„Zum Vorwort. Kein Selbstporträt, andere können das machen. Ich will nur versuchen, wie die Verhältnisse, in die ein Mensch gerät, den Menschen ändern und ihn zur Änderung der Verhältnisse treiben. Vielleicht ist auch für manchen von Nutzen, Erkenntnisse daraus zu ziehen, für eigene Entschließungen.“
Heinrich Vogeler1
1 Notiz Heinrich Vogelers in seinen Manuskriptblättern zum Erinnerungsbuch ‚Werden‘. In ‚Werden‘, S.502
Einleitung
I. Heinrich Vogeler - vom Jugendstil zu neuen Wirklichkeiten
1. Heinrich Vogeler an der Kunstakademie Düsseldorf (WS 1890/91 - WS 1894/95)
2. Mit Freunden in Holland (Sluis), Belgien (Brügge), Italien (Genua/Rapallo), Frankreich (Paris/Louvre)
3. Worpswede wird zur attraktiven Lebens- und Arbeitswelt (1893-1908)
II. Heinrich Vogeler beendet den I. Weltkrieg, Wende/Aufbruch
1. Heinrich Vogelers romantischer Appell an den Kaiser
2. Worpsweder ‚Barkenhoff‘ als Stätte der neuen Politik, Kunst und Kultur
3. Überwindung des Jugendstil im Leben und in der Kunst
III. Der Barkenhoff wird Kinder-und Arbeitsschulheim
1. Heinrich Vogeler entwickelt sich und den ‚Barkenhoff‘
Exkurs I
Arbeitsschulbewegung in der Weimarer Republik
2. ‚Barkenhoff-Kommune‘ und ‚Arbeitsschule Barkenhoff e.V‘
3. Reise in die Sowjetunion 1923
IV. „Zurück nach Deutschland…Britz, ein kleines winziges Häuschen“
1. Heinrich Vogeler in Berlin Britz, Onkel-Bräsing Str. 138, (1926/27 – 1931)
Exkurs II
Politisch - ökonomische Zusammenhänge in der Weimarer Republik. Die Phase der relativen Stabilisierung 1924-1929
2. RHD (Rote Hilfe Deutschland), KPD (Kommunistische Partei Deutschland), KPD(O)-Opposition, ASSO (Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands)
3. Erich Mühsam, Käthe Kollwitz, Erich Weinert, Clara Zetkin, Carl Meffert (Clément Moreau)
V. Heinrich Vogeler auf dem Weg zum sozialistischen Realismus
1. Malen in der Sowjetunion – „die Geburt des neuen Menschen“ (1925)
2. Die „Expressionismusdebatte“ (1938) und die neue Kunst der Zukunft
Epilog
Personen
Literatur
Die Schule machte mir viel Kummer. … Am schlimmsten war für mich der Zeichenunterricht. Da mußten mit Zirkel und Lineal Muster konstruiert werden. Das hatte ich mir ganz anders gedacht. … ich konnte mir kein Bild von meiner Zukunft machen. Der Vater hatte mich bei einem großen Bremer Handelshaus als Lehrling angemeldet, und ich hatte doch vor dem Zahlenaddieren und –subtrahieren ein wirkliches Angstgefühl. … Jetzt lernte der Vater seinen Sohn erst richtig kennen, das Verhältnis des Jungen zur Natur und auch seinen unabweisbaren Drang, zu zeichnen und zu malen. … Zu Weihnachten schenkte er mir einen Malkasten … Das geschah während der Weihnachtsfeier beim lichterstrahlenden Tannenbaum und wurde für mich ein unvergeßlich frohes Ereignis2
Aus diesen Worten des auf sein Leben zurückblickenden Heinrich Vogeler3 wird unschwer seine früh aufwachsende Passion deutlich, umso mehr als er es im späten Alter von 69 Jahren aus der sehr gegenwärtigen Erinnerung so emotional akzentuierend aufschreibt. Überdeutlich seine frühe intensive Beziehung zur Natur der Worpsweder Moor- und Torflandschaft und deren im Laufe seines Lebens immer verbleibend gene-rierender Konservierung als (vielleicht sehnsüchtig!?, rh) zärtlichsinnlichem Heimatgefühl, nicht nur zuletzt in der weit entfernten Steppe Kasachstans 1942.
