Inhalt

Vorwort

Die Geliebte

Wolle die Wandlung

Das Geheimnis der Zufriedenheit

Und es will Vieles werden

Ödipus - der Weg des Menschen

Der Wohnsitz Gottes

Die Blinden und der Elefant

Platons Höhlengleichnis

Gans in Freiheit!

Gibt es ein Leben nach der Geburt?

Inannas Gang in die Unterwelt

Zeitplanung

Persephones Entführung in die Unterwelt

Hölle und Himmel

Was vor uns liegt und was hinter uns liegt

Orest und der Muttermord

Das vorschnelle Urteil

Die Höhle der Sieben Jungfrauen

Der Kampf der zwei Wölfe

Gebet

Vater - das Bild des Mannes

Erlösung kommt von innen

Die zerrissene Welt

Mutter - Sprache

Wahre Nähe oder Das Lied des Lebens

Die Einladung

Quantenbewußtsein

Wer sein Nichtwissen für Wissen hält

Die zwei Seelen

Die Geschichte vom Sand

Wer andere kennt

Literatur

Wenn ich nicht mehr so tu,

als ob ich anders sei,

als ich bin,

wird endlich alles,

was ich tu,

reine Gebärde

mit nur einem Sinn:

daß noch geboren werde

das Licht in mir, das Wesen,

das ich bin.

Vorwort

Schon als kleines Kind haben mich manche Geschichten tief berührt und bewegt, andere ließen mich kalt. Selma Lagerlöfs Geschichte von der wundersamen Reise des kleinen Nils Holgersson zum Beispiel, die mir meine Oma vorlas, hat damals etwas in meiner Seele anklingen lassen. Auch später habe ich es immer wieder bemerkt, wie mich manches berührte, aber nicht tiefer eindrang, manches aber auch tiefer ging und etwas in mir bewegte. Nur weniges erreichte den Kern und blieb unvergeßlich. Für mich war das schon immer ein – zugegebenermaßen subjektives – Wahrheitsund Auslesekriterium, dem ich auch in der Auswahl dieser Texte gefolgt bin.

Einige der Texte sind leicht verständlich und sprechen für sich selbst, manche erscheinen uns wie Botschaften von einem anderen Stern, andere fordern unser Denken heraus und wollen gekaut werden wie Vollkornbrot. Die Texte schlagen verschiedene Töne an, die sie in uns zum Klingen bringen, und sie sind sehr unterschiedlich in ihrer Tiefenwirkung. Um in tiefste Tiefen vorzudringen, braucht es jedoch immer die Vorbereitung, das Bohrloch, das wir mit der Zeit immer weiter voran treiben, bis wir eines Tages in der Wüste unserer Einsamkeit auf Grundwasser stoßen oder in der Tiefe – noch unter dem im Keller Verborgenen – das Öl, das schwarze Gold der Erde, erreichen.

Manche der Geschichten, die ich irgendwann einmal gehört oder gelesen habe, habe ich nacherzählt, sofern es mir geboten erschien, auch neu formuliert und aus tiefenpsychologischer Sicht betrachtet. Es ist sowohl der Einklang von Inhalt und sprachlicher Form, der mir dabei am Herzen lag, wie auch eine Vertiefung des Verständnisses. Sofern mir der Autor einer Geschichte bekannt war, habe ich ihn – selbstverständlich – auch angegeben. Andernfalls habe ich zumindest ungefähre Quellenangaben beigefügt. Im Literaturverzeichnis finden Sie die Bücher, die mir als Grundlage gedient haben.

Was die Anordnung der Texte angeht, so habe ich mich so weit wie möglich vom Bauprinzip der Wirbelsäule leiten lassen: abwechselnd Bandscheibe und Wirbelknochen, Weiches und Hartes, Leichtes und Schwereres.

Besonders danken möchte ich meiner Frau Gabriele Ortmann und Werner Schwierzock für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Möge diese Zusammenstellung von Aphorismen, von Mythen, die zum Teil seit alters her eine Fundgrube für tiefes Verständnis der Menschenseele bilden, von Lehrgeschichten, Vorträgen und Gedichten, die das Wesentliche, obwohl es unfaßbar bleibt, in Worten verdichten und ihm in sprachlicher Schönheit eine Form geben – möge diese Komposition in Ihrer Seele etwas zum Klingen bringen!

