© Charlotte Kreth (Hrsg.), 2010
2. überarbeitete Auflage
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN: 978-3-8448-5244-8
Matthias Deuster: Die Tauben
Inhaltsangabe
Erörterung
Interpretation / Analyse
Sebastian Kühn: Der Rattenkäfig
Inhaltsangabe
Erörterung
Interpretation / Analyse
Yvonne Szymoniak: Der Eremit
Inhaltsangabe
Interpretation / Analyse
Willi Hagenguth: Der Mörder
Inhaltsangabe
Interpretation / Analyse
Jens Trippler: Der Anzug
Inhaltsangabe
Erörterung
Hans H. Beese: Der Stotterer
Inhaltsangabe
Erörterung
Martin Dräger: Eigentlich
Erörterung
Interpretation / Analyse
Stefanie Böhm: Der göttliche Fehler
Erörterung
Interpretation / Analyse
Julia Adler: Kleine Fabel
Erörterung
Interpretation / Analyse
Christian Ulm: Die Zündschnur
Erörterung
Interpretation / Analyse
Marc Dönitz: Hans
Erörterung
Margret Giese: Auf der Pelzfarm
Erörterung
Birgit Bever: Die Lebenslinie
Inhaltsangabe
Erörterung
Frank Schade: Harmagedon
Interpretation / Analyse
Susanne Steinhagen: Sirenen
Interpretation / Analyse
Carsten Langemann: Unser aller
Interpretation / Analyse
Richard Kreth: Im Koma
Inhaltsangabe
Erörterung
Lösungsansätze
Fünf Jahre war ich damals alt und ritt heim auf den Schultern meines Vaters, da der lange Spaziergang im Park mich ermüdet hatte. Den Weg zurück nach Hause wählten unsere Eltern durch die Innenstadt, weil meine Mutter noch etwas erledigen wollte. Schon bald verschwand sie in einem Geschäft und wir warteten draußen. Während es sich mein Vater auf einer Bank mit übereinandergeschlagenen Beinen, so gut es ging, gemütlich machte, versuchten mein Bruder Daniel und ich die Langeweile durch Herumtollen zu zerschlagen. Nach einer Weile holte mich meine Mattigkeit ein und ich nahm neben meinem Vater Platz. Nur wenig später gesellte sich Daniel zu uns. Wir warteten und hofften, dass bald der Heimweg fortgesetzt würde.
Vor uns liefen ein Dutzend Tauben. Auch auf den Giebeln und Dächern der alten Fachwerkhäuser saßen sie und lauerten darauf, ein Stück Eiswaffel oder eine Brotkrume zu erhaschen. Es herrschte ein reger Betrieb: Einige flogen zu uns herab und verscheuchten wiederum andere, deren Platz sie einnahmen. Auf dem alten Kopfsteinpflaster marschierten sie nickend, etwas plump im Zickzack, stets auf der Hut, nicht von einem in Gedanken versunkenen Passanten getreten zu werden. Nur einen Augenblick vor einer drohenden Kollision erhoben sie sich, um wenige Schritte entfernt erneut zu landen und ihre Suche fortzusetzen. Schläfrig beobachtete ich dieses Treiben und die Ausweichmanöver der Vögel. Den Kopf hatte ich in den Schoß des Vaters gelegt und ich war dabei einzunicken. Während mir die Augen zufielen, näherten sich indessen einige Tauben unserer Bank.
Mit lautem Gebrüll, sodass sowohl mein Vater als auch ich vor Schreck zusammenfuhren, stürzte sich völlig unerwartet mein Bruder auf die uns nächste Taube, die verängstigt nach einem schnellen Zucken in ihren kurzen Beinen mit den meisten anderen davonflog. Und während mein Vater nach Fassung suchte, lief Daniel den Tauben, die sich noch nicht in Sicherheit gebracht hatten, brüllend hinterher. Doch bevor mein Vater dieser Jagd Einhalt gebieten konnte, stand der Alte da, im Lauf meines Bruders, der regelrecht in ihn hineinrannte und von dem abrupten Aufprall rücklings auf den Hintern geschleudert wurde. Nun saß Daniel auf dem Boden und schaute, nicht verstehend, was gerade geschehen war, zu ihm hinauf. Dabei gab er keinen Ton von sich. Ob es Furcht war oder Schmerz durch den Fall, konnte wahrscheinlich nicht einmal Daniel selbst mit Gewissheit sagen.
