozess; und so machte ich die Erfahrung, dass oft unerlöstes und traumatisiertes Geschehen früherer Leben über Zeit und Raum hinweg Schicksal und Krankheit im heutigen Leben begründeten und nur durch den gezielten Einsatz der Reinkarnations-Therapie Hilfe und Befreiung möglich war.

Der vorliegende Roman versucht nun, diese Zusammenhänge dem Leser auf spannende und unterhaltsame Weise nahe zu bringen.

DIE KAPELLE VON MONPLAISIR

imageautlos flackern Szenen brutaler Gewalt über den Bildschirm. Das blutüberströmte Gesicht eines Polizisten mit klaffender Stirnwunde. Knüppel, die voller Wut auf die gebeugten Köpfe und Schultern durchnässter Demonstranten niedersausen. Geifernde Hunde, die sich immer wieder in Arme und Beine der aufgebrachten Menge verbeißen, die trotzig nicht zurückweichen will. Stiefel, die Transparente und Fahnen in den Schmutz des von den Wasserwerfern aufgeweichten Bodens des Wiesengeländes entlang der Bahnstrecke treten. Rauchschwaden verdunkeln zeitweise das Bild. Und immer wieder der Schwenk der Kamera von den fanatisch aufgerissenen Augen und lautlos schreienden Mündern der Atomgegner zu den gesichtslosen weißen Helmen der Bereitschaftspolizisten in ihren anonymen Einheitsuniformen.

Angewidert hat Achim Wegener bereits vor einer Weile den Ton seines Fernsehers abgestellt. Die Spätnachrichten sind voll von den Ereignissen rund um den jüngsten Castor-Transport nach Gorleben. Eigentlich hat er das Gerät nur angestellt, um sich von seiner aufsteigenden Unruhe abzulenken. Die Enge und die sterile Atmosphäre seines Hotelzimmers und ein diffuses Unbehagen vor dem Unbekannten, das ihn morgen erwartet, ließen ihn keinen Schlaf finden. Sein Reisewecker zeigt 23 Uhr 45 an, eine Zeit, zu der er normalerweise bereits schläft. Die bedrückenden Bilder bürgerkriegsartiger Aggression und das bläuliche Leuchten des flackernden Bildschirms, das den ganzen Raum in ein gespenstisch bleiches Licht taucht, machen ihn noch unruhiger, und so benutzt Wegener die auf dem Nachttisch liegende Fernbedienung, um sich davon zu befreien und abzuschalten. Zögernd erhebt er sich dann aus dem Bett, unschlüssig, ob er sich noch einmal anziehen und in der Hotelbar Gesellschaft und Ablenkung suchen oder sich mit Hilfe des Inhalts der Minibar seines Zimmers entspannen und beruhigen soll. Zu träge, um sich wieder anzukleiden, entschließt er sich für letzteres. Mit einem Fläschchen Aquavit stellt er sich dann an eines der Fenster, das sich zu seinem Bedauern nicht öffnen lässt, und schaut hinunter auf das gleißende Lichtermeer der nächtlichen Großstadt. Das neu gebaute Hotel einer internationalen Kette steht auf einem Hügel am Stadtrand, und von seinem Zimmer im 24. Stock hat er einen grandiosen Panoramablick auf das auch noch zu dieser Zeit pulsierende Leben in den Straßen der Metropole. Während das eiskalte ölige Getränk in kleinen Schlucken durch seine Kehle rinnt und er hinaus in die Dunkelheit starrt, wird ihm bewusst, dass es auch damals, vor einigen Monaten, eine schlaflose Nacht war, mit der alles begann.

Seit fast einem Jahr plagen Achim Wegener nun schon eine nagende Unruhe und eine unerklärliche Unzufriedenheit. Sein Beruf, sein geliebtes Tennisspielen am Ende eines stressreichen Arbeitstages mit dem anschließenden obligatorischen Altstadtbummel unter Freunden, ja nicht einmal die zärtlichen Stunden mit seiner Geliebten Sonja Zoellermann auf seiner Segeljacht am Bodensee konnten bis jetzt etwas an diesem deprimierenden Zustand ändern. Mitte vierzig ist Wegener im Zenit seines beruflichen Erfolges.

Frisch von der Uni kommend, war der ehrgeizige Doktor der Ökonomie und Soziologie vor sechzehn Jahren als Juniorpartner in die neu gegründete deutsche Tochter einer internationalen Unternehmensberatungsgesellschaft eingetreten. Binnen zehn Jahren hatten ihn seine analytischen und strategischen Fähigkeiten, im Verbund mit einer glänzenden Rhetorik, an die Spitze des Unternehmens katapultiert und Dr. Wegener zu einem gefragten Gesprächspartner und Berater in den Chefetagen multinationaler Großfirmen werden lassen. Sein sechsstelliges Jahreseinkommen ließ keine Wünsche offen, und doch musste sich der agile Manager in der letzten Zeit immer öfter eingestehen, dass er zunehmend unzufriedener wurde und ihm Umsatzsteigerung und Gewinnmaximierung der inzwischen auf über hundert Mitarbeiter angewachsenen Consulting-Firma immer weniger bedeuteten. Auch ein mehrtägiges Durchchecken in einer bekannten Diagnoseklinik im Taunus hatte keine Anhaltspunkte für körperlichen Ursachen seines deprimierenden Desinteresses und seiner Antriebslosigkeit ergeben. Als er darüber mit Sonja Zoellermann sprach, die als Diplom-Psychologin in einer psychosomatischen Klinik arbeitete, bestätigte sie ihm, dass ihr seine Veränderung in den letzten Wochen bereits schmerzlich aufgefallen war. Sie meinte ironisch, dass er wohl, laienhaft ausgedrückt, eine Midlife-Crisis beziehungsweise eine Sinnkrise habe. Achim Wegener fand das wenig hilfreich, da er jetzt zwar eine Diagnose, aber keinen Weg aus der Krise kannte. Außerdem wusste er immer noch nicht, warum und wieso ihm alles, was ihm bisher so viel Befriedigung und Freude bereitet hatte, plötzlich so gleichgültig war. Alle gut gemeinten psychologischen Erklärungsversuche seiner Freundin überzeugten ihn nicht, da sie ihm zu oberflächlich schienen, zumal er intuitiv das Gefühl hatte, dass sich da etwas tief in seinem Wesen – von ihm anfänglich unbemerkt – schleichend verändert hatte, ohne dieses „etwas“ näher beschreiben oder gar benennen zu können.