Die Geliebte

Geschichte aus der Sufi-Tradition (von mir nacherzählt und neu formuliert)

Ein Mann macht sich auf den Weg zu seiner Geliebten, die weit entfernt von ihm in einer einsam gelegenen Hütte am Strand lebt – dem Meere nah. Als er nach langer Wanderung bei ihrer Hütte ankommt, klopft er an die Tür und bittet um Einlaß.

Von drinnen erklingt die Stimme seiner Geliebten, und er hört sie fragen: „Wer ist da?“

„Ich bin es“, gibt er zur Antwort.

Wieder hört er ihre Stimme von drinnen:

„Hier ist nur Platz für EINEN!“

Die Tür bleibt verschlossen. Traurig und wehmütigen Herzens zieht der Mann von dannen. Doch kann er seine Geliebte nicht vergessen. So bleibt er allein und geht in sich.

Nachdem ein Jahr vergangen ist, macht er sich erneut auf den langen Weg zur Geliebten. Wieder klopft er an die Tür ihrer Hütte und bittet um Einlaß. Und wieder erklingt von drinnen ihre Stimme und er hört sie fragen: „Wer ist da?“

„Du bist es“, ist diesmal seine Antwort.

Leise öffnet sich von innen die Tür; die Geliebte ist bereit, ihren Liebsten zu empfangen.

Wolle die Wandlung

Vorbemerkung

In Rilkes Gedichten drückt sich nicht nur Meisterschaft der Sprache aus, sondern auch eine Inspiration durch den allumfassenden, das heißt, göttlichen Geist. Rilke vermag jene Erfahrungen einer hoch entwickelten Seele in Worte zu fassen, die sich dem einseitigen Zugriff des Denkens, dem männlichen Geist-Pol, entziehen. Oft schon habe ich bei der Rezitation einzelner seiner Gedichte die Erfahrung gemacht, daß die Hörer berührt sind, aber mental völlig frustriert, weil sie nichts verstehen. Viele wenden sich dann ab und verlieren das Interesse. So kann eine Erläuterung manchmal auch zur Läuterung beitragen, die Dominanz des Mentalen wird relativiert, indem es zum Zuträger des weiblichen Geist-Pols wird.

Da Rilke sich im dem folgenden Gedicht auch auf Daphne bezieht, noch eine kurze Information zum Hintergrund.

In der griechischen Mythologie ist Daphne (griechisch: „Lorbeer“) eine Bergnymphe und Priesterin der Mutter Erde. Der Gott Apollon verliebt sich unsterblich in Daphne, folgt ihr auf Schritt und Tritt und bedrängt sie. Daphne flieht vor dem liebestollen Freier, der jedoch nicht von ihr abläßt und sie verfolgt. Kurz bevor Apollon sie einholt, fleht sie ihren Vater an, er möge ihre – den Apollon reizende – Gestalt umwandeln. Als Apollon sie erreicht, hat sie sich bereits in einen Lorbeerbaum verwandelt. Seitdem ist ihm der Lorbeer heilig. Zum Gedenken an Daphne trägt er einen Lorbeerkranz oder auch eine mit Lorbeer geschmückte Leier.

Wolle die Wandlung.

O sei für die Flamme begeistert,

drin sich ein Ding dir entzieht,

das mit Verwandlungen prunkt;

jener entwerfende Geist,

welcher das Irdische meistert,

liebt in dem Schwung der Figur

nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt,

schon ist’s das Erstarrte;

Wähnt es sich sicher

im Schutz des unscheinbaren Grau s?

Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.

Wehe -: abwesender Hammer holt aus!

Wer sich als Quelle ergießt,

den erkennt die Erkennung;

Und sie führt ihn entzückt

durch das heiter Geschaffne,

das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.

Jeder glückliche Raum ist Kind

oder Enkel von Trennung,

den sie staunend durchgehn.

Und die verwandelte Daphne

will, seit sie lorbeern fühlt,

daß du dich wandelst in Wind.