Hier scheint tatsächlich sein Fundament für seine folgenden Werke und sein Wirken originär begründet. Ebenfalls damit entscheidend seine Entwicklung in und aus Worpswede, sein künstlerisches Schaffen als Jugendstilkünstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie als expressionistischer Kunstmaler, dessen Politisierung 1906/08 beginnend mit der bitteren Erfahrung des I. Weltkrieges seine Fortsetzung fand. Daraus gewonnene Erfahrungen und Erkenntnisse leiten eine radikale Wende ein, die im ihn schon immer begleitenden Bruch mit dem ‚Romantischen‘ virulent wird, wobei die literarischen Begegnungen mit Heinrich Heine und Maxim Gorki dabei auch eine Basis bilden. Konsequent darauf aufbauend ein zunächst wild romantischer Begriff von ‚Kommunismus‘ als notwendige Lebensgemeinschaft der Menschen, dem dann die ‚Arbeitsschule Barkenhoff‘, das kommunistisch orientierte Schul, Arbeits- und Erziehungsheim Barkenhoff folgt. Dessen aktiver Mitbegründer der nun kommunistische Künstler Heinrich Vogeler ist.
Diese Arbeit wird darstellen, in welchem Spannungsfeld Heinrich Vogeler in der Lage war, diese Entwicklung zu realisieren und wieweit es ein Bogen blieb zwischen Bohème und Sozialismus, inwieweit trotz überzeugtem Sozialist/Kommunist-Sein, seine Sehnsucht und seine Heimat immer Worpswede und dem ‚Teufelsmoor‘ galt, sozusagen als romantischer Sehnsucht, und in Wirklichkeit immer parallel seine Frau Martha mit den drei Töchtern als heimliche, konservierte Liebesbeziehung.
Das heißt allerdings nicht, gar nicht, dass sein Leben aus dieser Sehnsucht determiniert, gar vielleicht unlebenswert enttäuschend gewesen wäre. Nein, diese war genauso Motor seiner unendlich scheinenden Produktivität wie sein real existierendes fortschrittlich fortschreitendes Leben, in Deutschland wie ab 1931 endgültig in der sozialistischen Sowjetunion, im Aufbau des Sozialismus nach der Oktoberrevolution von 1917.
In ausgesuchten Schwerpunkten werde ich Heinrich Vogeler begleiten. Als da sind die frühe künstlerisch-jugendstilistische Entwicklung zum Expressionismus, die Entwicklung der Arbeitsschule zum kommunistischen Arbeitsschulheim aus der Tradition der bürgerlichen Reformschulbewegung um G.M. Kerschensteiner zu der kommunistischen um E. Hoernle und P. Blonski. Angesicht der sog. ‚Expressionismusdebatte‘ mit der Zielorientierung einer Theorie und Praxis zum sog. ‚Sozialistischen Realismus‘ in Deutschland und in der SU, bezogen auf die bildende Kunst und Literatur, wie natürlich der Arbeits- und Wohnsituation in Berlin-Britz mit Freunden in den 1924-27iger Jahren bis zu seiner endgültigen Übersiedlung in die SU 1931.
Etwas despektierlich will ich fortlaufend für Heinrich Vogeler das Kürzel HV ohne Anführungsbezeichnung verwenden, womit mich persönlich eine gewisse zustehende Intimität verbindet, die mir aber mit dem Gebrauch seines von Düsseldorfer Malerfreunden zugedachten ‚Mining‘4 anmaßend erschiene.