Und noch etwas gab ihm zu denken. Seit einiger Zeit fand er sich von Lebensformen und Philosophien angezogen, die ihm früher nichts bedeutet hatten. Erstmals hatte er das deutlich gespürt, als er sich anlässlich eines Familientreffens mit Rainer, dem Sohn seiner älteren Schwester, über dessen Diplomarbeit unterhalten hatte. Eigentlich wollte er nur höfliches Interesse zeigen. Aber dann fand er sich mitten in einer angeregten Diskussion, und zu seiner eigenen Überraschung fühlte er sich so lebendig und geistig angeregt wie schon lange nicht mehr. Rainer studierte Theologie an einer katholischen Universität und wollte später dieses Fach selbst lehren. Seine Diplomarbeit befasste sich mit dem Wesen der Engel und ihrem Bedeutungswandel im Katholizismus der Neuzeit. Zu seinem nicht geringen Erstaunen musste Achim Wegener hören, dass sein Neffe – sonst ein moderner und allem Neuen gegenüber aufgeschlossener junger Mann des Computerzeitalters – fest an die Existenz dieser mystischen Wesen glaubte und sogar der Überzeugung war, dass jedermann mit ihnen in Kontakt treten könne. Nach Hause zurückgekehrt, hatte er noch lange über das interessante Gespräch nachgedacht und beschlossen, das Angebot seines Neffen anzunehmen, in der nächsten Zeit einmal gemeinsam in einem Kloster an einer von einem bekannten Priester der Charismatischen Bewegung gehaltenen mehrtägigen Engel-Meditation teilzunehmen.

Kurz darauf kam dann diese bewusste Sommernacht, als er, erfolgreich wie immer, von einer größeren Kundenpräsentation nach Hause zurückgekehrt war, sich noch auf die überdachte Terrasse seiner Penthousewohnung gesetzt und bei einer Flasche Bordeaux versucht hatte, die Gedanken des Tages abzuschütteln, um dann wie gewohnt ins Bett zu gehen. Aber je später es wurde, um so wacher fühlte sich Dr. Wegener. Sein Blick fiel auf das Radio auf dem Beistelltisch, das wohl seine Putzfrau dort vergessen hatte, die ihre Pausen – wenn es das Wetter erlaubte – gern auf der Terrasse verbrachte. Mit einem Seufzer schaltete er das Gerät ein. Alles, was ihn ablenken und ihn Schlaf finden lassen würde, war ihm jetzt willkommen. Verblüfft richtete er sich in seinem Sessel auf, als unvermittelt das laute Stöhnen und Schluchzen eines Mannes aus dem Lautsprecher ertönte. Sein erster Gedanke war, dass er da wohl in ein spätes Hörspiel des Kulturprogramms oder in die Wiedergabe einer der von ihm nicht geschätzten modernen Theateraufführung geraten sei. Er wollte schon nach dem Drehknopf greifen, um ein entspannenderes und unterhaltsameres Programm zu suchen, als ihn der weitere Verlauf der merkwürdigen Sendung zuerst stocken und dann wieder in die Kissen zurücksinken ließ.

Die von wildem Schluchzen unterbrochenen Wortfetzen aus dem Lautsprecher zeichneten nach und nach das Bild eines Mannes, der sich anscheinend in einem unterirdischen Verlies befand. Frierend und mit Fußfesseln an die feuchte Steinmauer gekettet, versuchte der vom Hunger geschwächte Gefangene gerade die Attacken einiger Ratten abzuwehren, die in ihm wohl eine leichte Beute sahen. In der Stimme des Mannes schwangen Panik und Entsetzen mit, als er fast schreiend schilderte, wie sich zwei der schmutzigen Nager an seinem linken Bein festbissen und sich auch durch Schläge mit seinem zerbeulten Essgeschirr nicht vertreiben ließen. Plötzlich wurde die hysterische Stimme des Gefangenen überlagert von einer sonoren zweiten Stimme, die in beruhigendem Tonfall auf das Opfer einredete und ihm immer wieder suggerierte, dass sein Erleben nur Erinnerung sei und in Wirklichkeit jetzt gar nicht stattfände.