Die Sonette (Klanggedichte) an Orpheus, 2. Teil, Nr. 12

Alles Leben ist stetige Wandlung.

Fortwährende Wandlung ist eine Eigenheit des Lebens, ständig sterben Zellen unseres Körpers ab, neue werden gebildet. Im Stoffwechsel wird alte Materie, altes Material, ausgetauscht gegen neues. Unsere Einstellungen und Überzeugungen ändern sich mit der Zeit, unser Denken, unsere Gefühle, unsere Körpergestalt. Solange wir leben, ist Wandlung unvermeidlich.

Als Mensch habe ich die Wahl!

Will ich diese stetige Wandlung oder will ich sie nicht, sage ich JA zu ihr oder sage ich NEIN, das ist meine Entscheidung. Wenn wir sie nicht wollen, können wir sie doch nicht verhindern, aber im Bewußtsein verschließen wir uns dann vor ihr. Die stetige Wandlung hört nicht auf, sie geht weiter. Doch unser Geist bemerkt sie nicht mehr, weil er sie in seine Dunkelkammer, in den unbewußten Teil, verdrängt hat. In der Folge haben wir Angst, denn wir erkennen die Gegenwart des Verdrängten nicht mehr, aber spüren sie noch. Wenn wir die stetige Wandlung wollen, sagen wir JA zu ihr, zu diesem Wesensmerkmal allen Lebens. In der Folge können wir uns dann sogar begeistern: für den Zauber ständiger Wandlung als des Lebens Prunk.

Wer ist der Meister des Irdischen?

Nur der allumfassende Geist vermag das Irdische zu erschaffen und zu meistern, er vereint in sich den weiblichen Pol, auch Leibseele genannt, und den männlichen Pol, der in der Tradition auch Geistseele genannt wird. Und dieser Meister liebt mehr noch als die schöne Figur, die reizvolle Gestalt, den Keim zu weiterer Wandlung. Verwirklichung des wahren Selbst bedeutet in der Welt der Formen daher, sich auf fortwährenden Wandel einzulassen. Eine Zumutung, zu der wir Menschen uns nur dann bereit finden, wenn wir in uns auch den Zugang zur unwandelbaren Stille gefunden haben – jenseits aller Formen: mit offenem Sinn tief nach innen eingetaucht. Nie bleibt der Lebensfluß stehen, außer in der Erstarrung. Jedes Festhalten an einer bestimmten Form des Lebens ist ein NEIN zu seiner fortwährenden Wandlung – zu diesem Wesensmerkmal allen Lebens – und führt unweigerlich zur Erstarrung. Und Erstarrung in einem Teilbereich ist bereits partieller Tod, vollkommene Erstarrung ist das vorläufige Ende des Lebens in der Welt, die ja eine Welt der Formen ist.

Unscheinbares Grau: was ist darunter verborgen?

Alles Erstarrte in uns wird unscheinbar, es hat die Strahlkraft des Lebendigen verloren. Erstarrung läßt uns nicht nur hart werden, sondern provoziert die überlegene Härte des Schicksals, die das Verhärtete in uns wieder aufbricht.

Zur Quelle werden!

Wenn wir an nichts mehr festhalten, werden wir eins mit dem Fluß des Lebens, wir werden selbst zur Quelle, die sich ergießt.

Wer erkennt den Menschen, der zur Quelle geworden ist?

Sofern wir das, was mit dem Wort Gott gemeint ist, nicht gänzlich aus unserem bewußten Leben verbannt haben, verbinden wir es oft mit einer persönlichen Vorstellung: Gott als Übervater oder als Übermutter oder als Freund oder Geliebter. Doch mit Gott ist das Unendliche gemeint, das in keiner persönlichen Form, in keinem Bildnis, zu erfassen ist. Natürlich kann sich das Unbegrenzte in jeder erdenklichen Form – also auch persönlich – manifestieren, aber nie kann es auf irgendeine Form festgelegt werden. Rilkes meisterhafte Formulierung deutet diese transpersonale Dimension des Göttlichen an: „den erkennt die Erkennung.“

Anfang und Ende.