Der Titel des vorliegenden Buches beinhaltet bewusst eine in sich widersprüchliche Doppeltheit: Bohème & Sozialist, die beabsichtigt, Widerspruch und Entwicklung im Leben und künstlerischem Arbeiten des Heinrich Vogeler verdeutlichen soll. Es ist nicht nur bürgerlich wohlfeile Geradlinigkeit in seinem Denken und Handeln als Citoyen und als Künstler, er ist nicht nur ein Vertreter der Worpsweder Künstlergemeinschaft und des ‚Jugendstil‘ (so leider in einem touristischen Ortsplan Worpswede wie in dem KulturLand Veranstaltungskalender bezeichnet!5), vielmehr darüber hinaus und widersprüchlich im Leben als Individuum Heinrich Vogeler, als Künstler und als politischer Mensch, der sich in die Lage entwickelte, sein Denken und Handeln in den Dienst zum Fortschritt des Menschen und des Menschen in der Gemeinstchaft entsprechend den Zeitumständen zu verändern. In solcher Betrachtung stellen seine Widersprüche, wie es ja oft in der bürgerlichen Wissenschaft gerne konstatiert wird, keine Fehler in der Logik an sich dar oder begründen sich vornehmlich in persönlichen Krisen, sondern sind eher produktiver Motor seines Seins und Wirkens6, wie auch natürlich Früh- und Spätzeiten seines Denkens und Schaffens als solche historisierend anerkannt und respektiert werden müssen.
Dem adäquat muss natürlich die literaturwissenschaftliche Arbeitsweise ausgerichtet werden. Diese wird inhaltlich-thematisch der künstlerischen und politischen Lebensentwicklung gerecht als sie sich ausrichtet an einem Lebensverlauf in Widersprüchen und einem als entwicklungsoffener Prozess. Methodisch die Bestandteile dieses Lebens benennen, analysieren und als Teil im Ganzen, sowie das Ganze betrachtend. Dialektik und Komparatistik bilden sozusagen die methodisch-funktionale Technik, um intersubjektiv historisch die Erscheinung der Dinge in ihrem Wesen zu entdecken und darzustellen. Diese Vorgehensweise wird zeigen können, dass Heinrich Vogeler keiner ideologischen Inanspruchnahme und keiner publikumswirksamen opportunen Determination bedarf, um sein Leben und künstlerisch wie politisches Wirken zu verklären.
Wichtig erscheint mir hier noch der Hinweis, dass ein latenter Antikommunismus bezogen auf die Entwicklung Vogelers zum Kommunismus und seinem Leben in der Sowjetunion nach 1931, der besonders in den Büchern von Heinrich Wiegand Petzet und David Erlay7 lesbar ist, wissenschaftlich als unseriös und politisch als undemokratisch eingeordnet wird. Eine solche bewusste Sicht- und Darstellungsweise aus dem Hintergrund ohne konkrete Quellenanalyse trägt in keiner Weise zur Öffnung des Voglerschen Lebens bei, dem mit Respekt und auf gleicher Augenhöhe begegnet werden muss.
Letztendlich und schließlich soll dieses Buch zu eben dieser Öffnung beitragen und ein ehrender Beitrag im Rahmen des 140sten Geburtstages und zum 70sten Todestag 2012 sein, an sein Leben und sein Werk.
2 Heinrich Vogeler, Erinnerungen (Hrsg. Erich Weinert). Berlin 2.A. 1962. S.25 u.28f
3 Neben den von Erich Weinert im Auftrag von Wilhelm Pieck herausgegebenen ‚Erinnerungen‘ von 1952, liegen weitere darüber hinausgehende, von Heinrich Vogeler gesammelte Lebenserinnerungen als Buchkompendium mit dem Titel ‚Werden‘ vor, die erstmals 1989 von J. Priewe und P.-G. Wenzlaff neu herausgegeben wurden. Auf beide Ausgaben beziehe ich mich im Verlaufe dieser Arbeit als maßgeblicher Primärquelle.