Langsam beruhigte sich der keuchende Atem und das Schluchzen dessen, der das alles scheinbar gerade erlebte, und Dr. Wegener wurde Zeuge, wie die zweite Stimme den in seinen Erinnerungen Gefangenen nun mit Hilfe von Suggestionen schrittweise aus seinem Erleben befreite und behutsam ins Hier und Jetzt zurückführte. Inzwischen war es dem gespannt Lauschenden klar geworden, dass er zufällig in die Life-Reportage einer ihm unbekannten Therapieform geraten sein musste.

„Das, meine Damen und Herren, war aus unserer Reihe „Neue Wege in der Psychotherapie“ der zweite und letzte Teil einer Reinkarnationstherapie unseres Reporters Werner Schon. Sie erinnern sich: Werner Schon und der Moderator dieser Sendereihe, Alexander Lorrang, wollten am eigenen Leib – oder vielleicht sollte ich besser sagen an der eigenen Seele – erfahren, was dran ist an dieser umstrittenen Therapieform. Werner Schon als Patient, der bereit war, auf diese Trancereise zu gehen, und Alexander Lorrang als kritischer Begleiter und Beobachter. Der Therapeut war Dr. Wolfgang Pauly, bekannter Psychologe und Hypnosetherapeut aus Frankfurt. Nach einer kleinen Musikpause schalten wir um in unser großes Life-Studio, wo sich alle drei heute nacht den kritischen Fragen eines interessierten Publikums stellen werden. Bis gleich also!“

Die Stimme der Ansagerin verstummte, und Klänge einer fremdartigen, orientalischen Musik füllten das nächtliche Dunkel auf der Terrasse. Der Duft der blühenden Kastanien im Garten, deren Kronen fast zu ihm herauf reichten, der schwere französische Rotwein in Verbindung mit den faszinierenden Klängen erzeugten in Achim Wegener ein Gefühl von Losgelöstheit und Unwirklichkeit. Er fühlte sich von dem Gehörten angezogen und gleichzeitig von dem Gedanken an mögliche Erinnerungen, die nicht diesem Leben entstammten, erschreckt und abgestoßen. Auf jeden Fall war jetzt seine Neugier so stark geweckt, dass er beschloss, auch der kommenden Diskussion zu folgen, die soeben von der Radiosprecherin angesagt wurde.

Anderthalb Stunden später – es war inzwischen kurz vor eins – hatte das Weltbild des gestandenen Managers empfindliche Risse bekommen. Alles, woran er bisher glaubte beziehungsweise nicht glaubte, wurde durch diese Sendung auf den Kopf gestellt. Die Fragen aus dem Auditorium, die Antworten der unmittelbar Beteiligten und viele Selbsterfahrungen zugeschalteter Zuhörer zeichneten einen Entwicklungsweg der menschlichen Seele auf, der Dr. Wegeners stolzem Intellekt und der Weltanschauung, auf der er bisher fußte, völlig entgegen lief. Nicht, dass er alles blind geglaubt hätte, was er da hörte, aber an der Ernsthaftigkeit der Akteure und der Glaubwürdigkeit der Zuhörer, die von eigenen Rückerinnerungen, und zwar von der einfachen, spontanen Déjà-vu-Erfahrung im Alltag bis zu komplexen, detaillierten Erinnerungen im Rahmen von Reinkarnationstherapien, berichteten, war seinem Eindruck nach nicht zu zweifeln. Es stellte sich höchstens die Frage nach der Wirklichkeit dieser Erfahrungen. Aber hatte er nicht selbst vor einigen Wochen, im Rahmen eines Manager-Seminars, einen Vortrag über die Diskrepanz zwischen Erfahrung und Wirklichkeit gehalten und seinen Zuhörern klar zu machen versucht, dass Wahrnehmungen immer nur vor dem Bewusstseinshintergrund dessen, der sie macht, zu verstehen und zu bewerten sind, dass Information und Wissen und das sich daraus ableitende Wirklichkeitsgefühl immer subjektiv seien und so etwas wie objektive Erfahrung und Wirklichkeit zwar viel zitierte, aber doch sehr fragwürdige Angelegenheiten seien. Und er hatte seinen interessiert lauschenden Zuhörern von Farbwahrnehmungstests berichtet, die bewiesen, dass das gleiche ‘Rot’, das gleiche ‘Blau’ von vielen Betrachtern unterschiedlich wahrgenommen und emotional bewertet wurde. Weiter zitierte er die Erkenntnisse der Atomphysik, dass ein Photon, die kleinste Lichteinheit, sich, je nach innerer Ausrichtung und damit Bewusstseinslage des Betrachters, entweder als Welle oder als Teilchen darstelle. Also welche Erfahrung war dann wahr und wirklich? Oder sollte es mehrere Wirklichkeiten und Wahrheiten geben? Es war gegen vier Uhr, als Dr. Wegener endlich todmüde ins Bett fiel. Aber selbst im Traum verfolgten ihn noch diese Fragen, und als er früh am Morgen durch sanfte Musik seines Radioweckers geweckt wurde, fühlte er sich wie erschlagen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er rief im Büro an und ließ alle Termine durch seine Sekretärin auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

