Gitta Kistenmacher

SITZEN

Meditationspraxis

Yogatypische und buddhistische Praktiken

Books on Demand

Inhalt

Vorwort

Als Yogalehrerin gehe ich das Thema Meditation zunächst aus yogischer Sicht an, orientiere mich aber in meiner Übungs- und Unterrichtspraxis nicht ausschließlich an yogatypischen Meditationsformen, sondern auch an Praktiken der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation.

Es hat sich gezeigt, dass die pragmatische Herangehensweise des Buddha einem westlich geprägten Menschen den Zugang erleichtert.

Auf dem Yogaweg vertiefen sich Asana-, Pranayama- und Meditationspraxis gegenseitig und somit ihre Wirkung insgesamt. Traditionell wird Meditation als Vollendung yogischen Übens begriffen. Hier wird seit jeher auf den Atem meditiert, bis dieser zur Ruhe kommt und Geistesstille eintritt.

Weniger schlicht gestalten sich die Meditationsmethoden der tantrischen Tradition, welche auch den Hathayoga hervorgebracht hat und mit ihm ein komplexes Übungssystem. Reich an Symbolen, Sinnbildern und zauberhaft anmutenden Bedeutungsbezügen initiieren hier Chakra-, Yantra- oder Lichtmeditation (ekstatische) Einheitserlebnisse, die längerfristig mit Hathayoga unter Einsatz des Körpers vorbereitet wurden.

Der Methodenreichtum sowohl einer yogischen als auch einer buddhistischen Meditationskultur zeugt von der Bedeutung, die das Meditieren damals wie heute für Menschen auf dem spirituellen Weg hat.

Mit diesem Praxisbuch werden sowohl Einsteiger als auch erfahrene Yogins Schritt für Schritt ans „Sitzen“ herangeführt. Es liefert grundlegende, vor allem auch alltagsbezogene Informationen zum Verständnis, worum es beim Meditieren geht. Sie finden sehr praktische Tipps und gut nachvollziehbare Anleitungen. Der hintere Teil bringt zudem gewagte Exegesen zu den Grundlagen indischer Meditationskultur.

Yogalehrern sei dieses Buch als Studienmaterial und zur Vorbereitung ihrer Kurse und Workshops empfohlen.

Gutes Gelingen wünscht Gitta Kistenmacher!

om shanti

Zur Schreibweise der Sanskritbegriffe

Es wurde darauf verzichtet, die Sanskritwörter mit ihren diakritischen Zeichen zu transkribieren, obwohl diese eine bedeutungssignifikante Funktion haben, wie z. B. kali = „Streit“ und kali mit langem Vokal = bekannte Gottheit. Zudem gibt es zwei verschiedene Ts und drei verschiedene Ss. In Sanskrit werden alle Wörter klein geschrieben. Eigennamen und Gottheiten, sowie eingedeutschte Begriffe sind – wie allgemein üblich – groß geschrieben: Shiva, Shakti, OM, Mudras, Asanas, Pranayamas, Chakras - letztere im Plural mit „s“, als Sanskritvokabel ohne „s“. Alle Sanskritwörter sind kursiv gesetzt und werden hinten im Glossar übersetzt, eingedeutschte Begriffe sind nicht kursiv.

Kapitel I

VORBEREITUNG

I. 1. Wozu meditieren?

Einleitung

Eine regelmäßige Übungspraxis bringt Struktur in unser Leben. Die zuverlässige Wiederkehr des Wohltuenden schenkt Zuversicht und gibt uns Halt im stressigen Alltag.

In Kontakt mit unserer Energiequelle erkennen wir unsere persönlichen Aufgaben deutlicher. Wir finden Inspiration und Unterstützung für deren Bewältigung. Vieles gelingt müheloser, weil sich unsere Haltung ändert und wir im Umgang wohlwollender werden. Selbst profane Ereignisse werden durch meditative Betrachtung in ein kraftvolles Licht gerückt.

Meditieren ist besser

Womit beschäftigt sich Meditation?