4 Man taufte uns Hanseaten mit Spitznamen, mit ‚Lining‘ und ‚Mining‘, nach Fritz Reuter, in dessen Werken diese beiden als Druwäppel (die beiden am Zweig zusammen gewachsenen Äpfel) bezeichnet sind. Die Bezeichnung ‚Mining‘ blieb für immer an mir hängen.In: Heinrich Vogeler, ‚Werden. Erinnerungen.‘ Mit Lebenszeugnissen aus den Jahren 1923-1942. (Hrsg. Joachim Priewe und Paul-Gerhard Wenzlaff) Berlin 1989.
S. 24
5 Worpsweder Touristik- und Kulturmarketing GmbH.O.J., ‚Ortsplan Worpswede, Rundgang 1, Nr.6‘: … Die Architektur, die Innenausstattung des Hauses sowie die Gartengestaltung bieten Einblick in das Schaffen des Jugendstilkünstlers.Und in ‚KulturLand.100 Jahre Worpsweder Bahnhof.‘ Januar-März 2011: Geführter Spaziergang auf den Spuren des Jugendstilkünstlers Heinrich Vogeler…, S.19
6 Dies geschieht dann nur im Ansatz im o.a. Worpsweder Veranstaltungskalender unter der Überschrift ‚Heinrich Vogeler – vom Jugendstil zum Expressionismus. Gemälde, Grafik und Kunsthandwerk.‘ Vgl. a.a.O., S. 23: Gemälde und Grafiken der frühen, poetischen Jugendstilzeit, … Doch auch das spätere Leben Heinrich Vogelers, das nach persönlichen Krisen und den erschütternden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges einen neuen künstlerischen, expressionistischen Ausdruck hervorbrachte und zur Gründung der Barkenhoff-Kommune führte, wird hier präsentiert.
7 Heinrich Wiegand Petzet, Von Worpswede nach Moskau. Heinrich Vogeler. Ein Künstlerzwischen den Zeiten. Köln 1972; David Erlay, Von Gold zu Rot. Heinrich Vogelers Weg in eine andere Welt. Bremen 2004
HV orientierte sich von Beginn an der sogenannten präraffaelitischen8 und jugendstilistischen Kunstlinie des ausgehenden 19., in Folge dann innerhalb der expressionistischen, bzw. expressionistischen des beginnenden 20.Jahrhunderts. Er befand sich somit, auch nachweislich in Übereinkunft mit seinem bürgerlichen Denkens- und Lebensstil, im romantisch-märchenhaftreligiösen Stil künstlerisch Zuhause. Gleichzeitig war es natürlich auch Ausdruck der Suche nach dem Schönen und Guten im Einklang mit dem des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert, um die Suche nach Erfüllung einer maaslosen (sic) Sehnsucht nach Harmonie9. Zeugen dessen sind seine Landschaftsbilder der Moorlandschaften um Worpswede, seine ‚Barkenhoff-Gartenbilder‘ mit und ohne Personen in bunt verklärten Farben, seine ‚Melusinen‘-und‚Ritterbilder‘ im hellbläulichgrün-rötlichen Farbton wie seine Personenporträts als Ölgemälde (etwa 1896-1908) parallel und folgend als Radierungen (etwa1895-1899) und als sich nahtlos anschließende Federzeichnungen und Illustrationen für den Insel Verlag u.a.(etwa ab 1900). Beinhaltend natürlich Stile wie Themen zeit- und stilübergreifend.
Es ist noch eine Kunstauffassung, die rein subjektiv ausgerichtet ist, wodurch das Wesen der realen Dinge allein durch die künstlerische Gestaltung mit bestimmten Techniken überhaupt erst ihren Ausdruck findet. Das Dargestellte entspricht überhaupt erst durch den Akt der künstlerischen Darstellung dem Wesen der Dinge. Das heißt, die gemalte Erscheinung ist das Wesen der Dinge durch die subjektive Tätigkeit des Künstlers, nicht aber, und dann wäre es nach HV keine bildende Kunst, als hinein komponierte subjektive Sicht. Somit beabsichtigt seine konstruierende Maltechnik eine – in der Wirkung – fraglose Objektivität! Und diese Objektivität ist schön, gut und ist romantisch und eben nicht die schöne Anschauungsform von Realitäten.