In den folgenden Wochen ließ Achim Wegener das Thema „Reinkarnation“ nicht mehr los. Vierzehn Tage nach diesem nächtlichen Erlebnis flog er zu Gesprächen mit der Europazentrale seiner Firma nach Brüssel. Als er nach dem Abheben der Maschine die Frankfurter Rundschau durchblätterte, fiel sein Blick auf die Überschrift „Vierjähriges indisches Mädchen erinnert sich an sein letztes Leben“. Und darunter: „Familie identifiziert sie als ihre vor fünf Jahren durch tragische Umstände ums Leben gekommene Tochter!“ In einem dreispaltigen Artikel wurde dann berichtet, dass man zuerst den Erzählungen des Mädchens keinen Glauben geschenkt habe. Aber als die Kleine nicht aufhörte, von ihrem früheren Leben, ihren Eltern und Geschwistern zu erzählen, machte sich ihr jetziger Vater auf die Suche und fand tatsächlich in einer Nachbarstadt eine Familie, auf die alle Angaben des Kindes zutrafen. Das Wiedersehen mit ihrer alten Familie verlief für alle Beteiligten sehr erschütternd. Als das Mädchen schilderte, dass sie als Siebenjährige mit ihrer damaligen Mutter auf dem Markt war, als sie von einem durchgehenden Maultier und seinem Karren überrollt und tödlich verletzt wurde, brach die Mutter von damals, die den frühen Tod ihrer einzigen Tochter nie verwunden hatte, ohnmächtig zusammen. Anschließend kamen in dem Artikel Experten zu Wort, die langatmig erläuterten, dass man eine solche Geschichte nur erklären könne, wenn man an Wiedergeburt glaube. Es blieb dem Leser überlassen, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Als Dr. Wegener bald darauf mit Sonja Zoellermann ein verlängertes Wochenende auf seiner Yacht am Bodensee verbrachte, ließen Sturm und Regen den geplanten Segeltörn buchstäblich ins Wasser fallen. Gezwungen, im Hafen zu bleiben, besichtigten die zwei die Altstadt von Konstanz. Auf der Suche nach Lesestoff, um sich die Zeit zu vertreiben, betraten sie ein Zeitschriftengeschäft. Dr. Wegeners Blick fiel auf einen Buchständer im Eingangsbereich und blieb gleich an dem Autorennamen „Dr. Wolfgang Pauly“ eines Taschenbuches hängen. Der Titel lautete „Heil werden durch Seelenwanderung“. Wie der Klappentext verriet, ging es in dem Buch unter anderem um Fallbeispiele erfolgreicher Behandlungen chronisch Erkrankter durch Reinkarnationstherapie. Wegeners Interesse war geweckt, zumal er sich jetzt erinnerte, dass der Name des Buchautors und der des Therapeuten der Life-Reportage im Radio identisch waren. Zum Erstaunen seiner Begleiterin erstand er das Buch und vergaß dabei ganz die Wirtschaftsblätter und Managermagazine zu kaufen, die sonst seine bevorzugte Lektüre waren. Sonja Zoellermanns Erstaunen wuchs noch, als ihr Freund auf dem Rückweg zur Yacht auf ihr Befragen hin nach und nach mit der Sprache herausrückte und ihr von seinen Erlebnissen der letzten Wochen, und wie sehr sie ihn beschäftigten, erzählte. Die junge Dipl.-Psychologin, von Ausbildung und Selbstverständnis her Freudianerin, hielt gar nichts von der Idee der Wiedergeburt und brachte dies auch unmissverständlich zum Ausdruck. Daher glaubte sie auch nicht, dass traumatische Erfahrungen vergangener Leben Einfluss auf die jetzige Existenz haben und schon gar nicht Ursache heutiger Beschwerden sein könnten. Sie hielt das ganze Gerede um Seelenwanderung und Wiedergeburt schlicht für ausgemachten Humbug. An dieser Stelle brach Achim Wegener das Gespräch, das in eine unfruchtbare Glaubensauseinandersetzung auszuarten drohte, ab, da er sich nicht das Wochenende mit seiner Geliebten verderben wollte, und beschloss, das Buch zu Hause in Ruhe zu lesen.

Er las es gleich zweimal. Und dann stand für ihn fest, dass er so schnell wie möglich bei Dr. Pauly eine vierwöchige Reinkarnationstherapie buchen wollte. Die Idee, sich selbst in den unterschiedlichsten Rollen zu begegnen und sich dadurch besser verstehen zu können, überzeugte und faszinierte ihn immer stärker, je länger er darüber nachdachte. Und so hatte er seinen Jahresurlaub, den er eigentlich allein in einem Seglerparadies der Karibik verbringen wollte, klammheimlich abgesagt, um Zeit für dieses therapeutische Abenteuer zu haben. Er hielt seine Absicht geheim, um seinen Freunden und Bekannten, die seinem Vorhaben sicherlich mehrheitlich kritisch – um nicht zu sagen ablehnend – gegenüber stehen würden, nicht schon im Vorfeld der Therapie Rede und Antwort stehen zu müssen.

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Nun ist es endlich soweit! Grübelnd schaut er am Vorabend der Therapie aus seinem Hotelfenster in die Nacht hinaus und fragt sich wohl zum hundertsten Mal, was da ab morgen auf ihn zukommt? Ob er sich überhaupt wird darauf einlassen können, und – wenn ja – wie es ihn wohl verändert? Ob sein Leben noch das gleiche sein wird? Lange nach Mitternacht, nach einer Dose Bier und zwei weiteren Fläschchen Aquavit, fühlt er sich müde genug, um Schlaf zu finden. „Aqua vita“ – Wasser des Lebens! Was für eine sinnige Bezeichnung für einen Schnaps, aber vielleicht auch ein gutes Omen für das Kommende, denkt er noch ironisch, und ist bald darauf fest eingeschlafen.