Mit jedem Erscheinen einer neuen Form des Lebens auf der Bildfläche wird ein Zyklus im schöpferischen Geschehen abgeschlossen, während das Sterben einer alten Form oder ihr Verschwinden von der Bildfläche den Beginn eines neuen Zyklus markiert.

Glück ist Folge von Trennung.

Wenn wir uns wirklich, das heißt auch innerlich, getrennt haben von den liebgewordenen Formen, dann entsteht als Folge in uns ein freier Raum, es „gelückt“ uns, die Lücke zwischen Zeit und Ewigkeit schließt sich, und wir erfahren wahres Glück.

Zum Wind werden!

Daphne, die sich zum Lorbeerbaum verwandelt hat, „will …, daß du dich wandelst in Wind.“ Hier ist nicht von jenem Opportunismus die Rede, der sein Fähnchen stets in den Wind hält und dem „mainstream“ folgt, nein, ich selbst soll mich in Wind verwandeln. Wind als bewegte Luft ist ein himmlisches Kind – Folge der Sonneneinstrahlung – und seit altersher auch Symbol für Geist. Es geht darum, daß ich die Folgen der Ein- bzw. Ausstrahlung der geistigen Sonne, die im innersten Kern jedes Lebewesens wie eine Flamme brennt, mit jedem Atemzuge als unwillkürliche Atemströmung bzw. Strömung der Lebensenergie in mir wahrnehme und als Bewegung auf allen Ebenen des Lebens zum Ausdruck bringe: in meinem Denken, Fühlen und Handeln.

Das Geheimnis der Zufriedenheit

Geschichte aus der Tradition des Zen-Buddhismus (von mir nacherzählt und neu formuliert)

Es war einmal, daß Menschen, die lange schon aufrichtig nach der Wahrheit und den Bedingungen eines glücklichen und zufriedenen Lebens gesucht hatten, endlich zu einem weisen Meister fanden, der all das verkörperte, wonach sie gesucht hatten. So wurden sie seine Schüler.

„Meister", fragte einer von ihnen „wie ist es Dir möglich, so glücklich und zufrieden zu sein? Jeder von uns wäre auch gerne so glücklich und zufrieden – wie Du es bist."

Mit einem milden Lächeln im Gesicht antwortete der Weise: „Wenn ich liege und schlafe, dann liege und schlafe ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich das Haus putze, dann putze ich das Haus. Wenn ich Essen zubereite und koche, dann bereite ich Essen zu und koche es. Wenn ich dann esse, tu ich das: ich esse."

Die Schüler schauten etwas betreten in die Runde. Schließlich platzte einer von ihnen heraus: „Bitte, treibe keinen Spott mit uns! Was du sagst, tun auch wir. Wie Du schlafen wir, stehen auf, gehen, putzen das Haus, kochen unser Essen und essen schließlich. Aber nur selten sind wir glücklich und zufrieden. Was also ist Dein Geheimnis?"

Auch diese neuerliche Frage beantwortete der Meister gleichmütig: „Wenn ich liege und schlafe, dann liege und schlafe ich nur. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich nur auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich nur. Wenn ich das Haus putze, dann putze ich nur das Haus. Wenn ich Essen zubereite und koche, dann bereite ich nur Essen zu und koche es. Wenn ich dann esse, esse ich nur."

Nachdem er die suchenden Schüler in ihrer Unzufriedenheit und Unruhe eine Weile betrachtet hatte, fügte der Meister hinzu: „Sicher liegt und schlaft auch Ihr, Ihr steht auch auf, geht, putzt das Haus, bereitet das Essen und esst schließlich. Aber während Ihr aus dem Schlaf erwacht und noch liegt, denkt Ihr schon ans Aufstehen. Während Ihr aufsteht, überlegt Ihr, wohin Ihr gehen sollt, während Ihr geht, fragt Ihr euch, was Ihr essen werdet, während Ihr das Haus putzt, denkt Ihr an die Frau, die Ihr begehrt und während Ihr esst, erinnert Ihr Euch vielleicht an ein Festessen bei Eurer letzten Geburtstagsfeier. So eilen Eure Gedanken ständig voraus oder hinken hinterher. Ein Teil Eures Geistes ist nie ganz da, wo Ihr gerade seid, so daß Euch euer Wesen gespalten erscheinen muß. Doch Glück und Zufriedenheit im Lebens findet Ihr weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, nur im gegenwärtigen Augenblick – immer wieder aufs Neue. In dem Augenblick, wo Ihr Euch voll und ganz auf die Gegenwart einlaßt, verschwindet die Spaltung, findet Ihr zur Ganzheit des Wesens, zur Einheit allen Seins. Dann ist es euch gegeben, glücklich und zufrieden zu sein."