Meditation beschäftigt sich mit den essenziellen Fragen: Wie funktioniere ich? Was geht in mir vor? Wer oder was ist „Ich“? In welcher Beziehung stehen Körper, Atem und Geist zueinander? Welche Beschaffenheit haben Gefühle und Gedanken? Wie nehme ich wahr, also wie verhalten sich Gefühle und Gedanken im Verhältnis zu Sinneseindrücken? Worauf beruhen Wohlgefühl und Glück, und wie kann ich diese Bedingungen schützen? Worauf beruhen Unwohlsein und Unglück, und wie kann ich deren Bedingungen vermeiden? Welches sind meine Aufgaben, und wie gelingt es mir, diese zu erfüllen? Wie komme ich zur Ruhe?

Warum sind wir zerstreut?

Unser Geist ist zerstreut durch die Sinneskontakte Sehen, Hören, Riechen und Fühlen. Jeder Sinneseindruck, also Informationen, die über äußere wie innere Sinnesorgane im Gehirn eintreffen, löst unwillkürlich ein Gefühl in uns aus. Es ist entweder angenehm, unangenehm, neutral oder gemischt.

Daraufhin läuft ein schnelles und unwillkürliches Programm ab. Im Normalfall reagiert unser Geist auf Gefühle stereotyp: Das Angenehme gefällt uns, was der yogischen Kategorie raga „Zuneigung, Anziehung, Attraktion“ entspricht, während das Unangenehme stört und in die Kategorie dvesha „Abneigung, Abstoßung, Aversion“ fällt.

Dieses Reiz-Reaktionsschema ist durchaus notwendig, sinnvoll und nützlich zur Sicherung unserer Existenz. Es warnt einerseits vor Lebensgefahr (unangenehm), was die Gattung Mensch schützt und weist andererseits den Weg zum Genuss (angenehm), was die Gattung Mensch erhält.

Würde ein Sinneseindruck in uns immer ein neutrales Gefühl auslösen, bliebe unser Geist vielleicht ruhig und gelassen, aber wir hätten keinerlei Antriebskraft. Wir wären gleichgültig, interesse- und leidenschaftslos. Uns fehlte jede Neugierde, vielleicht auch jeglicher Appetit, kurz: Man würde uns zum Arzt schicken. Das Umherschweifen des Geistes ist quasi natürlich, menschlich, nützlich und normal, aber...

Gefühle und Vorurteile

Wir sind dadurch einem Beurteilungszwang unterworfen, dass jeder Sinneseindruck unwillkürlich ein Gefühl in uns auslöst. Dabei lassen wir uns oft genug von Gefühlen täuschen. Beobachten wir sie in der Meditation eingehender, können wir feststellen, dass sich Gefühle ständig ändern, dass sie plötzlich da sind und wieder vergehen. Wir können uns nicht auf unsere Gefühle verlassen. Das oft stereotype Reagieren auf äußere Reize aufgrund eines Gefühls beruht häufig auf einem Irrtum. Es kommt vor, dass das vermeintlich Angenehme Unangenehmes birgt und umgekehrt. Deshalb üben wir uns in der Nichteinmischung in die Gefühle. Durch eine solche Meditationspraxis gewinnen wir Einsicht und innere Freiheit.

Zuneigung und Abneigung

Die Verstrickungen hingegen, die sich aus raga (Attraktion) und dvesha (Aversion) ergeben, dürfte jeder schon in seinem Leben erfahren haben: Das, was uns anzieht, begehren wir. Wir wollen es haben! Wenn wir es nicht bekommen, sind wir enttäuscht und leiden. Oder wir sind neidisch, eifersüchtig und wütend, weil ein anderer es bekommen hat. Wenn wir das, was wir haben wollen, bekommen aber wieder verlieren, ist die Enttäuschung und Verzweiflung über den Verlust noch größer. Bekommen wir das, was wir haben wollen und verlieren es nicht, so hält die Freude nicht ewig an. Wir hatten uns das Glück etwas anders vorgestellt. Das wiederum, was uns stört, wollen wir loswerden. Etwas-loswerden-wollen führt zu Ausgrenzung, Aggression und in letzter Konsequenz zur Katastrophe.

Wertfreies Schauen

Im Yoga geht es um eine unverfälschte Wahrnehmung. Wir schulen unsere Wahrnehmung dahingehend, dass sie weder von Projektionen und abwegigen Gedanken bestimmt wird, noch von Ideologien oder Phantastereien. Sie sollte auch nicht von persönlichen Gefühlen dominiert werden, die mit dem Wahrgenommenen gar nichts zu tun haben.