Es ist kurz vor 10 Uhr, als Achim Wegener am nächsten morgen zum ersten Mal die Praxis von Dr. Pauly betritt. Auf den ersten Blick unterscheidet sie sich in nichts von anderen modernen Praxen. Weiße Designermöbel auf türkisblauem Teppichboden und avantgardistische Bilder unbekannter Künstler an den Wänden. Fast wirkt die Atmosphäre etwas steril. Zumindest würde man vom Interieur her nicht ohne weiteres vermuten, hier an einem Ort zu sein, wo es um die Erforschung der Seele und ihrer emotionalen Bilderwelt geht. Am Empfang bittet ihn eine Praxishelferin, noch einen Moment in einem Wartezimmer Platz zu nehmen, das von einer massigen weißen Ledergarnitur beherrscht wird. Bereits nach wenigen Minuten öffnet sich eine zweite Tür, und Dr. Pauly bittet Achim Wegener nach freundlicher Begrüßung in sein Sprechzimmer. Während der Therapeut noch ein dringendes Ferngespräch führt, hat Wegener Muße, ihn etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Dr. Pauly ist ein korpulenter, etwa 1,80m großer Endvierziger, mit eisgrauem Haar und dunklen, unergründlichen Augen. Das Besondere an dem Psychotherapeuten ist aber seine volle, tragende Stimme, die Dr. Wegener an einen Opernsänger erinnert und die ihm schon anlässlich der Radiosendung aufgefallen war und ihn auch jetzt, während sein Gegenüber noch telefoniert, angenehm berührt. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass es dieser Stimme leicht fällt, jeden in ihren Bann zu ziehen und Patienten schnell in eine tranceartige Stimmung zu versetzen.

„Entschuldigen Sie, aber nun sind wir ungestört.“ Dr. Pauly lehnt sich entspannt in seinem Schreibtischsessel zurück und schaut seinen Patienten forschend an. „Wie Sie mir bereits bei unserem telefonischen Vorgespräch sagten, hat Sie meine Life-Therapie im Radio und eines meiner Bücher zu mir geführt.“ Dr. Wegener nickt zustimmend, und so fährt der Therapeut fort: „Somit haben Sie ja schon eine gewisse Vorstellung davon, wie eine Reinkarnationstherapie abläuft, und worum es dabei geht.“ – „Nun, eine Vorstellung ist vielleicht zuviel gesagt. Ich wollte mir auch ganz bewusst nicht zu viele Gedanken darüber machen, um mich frei und unbeeinflusst bei Ihnen auf die Couch legen zu können.“ Erfreut macht Dr. Pauly eine beifällige Geste mit den Händen. „Das haben Sie ganz richtig gemacht, aber trotzdem gibt es ein paar grundlegende Fragen und Sachverhalte, die ich gerne vor Beginn der Therapie mit meinen Patienten bespreche.“ Es klopft, und die junge Frau vom Empfang steckt den Kopf zur Tür herein und fragt, ob sie Kaffee oder Tee bringen soll. Beide bestellen Tee, und Dr. Pauly erklärt weiter: „Die Reinkarnationstherapie ist eine Regressionstherapie. Das heißt, sie geht in der Zeit zurück und fängt gewissermaßen dort an, wo andere Psychotherapien enden. Während die klassische Psychotherapie nach Freud das Geburtstrauma als letztmögliche Ursache für seelische und daraus resultierende körperliche Beschwerden kennt, überschreitet die Reinkarnationstherapie diese Lebensgrenze, durchquert die pränatale Phase, überschreitet eine weitere Grenze zu dem Feld, in dem in unserem Bewusstsein Erinnerungen an so genannte frühere Leben gespeichert sind. Anfänglich vermuteten wir, dass das nur in Hypnose möglich sei. Aber schon bald entdeckten wir, dass eine normale Trance, die das Tagesbewusstsein des Patienten nicht ausschaltet, ausreichte, um diese seelischen Bilder aufsteigen zu lassen. Nun kommt es im Verlauf der meisten Therapien immer wieder zu zwei Fragen beziehungsweise Problemen: Erstens erwarten die Patienten ein „Sehen“, so wie sie Fernsehen sehen, und zweitens kommt immer wieder der Zweifel: Ist das tatsächlich so gewesen, oder habe ich das alles nur phantasiert?“ Die meisten enttäuschten Patienten sind nicht so visuell veranlagt, dass sie innere Bilder plastisch sehen. Sie haben eher die Vorstellung eines Bildes, vergleichbar dem Unterschied zwischen einem Hochglanzphoto und einem transparenten Dia. Das sagt aber nichts über die Gültigkeit des Geschauten!