Und es will Vieles werden

Wir gehen immer verloren,

wenn uns das Denken befällt,

und werden wiedergeboren,

wenn wir uns ahnend der Welt anvertrauen

und treiben, wie Wolken in hellem Wind.

Und alle Grenzen, die bleiben,

sind ferner als Himmel sind.

Und es will Vieles werden,

doch wir ergreifen es kaum.

Wie lange sind wir der Erden

Ängstliche noch im Traum?

Fragwürdige noch wie lange,

jetzt, da sich schon alles besinnt,

da das, was einstens so bange,

schon klarer vorüberrinnt?

Daß uns ein Sanftes geschähe,

wenn uns der Himmel berührt,

wenn seine atmende Nähe

uns ganz zum Hiersein verführt.

Jean Gebser (1905-1973)

Ödipus – der Weg des Menschen

alter griechischer Mythos nach der Bearbeitung von Sophokles (ca. 429 - 425 v. Chr.) – von mir nacherzählt und neu formuliert

Ödipus wird als einziger Sohn des Königs und der Königin von Theben geboren. Sein Vater läßt im Einverständnis mit seiner Frau dem Neugeborenen die Füße an den Fersen durchstechen, zusammenbinden und ihn von einem Diener im Gebirge aussetzen. Auf diese Weise will er einer Weissagung des Orakels von Delphi zuvorkommen, nach der sein Sohn ihn töten und seine Frau, die Königin von Theben und Mutter des Kindes, heiraten werde. Aus Mitleid übergibt der Diener jedoch das neugeborene Kind einem Hirten, der es an das kinderlose Königspaar von Korinth weiterreicht. Ödipus wächst dort als Adoptivkind auf, ohne von seiner wahren Herkunft zu wissen. Die Adoptiveltern bewahren Stillschweigen und verlieren kein Wort darüber, daß sie nicht die leiblichen Eltern sind.

Erst als junger Erwachsener hört Ödipus von Gerüchten, wonach er nicht der leibliche Sohn seiner Eltern sei. Beunruhigt wendet er sich an seine Eltern, die er ja bisher für seine leiblichen Eltern gehalten hat, deren Antwort seine Zweifel aber nicht aufzulösen vermag. Also macht er sich auf den Weg zum delphischen Orakel, um es zu befragen. Dort wird ihm verkündet, er werde seinen Vater töten und seine Mutter zur Frau nehmen. Zutiefst erschrocken kehrt er nicht mehr in seine Heimatstadt zurück und sucht das Weite, um zu verhindern, daß sich die Prophezeiung erfülle.

Ohne ein Ziel vor Augen begibt er sich auf den Weg, der ihn im Gebirge schließlich zu einer Weggabelung führt, an der er sich für den Weg nach Theben entscheidet. Noch an der Weggabelung begegnet ihm eine Karosse, die von mehreren bewaffneten Dienern eskortiert wird. In barschem Ton fordert ihn der Wagenlenker auf, aus dem Weg zu gehen. Der Königssohn aus Korinth neigt zum Jähzorn, ob solcher Arroganz schwillt ihm der Kamm, und er fordert seinerseits den Troß auf, aus dem Weg zu gehen. Es kommt zum Kampf, in dessen Verlauf Ödipus die Diener, den Wagenlenker und den einzigen Insassen der Karosse tötet. Nur ein Diener kann entfliehen. Nichts ahnend, daß er soeben den König von Theben, seinen leiblichen Vater, getötet hat, setzt er seinen Weg nach Theben fort.

Vor den Toren Thebens führt sein Weg ihn zur Sphinx, einem geflügelten Ungeheuer mit Löwenleib und Frauenkopf. Die Sphinx hat den Bewohnern der Stadt Theben ein Rätsel auferlegt. Solange ihr Rätsel nicht gelöst ist, verlangt sie jeden Tag als Opfer einen jungen Mann aus Theben, den sie erwürgt und verschlingt.