So erklärt sich, dass ein kleines Bauernhaus am Osthang des Worpsweder Weyerberges, sein Heim, lange Zeit im Fokus seiner romantisch gestaltenden Kunst stand, mit dem er sich als Künstler und ganz persönlich in einem organischen Zusammenhang verstand:
… ich glaube, wenn Sie jetzt mein Haus sehen, werden Sie das Gefühl schnell begreifen, da sitzt ein Stück von mir; … meine ganze Seele wohnt hier.10
Allerdings, auch die Abgrenzung von der umgebenden Realität wohnte hier als künstlerische Gestaltung in Mauern, Zäunen und Hecken, gleich einem Stück Biedermeierzeit mit seinen patriarchalisch traulichen Stuben samt der äußerlichen Erscheinungsweise des Hausherrn mit seinen Vatermördern und seiner dicken Cravatte, mit seinem langen, sammetkragigen, breitschossigen Rock, wie der Kunsthistoriker Richard Muther es für diese Zeit wohl richtig einordnete.11 Auch hier scheint HV von den englischen Präraffaeliten beeinflusst zu sein, wie wohl einer von ihnen, William Morris, 1860 sich sein sogenanntes »Red House« nach seinen eigenen Entwürfen im romantisch-biedermeierlichen Stil hatte errichten lassen, was den Künstlerfreund Gabriel Rossetti zu der Aussage veranlasste, es sei mehr ein Gedicht als ein Haus. Nicht nur das Haus gestaltete HV, sondern, wie Siegfried Bresler kommentiert, ebenfalls die Inneneinrichtung, den Garten und seine Frau als lebendes Zubehör.12
Sein eigener Lebensrückblick ist dafür der eigentliche Beweis, denn dort verdeutlicht er die Spannung zwischen seiner Zielvorstellung, der Realisierung und der notwendigen Kursänderung des Künstlers und Menschen HV:
Immer hatte dem Johannes13 der romantische Gedanke vorgeschwebt, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen. Träume in Wirklichkeiten zu verwandeln und diese Wirklichkeiten der Geliebten (Martha, rh)zu Füßen zu legen. … Die Quelle seiner Arbeiten war aber immer nur sein privates Leben. … So vervielfältigte sich die ursprüngliche Natur unter der gestaltenden Hand des Malers und wuchs als eine Geschlossenheit organischer Zusammenhänge mit dem Wohnhaus zu einer Einheit, in der der Mensch wandelte wie in einer abgeschlossenen Welt.14
Lasse ich zunächst die hier folgend formulierte Abkehr von dieser romantischen Vorstellung von Einheit und Geschlossenheit für einen späteren Zeitpunkt außer Acht, so verbleibt an dieser Stelle die Fragestellung nach Überhöhung und Verklärung der Wirklichkeit als widersprüchlich zu seiner originären Kunstauffassung, mindestens aber die Überprüfung des Satzes, der im Ausstellungskatalog von 1989 als Quintessenz der frühen Voglerschen Kunstauffassung formuliert ist:
… die Wahrheit ist das in der Kunst Gezeigte, weil es das in der Kunst Gezeigte ist.15
Ich meine, es bleibt Überhöhung und Verklärung in zweierlei Hinsicht: bezogen auf seine ‚Geliebte‘, die in seinen Werken Martha als Martha und in anderen romantischen Figuren ein Gesicht oder das Gesicht zur Figuration bekommt – Marthas‘ Leben als Kunstwerk -, wie in der Verkleidung und als Verkleidete in hintergründig dargestellten Märchen und Sagen, sozusagen geradezu als heroisierende Mythologisierung. Ganz dazu einpassend die eigenen Entwürfe ihrer Kleidung. Im Sinne jugendstilistischer Bewegung das sog. ‚Reformkleid‘, das das einschnürende Korsett ablösen sollte durch faltenreich fallende Stoffe mit einem direkt unter der Brust endendem Oberteil, verziert mit Applikationen oder Stickereien in Blüten- und Blattmustern.