„Sie da, was machen Sie mit meinem Sohn?“, schrie mein Vater, der von der Bank aufgesprungen war, den Alten an und lief zu meinem Bruder hinüber, um ihm zurück auf die Füße zu helfen. Und während Daniel, dem mein Vater über die Hose strich, nun doch zu weinen anfing, schimpfte mein Vater den Alten aus, der wiederum schweigend da stand: „Können Sie nicht sprechen? Oder wollen Sie einfach eine Tracht Prügel?“, fluchte er laut und blickte dem Alten ins faltige Gesicht, das von einem weißen Vollbart, der zu dem ebenso weißen Kopfhaar passte, stark zugewuchert war. Der Alte schaute unentwegt zu meinem Bruder. Plötzlich sagte er mit klangvoller Stimme: „So jung, erst kurze Zeit auf der Welt und doch trachtest du zum Spaße nach dem Leben. Aber schätzen sollst du dieses wertvollste Geschenk, nicht zum Vergnügen vernichten! Denn nicht immer werde ich dich vor Unvernunft und der ihr folgenden Strafe schützen können. So folge meinem Rat und du wirst kein Unheil fürchten müssen!“
Stumm starrte mein Vater den Alten an. „Sind Sie irre?“, war alles, was er nach einem Moment herausbekam. Nun wechselte der Blick des Alten, ohne bei meinem Vater zu pausieren, zu mir. Dann kam er herüber zur Bank, auf der ich sitzen geblieben war. „Auch wenn der Jüngere dem Älteren zu dessen Freude dient, wird er dennoch schuldig, wenn er ein närrisches Unrecht, das er als solches erkennt, nicht verhindert. Selbst beim Lachen kann das Herz trauern und das Leid mag ewig sein.“
„Jetzt reicht es aber“, schnauzte mein Vater. „Scheren Sie sich zum Teufel! Oder Sie bekommen wirklich eine Tracht Prügel.“
Unbeirrt und meinen Vater ignorierend, beugte er sich zu mir herab und flüsterte: „Ich sehe, dass du gut bist und mich verstehen wirst. Achte auf deines Bruders Leben und führe ihn fort von dem Weg, den er im Begriff ist, einzuschlagen. Nur du kannst ihn retten! Glaube an deine Stärke!“
Daraufhin richtete er sich wieder auf und blickte mir tief in die Augen. Es war, als brannten sich seine Worte in meine Seele. Und obgleich ich trotz seiner Behauptung nichts von alldem begriffen hatte, so erinnerte ich mich später dennoch an jedes einzelne Wort, und in jenem fernen Moment wurde mir die Bedeutung klar. Zunächst vergaß ich seine Worte jedoch.
Mein Bruder und ich wuchsen heran. Während sich Daniel mehr und mehr zu einem wilden Burschen entwickelte, den meine Eltern nur mit Mühe zu bändigen wussten, schlug ich den entgegengesetzten Weg ein. Meine Wesensart war das Pendant1 zu seinem: still und zurückhaltend, schüchtern. Aber so ungleich wir auch waren, es verband uns das unzertrennliche Band von brüderlicher Liebe und Achtung.
Sieben Jahre später, kurz nach Daniels 14. Geburtstag, erschien mir der Alte in einem Traum. Barfüßig lief ich aus unserem Garten hinein in den angrenzenden Wald. Meine einzige Kleidung bestand aus meinem Nachtgewand. Ich fühlte mich verfolgt und rannte ziellos immer tiefer ins Dickicht, sodass ich langsamer wurde, um Äste beiseite zu biegen, die mir den Weg versperrten. Bald waren meine Kräfte verbraucht und ich musste anhalten. Sollte ich mich meinem Verfolger stellen, den ich nun ganz deutlich spürte? Meine Angst war seltsamerweise unterdessen verschwunden. Ich meinte, einen Freund wahrzunehmen. Dann öffnete sich mit einem Mal der Wald vor mir und ich befand mich auf einer wiesenbewachsenen Lichtung. Die Schönheit des Ortes, der lauwarme Wind und die Sonne, die jetzt hoch am Firmament stand, wiegten mich in Sicherheit und bereiteten mir ein überaus behagliches Gefühl. Ich legte mich ins Gras und schloss die Augen, bis sich der Himmel verdunkelte. Als ich aufschaute, stand vor mir der alte Mann, die Sonne im Rücken. Trotz des strengen Blickes fürchtete ich mich nicht. Noch strahlte er eine beruhigende Milde aus.