Die zweite Frage nach der Wirklichkeit des Erlebten beantworte ich mit einer Gegenfrage: Was ist Phantasie? Ganz bestimmt keine bedeutungs- und bezugslose Erfahrung! Geben sie einem Kind ein Blatt Papier, und lassen sie es malen, was immer ihm gerade so einfällt! Es wird immer das zeichnen, womit es sich gerade innerlich unbewusst beschäftigt. Traum und Phantasie sind seelische Schöpfungen; und das Werk spiegelt immer seinen Schöpfer, ist also therapeutisch interpretierbar! So betrachtet, ist es also gleichgültig, ob der Patient das innerlich Erlebte für Phantasie oder Realität hält. Entscheidend ist seine Botschaft, die es zu verstehen gilt. Und die ist immer zutiefst real, erzählt uns etwas über die tatsächliche Seelenlage des Betreffenden.“

Dr. Pauly hält einen Moment nachdenklich inne und gibt Achim Wegener damit Gelegenheit, das Gehörte zu überdenken. „Aber was ist, wenn ich gar nichts sehe oder – wie auch immer – wahrnehme?“ Der Therapeut lächelt verhalten. „Lieber Dr. Wegener, auch wir Therapeuten haben, wie ihr Unternehmensberater, unsere Möglichkeiten und Kunstgriffe, festgefahrene Dinge zu bewegen und Blockaden zu lösen. Haben Sie einfach Vertrauen! Darüber hinaus geschieht das sehr selten, und so sollten Sie sich erst gar nicht mit einer solchen Möglichkeit beschäftigen!“ Wieder klopft es, und die Helferin bringt den gewünschten Tee und etwas Gebäck dazu. „Rauchen Sie? Hier in meinem Sprechzimmer nehme ich mir die Freiheit.“ Dr. Pauly hält Dr. Wegener die Zigarettenschachtel hin, der sich daraus erfreut bedient. Damit hat Wegener, der ein leidenschaftlicher Raucher ist, nicht gerechnet. Dabei hat er sich schon die ganze Zeit gewünscht, eine entspannende Zigarette rauchen zu können. Als er das schmunzelnde Gesicht seines Gegenübers bemerkt, wird ihm klar, dass die Therapie schon begonnen hat und das Angebot des gemeinsamen Teetrinkens und Rauchens eine ihn entkrampfende Wirkung haben soll. Als Dr. Pauly seinen Patienten bald darauf in seinen Therapieraum führt, ist zwar dessen Anspannung verflogen, dafür ist es Achim Wegener jetzt doch ein wenig flau im Magen. Wie damals, bei der mündlichen Examensprüfung an der Universität.

Das Therapiezimmer ist ganz in abgestuftem Violett gehalten. In der Mitte des Zimmers steht zwar nicht die von Dr. Wegener erwartete Couch, statt dessen ein großes rundes Bett mit weichem, samtartigem Bezug im Farbton des Zimmers. Die Fenster sind beidseitig mit schweren Vorhängen aus dem gleichen Material versehen, die bis auf einen kleinen Spalt zugezogen sind. Das schwach violette Licht, das noch durch den Stoff dringt, verleiht dem Raum etwas Sakrales. Der Geruch asiatischer Räucherstäbchen verstärkt diesen Eindruck noch. Dr. Pauly bittet seinen Patienten, Jacke, Krawatte und Schuhe auszuziehen, sich dann aufs Bett zu legen und dann noch den Hosengürtel zu lösen, um besser durchatmen zu können. Der Therapeut ergreift nun die Linke Achim Wegeners und befestigt zwei Fingerringe an Ring- und Zeigefinger, die über Drähte mit einem Gerät auf einem Beistelltisch am Fußende verbunden sind. Auf den fragenden Blick seines Patienten hin, erklärt er dann: „Ich messe mit Hilfe dieses Hautwiderstandmessgeräts den Grad Ihrer Entspannung und erkenne an den Ausschlägen affektgeladene Erinnerungen. So halte ich Sie über entsprechende Suggestionen immer in dem Trancezustand, der für das Aufsteigen der inneren Bilder Voraussetzung ist, und kann Sie damit zu alten Erfahrungen führen, deren Akzeptanz und Integration für den Erfolg der Therapie wichtig sind. Während ich Sie nun in Trance versetze, läuft im Hintergrund eine meine Suggestionen unterstützende spezielle Musik.“ Dr. Pauly hat inzwischen in einem Therapeutensessel neben dem Bett Platz genommen. „Machen Sie es sich jetzt bequem. Bewegen Sie noch einmal den ganzen Körper, bis Sie eine angenehme Lage gefunden haben, die Sie problemlos die nächsten anderthalb Stunden beibehalten können!“ Achim Wegener hat bereits die Augen geschlossen, rückt noch einmal seinen Körper zurecht und spürt, wie er sich bereits zu entspannen beginnt.