„Morgens ist es vierfüßig, mittags zweifüßig und abends dreifüßig. Doch eine Stimme nur hat es. Von allen Geschöpfen ist es das einzige, das die Zahl seiner Füße wechselt. Wenn es sich vierfüßig bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder am geringsten. Was ist das?“

Die Lösung fällt Ödipus leicht und er antwortet sofort: „Der Mensch. Als Kleinkind krabbelt er auf allen Vieren, als Erwachsener geht er auf zwei Beinen und im Alter braucht er einen Stock als drittes Bein.“

Kaum hat Ödipus zu Ende gesprochen, da stürzt sich die Sphinx von ihrem Felsen in den Abgrund und stirbt. Theben ist für immer von dieser Geißel befreit und Ödipus erreicht wenig später die Stadt.

Ödipus wird als Held und Befreier begrüßt und der verwaiste Thron des Königs von Theben wird ihm angetragen. So kommt es dazu, daß die Königin von Theben – nach dem Tod des bisherigen Königs zur Witwe geworden – seine Gemahlin wird. In der Folgezeit zeugt er mit ihr zwei Söhne und zwei Töchter.

Jahre später wird Theben von einer rätselhaften Krankheit heimgesucht, einer sich ausbreitenden Unfruchtbarkeit bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Die Befragung des Orakels ergibt, daß die Götter erzürnt seien, weil der Mörder des früheren Königs sich unerkannt in der Stadt aufhalte und seine Tat nicht gesühnt sei. Erst wenn er erkannt und aus der Stadt gejagt sei, könne der Zorn der Götter besänftigt werden und ihre Strafe ein Ende finden.

Ödipus ordnet daraufhin eine Untersuchung des Falles an und leistet einen heiligen Schwur: er wolle nicht eher ruhen, bis er den Mörder des vorherigen Königs von Theben ausfindig gemacht und aus der Stadt gejagt habe. Um Licht ins Dunkel zu bringen, läßt er einen blinden Alten mit hellseherischer Fähigkeit zu sich holen und befragt ihn eindringlich nach dem Mörder des alten Königs. Der Alte scheint etwas zu wissen, doch weigert er sich zunächst, die wahren Zusammenhänge auszusprechen. Erst als er von Ödipus unter Druck gesetzt und bedroht wird, erhebt er seine Stimme und sagt an Ödipus gewandt: „Alles Übel, ich sage, in Dir – da ist es!“ Ödipus ist empört und wittert Verschwörung. Doch nachdem er sich an den Vorfall an der Weggabelung erinnert, stellen sich erste Zweifel ein. Von einem Boten aus Korinth erfährt Ödipus, daß er nicht das leibliche Kind des korinthischen Königspaars sei. Augenblicklich befällt ihn ein fürchterlicher Verdacht; dennoch bleibt er seinem Schwur treu und forscht weiter. Er will die Wahrheit herausfinden. Wie ein Blitz schlägt sie schließlich in sein Bewußtsein ein.

Als es keinen Zweifel mehr gibt, stürzt er entsetzt und wie von Sinnen ins Zimmer der Gemahlin und will sie umbringen. Doch auch sie ward im selben Moment vom Blitz der Erkenntnis getroffen. Als Ödipus sie findet, ist sie bereits tot; sie hat sich erhängt. Wild entschlossen sticht er sich die Augen aus und verläßt Theben als blinder Bettler, begleitet von seiner älteren Tochter.

Am Ende seines Lebens angelangt, erreicht Ödipus – mit königlichem Sinn – nach Jahren der Wanderschaft in Begleitung seiner Tochter den heiligen Hain von Kolonos, den Wohnsitz der göttlichen Eumeniden, der „Wohlwollenden“. Auch seine zweite Tochter findet sich dort ein. Erst nachdem er seine beiden Söhne verflucht und diese sich gegenseitig im Kampf getötet haben, ist er gänzlich geläutert und frei. Sterbend schon – offenbart er einzig dem herbeigerufenen weisen Freund das große Geheimnis des menschlichen Leibes. Danach nehmen die Götter ihn in den Kreis der Unsterblichen auf.