Martha Vogeler gab sich sehr ansehnlich in dieser Ausstattung, die auf vielen Bildern HV’s zu bewundern war. Auch eine Aura natürlicher weiblicher Erotik sollte sich so gegen bürgerliche Prüderie durchsetzen. Entsprechend der verliebtvergötternden Lebenssituation auch schreibend in seinem, seiner geliebten Martha gewidmeten Gedichtbändchen ‚Dir‘ aus dem Jahr 189916
Vor allem aber grundlegend zu dieser Zeit bezogen auf den Ausdruck einer/seiner persönlichen Empfindungen, deren Ursache seine innerste Stimme sei, wie er es beispielsweise in einem Brief an Martha Vogeler 1910 geschrieben hatte.17 Was dazu führte, sich in Fantasien und Gleichnissen als Formen vergangener Zeiten auszudrücken. Diese Aussagen sprechen natürlich für eine Art Überhöhung und Verklärung, erzeugen somit auch früh schon einen darin mitschwingenden Widerspruch, der sich später als Wende- und Aufbruchpunkt in seinem Leben bahn bricht. Denn, natürlich entspringt eine innerste Stimme und persönliche Empfindung einer romantisch verklärten Kunstauffassung, eben ganz zeitgeistig, und ist auch in der Wirkung gänzlich biedermeierlich, dient sie doch gerade nicht dazu, erst durch die künstlerische Darstellung das Wesen der Dinge dem Betrachter zu entkleiden, eher schützend glorifizierend zu verkleiden. Insofern hat dies gleichermaßen parallel zur übrigen künstlerischen Tätigkeit verbindende Gültigkeit für die oben beschriebene Geschlossenheit seines neu komponierten ‚Barkenhoff‘, in dem der Mensch wandelte wie in einer abgeschlossenen Welt.18
Die obige Aussage von 1989 stellt sich somit bis hierher als durchaus richtig heraus, wodurch sie allerdings nicht als fehlerhafter Gegensatz zu HV’s originär naturgebundener Kunstauffassung bezogen auf deren Wirklichkeitsdarstellung ohne subjektive Interpretation existiert, sondern bei bleibend gültigem Anspruch als prozesshafter Widerspruch zu charakterisieren ist, der zwar graduell differenziert in künstlerischen Darstellungen deutlich erscheint, dennoch gleichbleibend existent und seinem originären Wesen nach Motor seiner künstlerischen Produktivität und Entwicklung ist. Umso mehr ist das weiter folgend so mitzudenken als eine andere Aussage HV’s dieser beanspruchten Objektivität des Dargestellten wiederum subjektiv völlig entgegengesetzt und widersprechend erscheinen muss:
Man muß die Natur vergewaltigen können … um den Extrakt seiner Empfindungen geben zu können. … concentrirt … intim naturalistisch durchgezeichnet.19
Das fordert eine genauere Betrachtung und Bestimmung heraus. Ich meine, nachweislich ganz im Verständnis HV‘s, dass die Natur in ihrem aktuellen gegenständlichen Sein in der Betrachtung unabänderbare natürliche Wirklichkeit sui Generis ist. Sie zu vergewaltigen hieße dann im Wortsinn, sie im individualegoistischem Duktus und leidenschaftlicher Lust verändernd zu gebrauchen, um wiederum durch diesen Akt den Extrakt seiner eigenen (wiederum egoistischen, rh) Empfindungen darin und damit concentrirt zu äußern. Künstlerisch-technisch intim naturalistisch durchgezeichnet, also vergewaltigt, bis zur gewollt beabsichtigten Darstellung ebensolchen auf die eigene Empfindung beruhenden Extrakts. Angenommen, dies ließe sich als Deutung so akzeptieren, würde es für die Kunstkonzeption HV’s in der Frühzeit heißen