„Atmen Sie nun mehrmals tief ein und aus!“ Die Stimme Dr. Paulys hat sich verändert. Ihr Klang ist jetzt noch tiefer, bestimmender und magischer. „Lassen Sie den Atem durch den ganzen Körper strömen: Durch den Hals … in Rücken und Brust … von dort in den Bauch … und nun hinab in die Beine bis hinunter in beide Füße … Und mit jedem Ausatmen ein wenig Loslassen … Ihre Gedanken loslassen … Ihre Gefühle … Ihre Erwartungen loslassen! …Tief ein- und ausatmen…“ Die Suggestionen wiederholen sich mehrfach, und Achim Wegener hat das Gefühl, tiefer und tiefer zu sinken. Die Stimme seines Therapeuten hört er nur noch wie von ferne. Die leise, fremdartige Musik nimmt er fast gar nicht mehr wahr. Vor seinen geschlossenen Augen beginnen sich Farbringe zu bilden, die von ihm weg schweben, um dann in einem Punkt in einer imaginären Ferne zu verschmelzen. Einen Moment ist er von diesem Phänomen abgelenkt, findet aber dann wieder zurück zu dieser überaus beruhigenden Stimme und folgt nun weiter wie ein Kind ihren Wünschen. „Nun konzentriere dich auf dein Herz!“ In diesem Zustand stört es Achim Wegener überhaupt nicht, dass die Stimme nun zum väterlichen Du übergegangen ist. „Spüre, wie Licht und Leichtigkeit in deine Brust fließen und in dein Herz strömen!“ Immer wieder werden die Suggestionen wiederholt, und er hat längst das Gefühl bodenloser Schwere und absoluter Bewegungsunfähigkeit. Aber das macht Dr. Wegener keine Angst. Im Gegenteil, er spürt eine so tiefe Geborgenheit und Ruhe, wie er sie noch nie empfunden hat. Die Zeit scheint still zu stehen. Zunehmend hat er den Eindruck, das Suggerierte auch auf eine schwer erklärbare Art sehen zu können. Und die Stimme führt ihn weiter: „Du näherst dich jetzt einem uralten Tor … Große, graue Steine aus Granit … bedeckt mit magischen Symbolen … moosbewachsen …Im Torbogen wogende Nebel, die den Durchblick verhindern … und du weißt, das ist das Tor zu Zeit und Raum … das Tor zu Zeit und Raum … Und geführt von meiner Stimme wirst du jetzt hindurchgehen … du trittst in den Torbogen … der Nebel umhüllt dich … das Heute bleibt zurück … und du gehst immer weiter, und weiter, und weiter…“ Trotz tiefer Entspannung bemerkt Achim Wegener, dass die Musik im Hintergrund wechselt. Zuerst ist es ganz still. „Und je weiter du voranschreitest, um so leiser wird es … alles versinkt in diesem Nebel … bleibt zurück … um dich herum nur noch kühler Nebel und Stille …“ Plötzlich schweben aus der Tiefe des Raumes neue Klänge auf ihn zu. Zuerst zart und leise, fast unhörbar, dann näher kommend und lauter. „Da, auf einmal hörst du Klänge aus dem Nebel, die dich zu rufen scheinen … und du folgst ihnen … Und je lauter sie werden, um so mehr lichten sich die Nebel … Erste Konturen werden deutlich … und weiter schreitest du voran, folgst den lauter werdenden Kängen … Und der Nebel löst sich immer mehr auf… du siehst erste Schemen und Schatten … und dannmit einem letzten Schritttrittst du heraus aus dem Nebel, verlässt die Nebelwolke … hinaus in eine ganz bestimmte Szene, in eine ganz bestimmte Situation … mit einem ganz bestimmten Gefühl … Und dann schau dich um: Wo bist du da? … Was bist du da? … Was fühlst du?… Die Stimme schweigt, und Achim Wegener wartet – tief versunken in seiner Mitte – was nun geschehen wird.

Zuerst ist da ein Gefühl von Vertrautheit und Heimat. Dann der Eindruck grüner Wiesen und Felder. Ein breiter Fluss mäandert träge durch eine sommerliche Hügellandschaft. Achim Wegener hört aus der Ferne das Geläut von Kirchenglocken, und schon wandert sein Geist durch die schmutzig weißen Mauern eines mittelalterlichen Städtchens. Altes, holpriges Kopfsteinpflaster, verwitterte, dunkelgraue Schieferdächer, verrostete schmiedeeiserne Gitter, die Einblicke in verwunschene, blumengeschmückte Innenhöfe gestatten und hölzerne Rundbogentore, die in Kellergewölbe führen, in denen seit Jahrhunderten Wein gelagert wird. Und dann, in der Stadtmitte, die hohen, wehrhaften Mauern einer Burg mit ihren drei dicken Türmen. Rundum läuft ein Wehrgang, unter dem unzählige Pechnasen aus dem grauen Stein ragen. All das ist ihm zutiefst vertraut, so als wäre er diese Wege viele Male gewandert. Dann steht er vor einem staubigen Schaufenster, durch das man in ein kleines, dunkles Geschäft schauen kann, in dem sich Menschen wie Schatten bewegen. „Boulangerie“. Mühsam entziffert er die von Sonne und Wind gebleichte Schrift auf dem alten Holzschild über dem Eingang. „Merkwürdig, ich scheine in Frankreich zu sein und stehe gerade vor einer Bäckerei!“ Es sind die ersten Worte, die Achim Wegener in der Therapie spricht.