Beim Meditieren werden wir mit unseren zutiefst menschlichen Empfindungen und Denkmustern konfrontiert. Wir lernen unsere „Schattenseite“ kennen und müssen menschliche Schwächen, die wir bei anderen wahrnehmen, nicht mehr abwehren. Vielmehr haben andere unser Mitgefühl, weil wir ihr Problem so gut erkennen.

„Wenn wir die Verstrickungen und Konditionierungen, denen unser Tun unterliegt, durchschauen, bekommen wir die Fähigkeit, uns in andere Menschen hineinzuversetzen.“, bemerkt Sriram in seinem Kommentar zum samyama.1

Was kann Meditation konkret?

Es ist wichtig, diese Heilsversprechen wieder zu vergessen und ohne große Erwartungen oder Wünsche mit dem Meditieren zu beginnen.

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1 Sriram, R.: Patanjali – Das Yogasutra. Von der Erkenntnis zur Befreiung, Theseus 2006, S. 159; samyama heißt der „innere Yogaweg“, der sich auf Meditation bezieht

I. 2. Wann und wie meditieren?

Asana – Pranayama – Meditation

Yogameditation baut aus meiner Sicht als Yogalehrerin auf Yoga-Körperhaltungen (asana) und Yoga-Atemübungen (pranayama) auf. Längerfristig wird langes aufrechtes Sitzen mit gekreuzten Beinen mit einer ausgewogenen Asana-Praxis vorbereitet und wesentlich erleichtert, während Pranayama innere Ruhe und Klarheit fördert und damit den Weg zu den meditativeren Gliedern des Yoga ebnet.

In der Hathapradipika lesen wir: „Die erwachte kundalini beseitigt die Hindernisse, die die sushumna blockieren. Nun ist samyama möglich.“ (HYP, II.75)2

Die Übungsreihenfolge zuerst asana, danach pranayama und abschließend Meditation ist aber keineswegs zwingend. Das Sitzen kann mit asana nachbereitet werden, wenn es darum geht, eingeschlafene Beine wieder mit Blut zu versorgen, einen eventuell steif gewordenen Schulternackenbereich zu lockern oder die Überdehnung der Knie mit kniestärkenden Übungen auszugleichen. Pranayama wiederum kann auch vor asana ausgeführt werden, wenn die Luft im Raum noch nicht durch die Körperarbeit verbraucht ist und die notwendige Konzentrationsfähigkeit vorhanden. Schließlich kann der Tag am frühen Morgen mit einer Meditationssitzung beginnen, ohne irgendwelche vorbereitenden Aktivitäten vorausgehen zu lassen, um so die Stille der Nacht mit in die Meditation hinüber zu retten.

Aufrechte Sitzhaltung

Die Meditationsübung findet immer im aufrechten Sitz statt, der den Geist frisch und aufmerksam halten soll. In buddhistischen Traditionen kennt man außerdem die sogenannte Gehmeditation. Die aufgerichtete Wirbelsäule ist essenziell für einen ungehinderten Atem- und Energiefluss. Alles, was auf diversen New Age CDs in der Rückenlage unter „Meditation“ angeboten wird, hat nichts mit Meditation im yogischen Sinn zu tun. Das Kriterium für den Bewusstseinszustand während der Meditation ist ein wacher, aufmerksamer und präsenter Geist.

Es macht auch keinen Sinn, nach sogenannter Meditationsmusik zu meditieren. Musikhören, so „meditativ“ die Musik sein mag, gilt als Sinneskontakt und widerspricht pratyahara, dem fünften Glied des Ashtanga Yoga, das besagt, die Sinne von der äußeren Welt zurückzuziehen - also auf das zu verzichten, was unsere Sinne „füttert“ (ahara = Nahrung). Außerdem ist eine solche Musik meistens so seicht, dass sie einen eher einlullt als in die Präsenz zu führen.

Ein stabiler Yogasitz bildet einen Energiekreis, vergleichbar mit einem geschlossenen Stromkreis, der erstens vor dem Entweichen des prana (Lebensenergie) schützt3, und zweitens die Blutzirkulation in den Beinen bremst zugunsten der Versorgung von Herz und Gehirn.4

Im Lotussitz kommt die Situation hinzu, dass eine Flucht nicht ohne weiteres möglich ist. Man „sitzt fest“ und spielt genetisch bedingte Konditionierungen geistig durch, die den Zusammenhang zwischen Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Handeln einsichtiger machen.

Widerstände