müssen, dass eben das Gezeigte nicht das Wesen des Gezeigten ist, weil nach individual-subjektiver Empfindung, neu interpretierend (sprich ‚vergewaltigend‘, rh) und technisch manipulierend das Bild als neu erschaffene, also sozusagen zweite Wirklichkeit entstünde. Ein solcher schöpferisch-schaffender Akt des Künstlers korrespondiert durchaus, ausgenommen natürlich die hier pointierte Wortwahl HV‘s, der Hegelschen Ästhetik, also dem Bild als neu geschaffener Erscheinung, nicht aber schon dem hinter dem Bild liegenden Wesen des Dargestellten. Bei HV hinzu kommend und den, seinen, Widerspruch beschwerend, dass er ganz im präraffaelitischen Sinne in die Szenerie seiner Bibel-, Sagen- und Märchenthemen die Wirklichkeit seiner realen Umgebung hinein komponiert. Nach den ersten Begegnungen mit Martha Schröder 1894/95 ihr Gesicht, ihre Gestalt und die sie gemäß seiner Empfindung umgebende Aura in meist scheinender madonnenhafter Verklärung. Exemplarisch verdeutlicht sich das in den Bilddarstellungen Heimkehr (1898), Abschied (1898), Verkündigung Mariä (1895/1901), Frühling (1896/1898) oder Liebe (1896) bzw. Liebespaar (1901)20 Betreffend also hauptsächlich seine Gemälde, Radierungen und Federzeichnungen, die kunsthistorisch eher dem Jugendstil als schon dem sich entwickelnden Expressionismus zuordenbar sind. Damit wurde HV über die deutsche Kunstszene bekannt und geschätzt, was sich dann Jugendstil affin in einem Artikel der englischsprachigen Kunstzeitschrift The Studio aus 1899 folgerichtig las:
Sein Auge und sein Herz sind voll des lachenden Sonnenstrahls und dem Gesang der Vögel, voll von Frühling und Liebe. Seine Radierungen berühren uns wie alte Volkslieder, wie die Melodien von Schuhmann und Brahms, denn in ihnen ist Musik und Poesie vereint. Möge er so weiter träumen mit seinen weit offenen, jungenhaften Augen – denn so schaut er alle Dinge an: möge das Schicksal verordnen, daß seine reine Frische nie besudelt wird …21
Natürlich widerspiegelte diese Wertschätzung wie auch sonstige berauschenden Erfolge in deutschen Ausstellungen in Bremen, Berlin oder auch in München den Zeitgeist des kunstinteressierten Bildungs- und Handelsbürgertums, das zwar den atypischen Rückgriff auf italienische Malerei des 15. Jahrhunderts fragend begleitete, dennoch aber die darin innewohnende Suche nach schöner Zeit und Kunst mit konservativen Werten erkannte und wohlwollend akklamierend anerkannte. Erkennbar wird auch, dass Techniken und Formgebung des künstlerischen Ausdrucks durchaus polyfunktional sein können, die zwar durch die jeweilige Zeitepoche determiniert erscheinen, sich letztendlich aber aus der bewussten Entscheidung des wirkenden Künstlers in seinen Arbeits- und Lebenszusammenhängen entwickeln. So führte beispielsweise die Verbindung zu Hans am Ende vor Ort dazu, dass letzterer HV in die Radiertechnik einführte und ihm zunächst dazu nötiges Material wie Radiernadeln und Druckplatten zur Verfügung hielt. Damit hatte sich ein noch weitergehender Effekt in seine künstlerische Arbeit gemischt, nämlich der der Verteilung und Vervielfältigung. Die Technik der Druckgraphik erlaubte nun eine massenhafte, immer wieder generierbare Reproduktion des Originals, sodass HV angesichts der Verbreitung gar von einer socialen Malerei zu sprechen wagte.