Behutsam ermuntert ihn die Stimme Dr. Paulys zu weiterer Betrachtung. „Jetzt fahre ich mit einem bequemen Einspänner über eine schattige Allee. Links und rechts stehen hohe Buchen. Ihre Kronen schließen sich wie ein Dach über mir, und ich fahre wie durch einen Tunnel. Da, ganz am Ende der Allee, erkenne ich ein großes weißes Gebäude, fast wie ein Schloss!“ Und dann nachdenklich: „Ich glaube, da bin ich zu Hause!“ Eine Zeit lang ist Schweigen, dann: „Ich bekomme jetzt so ein schmerzliches Gefühl in die Brust, wie bei Heimweh!“ Wieder eine längere Pause. „Nun ziehen sich links und rechts der Allee Weinstöcke die Hügel hinauf. Es müssen Tausende sein. Das ganze Land scheint jetzt ein einziger Weinberg zu sein. – Da drüben kann ich wieder den Fluss sehen. Er macht einen Bogen um das Gebäude, das dadurch wie auf einer Halbinsel liegt. – Es kommt mir gerade für den Fluss der Name Loire’ in den Sinn. Ja, ich bin mir jetzt ganz sicher! Ich war zwar nie dort, aber das muss die Loire sein!“ Die Stimme von Achim Wegener wird lauter und aufgeregter. Auch sein Atem geht schneller und bestätigt seine steigende Erregung. Dr. Pauly fordert ihn auf, wieder stärker ein- und auszuatmen und sich noch tiefer in dieses Erleben fallen zu lassen – den Fahrtwind zu spüren, die zuckenden Zügel in seinen Händen und auch die Bewegungen des Pferdes und das Rattern des Einspänners wahrzunehmen. Immer mehr taucht Achim Wegener in die Fülle der Bilder ein, die aus seinem Innern aufsteigen und ihn immer stärker gefangen nehmen.

„Die Allee mündet nun in eine große freie Grasfläche. Die Straße teilt sich und umrandet das parkartige Gelände, in dessen Mitte das Haus steht. Es ist groß und hat mehrere Geschosse. Ja, es sieht aus wie ein kleines Schloss! – Ich fahre jetzt auf einen kiesbedeckten Vorplatz und zügele das Pferd. Ein Mann kommt aus dem Seitenflügel und führt, nachdem ich abgestiegen bin, Pferd und Wagen zu den Stallungen. – Ich habe Handschuhe an, die ich jetzt ausziehe, während ich auf das große Eingangsportal zugehe. Bevor ich es erreiche, wird es von einem Bediensteten geöffnet, der sich unterwürfig verbeugt. Ich trete ein, das Tor schließt sich hinter mir.“

Dr. Pauly ist etwas erstaunt, wie leicht seinem Patienten der Zugang zu seinen unterbewussten Bildern fällt. Normalerweise ist er das eher von Patientinnen gewohnt, da Frauen der Umgang mit ihrer Gefühlswelt gewöhnlich leichter fällt als den mehrheitlich verkopften Männern. Ohne dass weitere unterstützende Suggestionen von Seiten des Therapeuten notwendig wären, entfaltet sein Patient ein überaus farbiges Lebenspanorama, das beide zurückführt in das 19. Jahrhundert, in das großbürgerliche Leben eines jungen Landadligen aus dem grünen Herzen Frankreichs. Und so wird Dr. Pauly Zeuge, wie das Leben Robert de Monplaisir, alias Achim Wegener, Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts jene dramatische Wende nimmt, die es aufs engste mit dem heutigen Leben seines Patienten verbinden sollte! Beide ahnen nicht, dass diese Rückerinnerungen in ihrer Konsequenz zu Ereignissen führen, die das Leben vieler Menschen in den kommenden Jahren nachhaltig beeinflussen werden.

    Robert de Monplaisir steht im Spätsommer 1869 kurz vor seiner Abreise nach Paris. Er ist nun schon Mitte Zwanzig, und so ist es für den jungen Mann aus gutem Hause allerhöchste Zeit, seinen letzten weltmännischen Schliff in den literarischen Zirkeln der mondänen Welt, beim Besuch von Theatern, Museen und Bibliotheken sowie in den Boudoirs der Pariser Damenwelt zu suchen. Zumindest ist das die Meinung seines Vaters, Emile de Monplaisir, der deshalb seinen Cousin mütterlicherseits, Albert de Monfort, gebeten hat, seinem einzigen Sohn und Erben für einige Monate die Pariser Stadtwohnung zur Verfügung zu stellen. Der verarmte Baron hat diesem Wunsch gerne entsprochen, zumal ihm Emile de Montplaisir einen mehr als großzügigen Mietzins in Aussicht gestellt hat. Insgeheim hofft Roberts Vater, dass durch den mehrmonatigen Aufenthalt in der Hauptstadt die unselige Liaison seines Sohnes mit der Tochter des Gutsverwalters ein natürliches Ende findet. Und er rechnet dabei mit der tatkräftigen Unterstützung seitens der verführerischen Pariser Demoiselles.
    Mercedes Leblanc ist seit zwei Jahren die Geliebte Roberts. Sie hat das Temperament und den dunklen Teint der Südfranzosen und trägt, entgegen dem hiesigen Brauch, ihr schulterlanges schwarzes Haar stets offen. Drei Jahre jünger als Robert, waren beide wie Geschwister aufgewachsen, bis es Robert eines Tages bei der Weinernte wie Schuppen von den Augen fiel und er zum ersten Mal die leidenschaftliche Frau hinter der Spielgefährtin seiner Kindheit und Jugend entdeckte. Nach der Plackerei der vergangenen Tage feierten alle Gutsangehörigen mit dem Patron und seinem Sohn das erfolgreiche Einbringen der Reben. Es war eine reiche Weinernte gewesen, und die Süße der Trauben versprach einen guten Jahrgang. So waren alle fröhlich und ausgelassen, tanzten und tranken den Wein vom Vorjahr und vergaßen alle Standesunterschiede. Vater und Sohn beteiligten sich traditionell an dem munteren Treiben und tanzten und scherzten auch mit den weiblichen Gutsangehörigen und den Erntehelferinnen aus der Umgebung.