Ödipus steht für den Menschen schlechthin. Sein Lebensweg zeigt wesentliche Stationen der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins auf.

Ausgangs-Bedingungen als Früchte früherer Taten

Schon die Ausgangssituation bei seiner Geburt läßt deutlich werden, daß er nicht in einen leeren Raum hinein geboren wird. Vielmehr findet er in diesem Raum eine Konstellation von Bedingungen vor, die durch eine Vorgeschichte geprägt ist und sein weiteres Schicksal grundlegend beeinflußt. Daß das Orakel dem König von Theben weissagt, sein eigener Sohn werde ihn töten, falls er je einen Sohn zeuge, ist schon Folge früherer Begebenheiten. Unter dem Eindruck der Prophezeiung versucht der Vater, sich des Kindes zu entledigen.

Initiation: Anfang auf dem Weg der Bewußtseinsentwicklung

Daß er dem Neugeborenen die Füße an den Fersen durchstechen und zusammenbinden läßt, ist allerdings keineswegs damit zu erklären, daß er das Kind loswerden will. Vielmehr erhält Ödipus später seinen Namen als Folge dieser Behandlung: die verwundeten Füße schwellen an – Ödipus bedeutet „Schwellfuß“. Diese sonderbare Behandlung ist so etwas wie eine Taufe, ein Initiationsritus, der dem Kind den Namen gibt und in der Namensgebung etwas Wesentliches über die Seele des Kindes zum Ausdruck bringt. Schwellung erinnert natürlich auch sofort an den Schwellkörper, den Phallus, an die das Glied aufrichtende, also nach oben gerichtete Kraft des Lebens. Der Name „Schwellfuß“ weist daraufhin, daß diese nach oben gerichtete Kraft die Schritte und somit den Lebensweg dieses Menschen bestimmen wird, falls er überhaupt diese Anfangssituation überlebt.

Die wahren Eltern und ihre Stellvertreter

Und Ödipus überlebt, indem das Schicksal ihn der Obhut der Adoptiveltern anvertraut, die ihn wie ein eigenes Kind annehmen und aufziehen. Kahlil Gibran hat es in unübertroffener Schönheit der Sprache zum Ausdruck gebracht: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch …“ In diesem tiefen Sinn sind die Eltern eines jeden Menschen nicht seine wahren Eltern, sondern nur Stellvertreter, also gewissermaßen Adoptiveltern. Unsere wahren Eltern, von denen wir kommen, sind Vater Himmel und Mutter Erde: das Göttliche in seinem männlichen Aspekt, reiner Geist ohne Form, von nicht-greifbarer Anwesenheit erfüllte Leere – und das Göttliche in seinem weiblichen Aspekt, reiner Geist, der sich im ewigen Wandel der Formen offenbart, der sich von Augenblick zu Augenblick in eine Form ergießt, in Form hineinfließt – göttliche Information im ursprünglichen Sinn des Wortes.

Die Suche nach der Wahrheit

Erst als junger Erwachsener ist Ödipus bereit, einen Hinweis zu vernehmen, also in sein Bewußtsein einzulassen, daß seine Eltern vielleicht nicht seine wahren Eltern sein könnten. Am Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein öffnet sich das Bewußtsein für die grundlegenden Fragen des Menschseins: wer bin ich wirklich, woher komme ich, wohin gehe ich? Der Zweifel beunruhigt die Seele, doch bringt er sie auf den Weg der Wahrheitssuche. Ödipus will es wissen, die beschwichtigende Antwort der Eltern reicht ihm nicht. Er wendet sich an das Orakel in Delphi, jenen Tempel des Apollon, der im Dienste der Weissagung steht – einzig der Wahrheit verpflichtet.

Über dem Eingangsportal des Orakels von Delphi stand auf der Außenseite (also für jeden eintretenden Besucher lesbar) geschrieben:

„Erkenne dich selbst …“

und auf der Innenseite (also für jeden hinausgehenden Besucher lesbar):

„… und du erkennst Gott“.

Bewußtsein, Wahrheit und Illusion