„Achte auf deines Bruders Leben!“
Dann erwachte ich. Die Worte des Alten waren noch nicht in meinem Kopfe verhallt, als schließlich die Sonne aufging. Das Wetter schien endlich besser geworden zu sein. Mehrere Wochen lang hatte es fast ununterbrochen geregnet, sodass wir im Hause hatten spielen müssen und nur der Schule wegen hinausgegangen waren. Ungeduldig sahen wir an jenem Morgen hinaus in den heimischen Garten, wo die letzten Tropfen, die an den Halmen hingen, die ersten grellen Strahlen widerspiegelten und uns entgegenwarfen. Die vielen Tage des Hausarrestes hatten in uns ein Verlangen nach Freiheit aufgebaut, das kontinuierlich gewachsen war und welches nun entschieden darauf drängte, befriedigt zu werden. Unsere aufgestaute jugendliche Energie ließ uns fast zerbersten. Wie frei gelassene Tiere stürmten wir nach dem Frühstück unter lautem Jubel hinaus, rauften uns, spielten Fangen, tollten herum, suchten alte Verstecke auf und schauten nach dem Rechten in unserem Reich, das so lange auf seine Herrscher hatte verzichten müssen.
Zum Geburtstag hatte Daniel ein Luftgewehr bekommen. Schon seit Langem war sein sehnlichster Wunsch diese Waffe gewesen. Und dann endlich erfüllten meine Eltern ihm sein Begehr. Durch den anhaltenden Regen hatte er jedoch bis dahin die Fähigkeiten der Flinte, wie sie mein Vater abfällig nannte, nicht im Freien erproben können. Jetzt aber hielt er sie im Arm, jederzeit schussbereit. Schon bald machte er seine ersten Ziele aus: Alte Blumentöpfe unserer Mutter und leere Flaschen, die im Schuppen aufbewahrt wurden. Wir stellten alle in einer Reihe auf.
Nachdem er eine Weile recht erfolgreich geübt hatte, willigte er endlich ein, mit mir in den Wald zu gehen. Dort schoss er auf Tannenzapfen und Pilze. Obwohl der Untergrund noch sehr feucht und matschig war und das Wandern erschwerte, entfernten wir uns weiter als je zuvor vom elterlichen Haus. Wir drangen in eine unbekannte Gegend des Waldes ein, getrieben von unserem aufgestauten Tatendrang. Von Zeit zu Zeit störte lediglich der Knall des Luftgewehrs die friedvolle Ruhe.
Erst langsam fiel mir auf, dass der Wald dichter geworden war. Mein Bruder wanderte voran und öffnete mir den Weg. Und müde wurde ich auch, sodass ich ihn zur Umkehr anhielt. Doch nur einige Schritte weiter, und wir standen plötzlich am Rande einer Lichtung. Schlagartig erkannte ich sie wieder: die Lichtung meines Traumes. Sie lag vor uns mit all ihrer Schönheit, ihrem Duft, dem leichten Wind und der strahlenden Sonne. Während mein Bruder freudig ins Zentrum der Lichtung hineinlief, durchfuhr mich ein Schrecken. Wie gebannt blieb ich stehen und überlegte, was ich tun sollte. Daniel von meinem Traum berichten? Er würde mich für verrückt erklären. Und war ich das nicht auch? Hatte ich denn wirklich von genau dieser Lichtung geträumt? Sorgfältig prüfte ich sie. Aber ja, sie war es! Ich hatte keine Zweifel mehr. Was hatte mir der Alte gesagt? Und was machte Daniel da? Er rief mir etwas zu, aber erst als ich näher kam, konnte ich seine Worte verstehen: „Siehst du die Taube auf dem Baum dahinten? Sie schläft. Ich werde mich mal anpirschen und sie wecken.“ Dabei lachte er und bewegte sich dann vorsichtig durch das Gras in die zuvor angedeutete Richtung.
Als er sich hinkniete, um besser zielen zu können, rannte ich von panischer Angst getrieben zu ihm hinüber. Nicht nur, dass ich mich an die Worte des Alten in meinem Traum erinnerte, zurückgekehrt war auch die erste Begegnung mit ihm.