Die hier einführend gemachte Charakterisierung gilt für den jungen Künstler HV nach der Düsseldorfer Akademie 1894/95, seinem darauf bald folgenden Einzug in Worpswede und dem intensiven Kontakt mit den dort bereits malend-gestaltend arbeitend-lebenden Künstlern wie Hans am Ende (1864-1918), Fritz Overbeck (1869-1909), Fritz Mackensen (1866-1953), Carl Vinnen (1863-1922), Otto Modersohn (1865-1943) und ab September 1898 Paula Becker (1876-1907). Ebengleich mit der entbrennenden Liebe zur jungen Martha Schröder dort bereits im Jahr 1894, mit dem Kauf einer Bauernkate am dortigen Weyerberg 1895 und deren Ausbau („Heim“) zum ‚Barkenhoff‘ Ende des Jahrhunderts und schließlich der Heirat mit Martha Schröder im März 1901.
Wilhelm von Humboldt führte im 19.Jahrhundert die Begriffe der Historizität und Intersubjektivität in die philosophische Betrachtung der Sprachentwicklung als permanenten Prozess ein. Ich will diese Begrifflichkeit hier nutzen, um den dazu affinen Prozess menschlicher und künstlerischer Tätigkeit in deren eigenen und in dessen Eingebundenheit in den darüber stehenden Zusammenhang darzustellen und zu analysieren. Nicht idealtypisch idealistisch, sondern grundlegend materialistisch gesellschaftsbezogen, zeitgeistig.
HV’s subjektiver Objektivismus unterlag bis hierhin einer Gleichsetzung von Anschauung und künstlerischer Darstellung, weitgehend noch ungeachtet der Inbezugnahme bereits veränderter gesellschaftlicher und eben auch persönlicher Bedingungen. Vielmehr scheinen überhöhende und verklärende Darstellungen die Distanz zwischen der Welt des Heinrich Vogeler und der seiner künstlerischen Darstellung als zwischengeschobene, eigenständige Welt gelten zu sollen. Denn nur so wird erklärbar, warum eine schöne in einer nicht mehr schönen Welt gezeigt wird und warum HV eine madonnenhaft glorifizierende Martha in seine Werke hinein komponiert – eben als sozusagen künstlich geschaffene Martha zwischen ihm und der realen Martha Schröder -, die eigentlich schon längere Zeit der Realität entsprechend dieser romantisch schönen Anschauung entbehrte. Spätere Aussagen werden das aus seiner Rückschau belegen. Es ist die Realwelt in der Gesellschaft, die reale Lebenswelt auf dem ‚Barkenhoff‘, die empathische Distanz der Eheleute Vogeler, wobei HV wohl gar kein ‚Ehe‘-Partner sein wollte/konnte, sich dennoch danach sehnte. Besonders aber nach der verantwortungsvoll-zärtlichen Aufgabe des Vaters, der er aber auch nicht in erwünschter empathischer Rolle gerecht werden konnte/wollte. Das führte bei seinen permanenten Fluchtversuchen immer wieder zu heftigen moralischen Schuldgefühlen.
… als ich wieder einmal alles von mir geschoben hatte, um Abstand von meinem Leben zu bekommen …Wie fern bist du von mir, mußte ich denken, denn das Bild meiner Kinder stand vor mir, die drei, die mit inniger Liebe an der Mutter hingen, ich kann und will in diesen jungen Leben nichts zerstören, ich kann ihr Leben nicht verlassen, ich muß bei ihnen sein;
muß an ihrer Zukunft bauen, auch aus den Bruchstücken des Lebens werde ich noch gestaltende Kraft schöpfen.22
Er suchte den Ausdruck für seine gegenwärtigen und zukünftigen Empfindungen als permanente intellektuelle Leistung gerade in der Sprache und im Bild. So erschien Martha als glorifizierte Madonna unantastbar, das weiblich-sinnliche der Geliebten, aber begehrlich erotisch im Bild:
und in der Sprache des Gedichtbändchens ‚Dir‘:
Schwarzes nächtiges Thal, lichtübersät
Der Nachtigall lockendes Schlagen,
Ein Suchen, ein Finden,
Ein Schmiegen, ein Pressen,
Weich legt sich Dein zitternder Arm
Um meinen gebeugten Nacken.23
Wär‘ ich der Rose gleich,
Die Deine Lider kühlt,
Die still auf Deiner Brust
Den Schlag des Herzens fühlt …24