„Daniel, nicht!“, schrie ich flehend während des Spurtes. Doch der Schuss fiel und zu spät stieß ich ihn um.
„Was ist denn in dich gefahren?“, attackierte mich grollend mein Bruder und sah verwundert zu mir hinauf, der ich offenen Mundes, aber wortlos und keuchend vor ihm stand. Dann erhob er sich rasch und, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, lief er zum Rand der Lichtung. Wirre Gedanken rasten mir durch den Kopf: Was war geschehen? Was würde nun passieren? Vielleicht hatte er die Taube gar nicht getroffen? Vermutlich würde gar nichts passieren!
„Wahnsinn! Ein Schuss, ein Treffer! Und das mit einem Luftgewehr“, brüllte mein Bruder stolz zu mir herüber.
Bestimmt würde gar nichts Schlimmes passieren!
„Hier, siehst du?“ In der Hand hielt er den toten Vogel und streckte mir seine Trophäe zur Bewunderung entgegen. Das Federkleid war nur ein wenig zerzaust und Blut konnte ich nicht entdecken. Wahrscheinlich war die Taube nicht tot, sondern nur bewusstlos. Aber der Kopf hing schlaff zur Seite und ich spürte, dass mein Wunschdenken vergebens war. Aber vielleicht würde überhaupt nichts Schlimmes passieren!
Dann stand er hinter uns. „Nichts hast du gelernt. Das Leben achtest du immer noch nicht.“ Hastig drehten wir uns um. Er trug sogar dieselbe Kleidung wie in meinem Traum. Sprachlos starrten wir den Alten an, der vollkommen ruhig und erhaben vor uns stand und zu meinem Bruder sprach: „Aber du sollst das Leben schätzen, nicht zum Vergnügen dieses wertvollste Geschenk vernichten! Ich werde dich nicht mehr vor deiner Unvernunft und der ihr folgenden Strafe schützen wollen. Gewissenhaft folge meinem Rat und du wirst kein Unglück fürchten müssen!“
Daraufhin wandte er sich mir zu und ermahnte mich streng: „Du, achte auf deines Bruders Leben! Einzig du vermagst das Schreckliche abzuwenden!“
Wir ergriffen die Flucht und ließen den Alten einfach stehen. Ohne ein Wort zu sprechen, liefen wir schnell zurück in den Wald. Auf dem Heimweg erzählte ich Daniel von meinem Traum und wünschte mir, dass er mich ernst nähme. Doch Daniel lachte nur, schalt mich und den Alten Narren, hielt mir die Taube unter die Nase und befahl mir, unseren Eltern nichts zu sagen.
Ich gehorchte. Doch die Warnung des Alten im Ohr, stahl ich Daniels Gewehr, zerschmetterte es an einem Baum und vergrub die zerborstenen Teile im Wald. Meines Bruders Fluchen, Drohen, Schläge und Flehen, ich solle es ihm wiedergeben, halfen nicht, und meine Eltern schenkten ihm weder Glauben, als er mich einen Dieb nannte, noch ein weiteres Gewehr, als er sie aufforderte, ihm ein neues zu besorgen. Und bald kehrte die brüderliche Eintracht zurück, als Daniel die Reize des anderen Geschlechts entdeckte.
Nach seiner erfolgreichen Führerscheinprüfung wartete Daniel begierig auf den Tag seiner Volljährigkeit. Diese sollte ihm die absolute Autonomie, die Möglichkeit zur uneingeschränkten Entfaltung all seiner Wünsche und Ideen erlauben - und natürlich auch die Einwilligung meines Vaters, den Sportwagen zu fahren. Seine Ungeduld war ansteckend. Ich fieberte mit ihm und hoffte ebenso sehr, dass dieses Warten endlich vorüber wäre.
Und dann war er da! Zwar war meine Mutter dagegen gewesen, Daniel das schnelle Auto zu geben, doch hatte sie sich vergeblich bemüht, meinen Vater umzustimmen. Dieser schien es nicht zu wagen, sein Versprechen zu brechen, sodass Daniel und ich schließlich zur Garage eilten, während der Schlüssel fest umschlossen in seiner Hand lag. Unser Ziel sollte der nahe gelegene See sein, wo Daniel sich mit seinen Freunden verabredet hatte. Das wunderbare Wetter lud zum Grillen und Baden ein.
auf der Landstraße sitzen.