Dieses Buch widme ich meinen Kindern,
Judith, Nora und Erik,
meiner Familie
sowie allen Vätern, Müttern, Geschwistern, Großeltern und trauernden Angehörigen eines verstorbenen Kindes sowie allen anderen geliebten Hinübergegangenen
»Leif«
(* 09.09.1981 / † 28.10.1999)
From Leif, a name of Norse origin, meaning beloved.
Fortunate are those who know and love him.
Works hard and plays hard.
Happy to enjoy the simple pleasures of life.
Shows his love by his words and thoughtfulness.
His happiness is appreciated by others.
Recognizes that change is necessary to progress.
He enjoys each passing moment of life’s journey.
(Aus Irland)
*
Am 22. Oktober 1999 verließ unser ältester Sohn, Leif, gegen 19 Uhr unser Haus und unser Leben …
Er war gerade volljährig (seit sechs Wochen) und ein ganz normaler junger Mann mit seinen Wünschen, Vorstellungen und Problemen, die man in dem Alter so hat. Ich sehe ihn noch genau in der Küche stehen: schwarze Hose, dicke schwarze »Pilotenjacke«, und er sagte: »Mama, jetzt muss ich aber los, sonst verpass ich noch den Bus.« Und ich wünschte ihm viel Spaß. Er wollte zu seiner Schule fahren, um dort mit Schulkameraden Vorbereitungen zur alljährlichen Nikolausfeier zu treffen. Dieser Aufgabe widmeten sich immer die Schüler der Abitursklassen, zu denen nun auch Leif gehörte.
Wir wohnen in einer Kleinstadt in Ostbelgien, landschaftlich schönster Teil Belgiens.
Dort werden noch viele Sitten und Gebräuche gepflegt und es gibt eben immer wieder Grund zum Feiern.
Vor 20 Jahren war ich mit meinem damalig gerade sechsjährigen Leif und seiner zweijährigen Halbschwester Judith von der deutschen Grenze zu meinem jetzigen Mann, einem Landwirt, gezogen.
Dort bauten wir gemeinsam ein Leben und einen neuen Bauernhof auf. Er war genau der Partner, der zu dieser Zeit zu uns ins Leben kommen sollte. Auch er wollte eine Familie, die ich mir vergeblich mit den anderen Männern gewünscht hatte, und nahm meine beiden Kinder sofort liebevollst an. Es war auch eine große Liebe, und so waren wir uns schnell einig, die Familie mit noch zwei Kindern (so Gott wollte …) zu vergrößern …
Ich hatte meinen Beruf als Kindergärtnerin aufgegeben, denn bald kamen unsere beiden Wunschkinder, Nora und Erik. Für meinen Mann und mich war beschlossen, dass ich mich der Erziehung unserer vier Kinder selber widmen wollte.
Leif hatte in seiner jungen Kindheit schon viel mit mir durchgemacht: eine traumatische Trennung im Alter von zwei Jahren von einem jungen Vater. Ich selber war eine junge Mutter von gerade mal 21 Jahren, die mit der Tatsache, alleinerziehend zu sein, ziemlich überfordert war. (Aber von Anfang an wollte ich dieses Kind!) Dann, noch einmal vier Jahre später, die nächste Trennung von meinem ersten Ehemann. Dementsprechend wurde Leif in Kindergarten und Schule als ein nervöses und oft aggressives Kind bemerkt.
Leif verbrachte die schönsten und letzten zwölf Jahre seines Lebens mit seinen Geschwistern im Schoße dieser Familie und das straff geregelte Leben mit den kleinen Verpflichtungen, auf dem Hof zu helfen, gaben seiner empfindlichen Seele und heftigen Persönlichkeit einen unschätzbaren Halt. Die Umstände ließen es auch zu, dass mein Mann Leif rechtmäßig adoptieren konnte und für ihn eine starke Vaterrolle einnahm, die er so dringend brauchte. Heute weiß ich, dass all dies schon ein Teil unseres gemeinsamen »Spiels« im Leben war und dass alles ein einziges, aber gemeinsames, wunderbares Erschaffen im ewigen universellen Kreislauf ist, dem wir alle für immer und ewig angehören und für immer miteinander verbunden sind.
*
Laut krachend fiel die Tür in der Küche ins Schloss. Meine Tochter Judith und ich sahen uns eine Sendung im Fernsehen an. Es war etwa acht Uhr abends. Mein Mann stand mitten in der Küche in Arbeitskleidung, mit einem Ausdruck unfassbarer Gelähmtheit im Gesicht.
Er sagte: »Ich habe gerade einen Anruf bekommen, Leif hat einen Autounfall gehabt …!«
Bruchteile von Sekunden hatte ich eine Leere im Kopf und eine seltsame Ruhe überkam mich.
Ich dachte: »Okay, bleib ruhig, erst hören, ob es schlimm ist.«
»Wer hat dich angerufen?«, fragte ich.
»Die Mutter von Sebastian. Sie sagte nur, dass ihr Sohn mit seinem Auto einen Unfall gehabt hat und Leif, der mit im Wagen war, Verletzungen am Kopf hat. Ein Krankenwagen hat ihn sofort ins Krankenhaus gebracht.«
Meine Gedanken überschlugen sich nun. Leif im Auto? Wollte er nicht mit dem Bus fahren?
Ich spürte, dass mein Atem auf einmal stoßweise und heftig kam, wie nach einem anstrengenden Sprint, und Panik kam in mir hoch. Judith stand mit großen fragenden Augen hinter mir. Mein Mann sagte, dass der Unfall sich am Bahnübergang der nächsten Kleinstadt ereignet hatte. Dort hatte der Fahrer wohl die Kontrolle über das Fahrzeug verloren, das sich auf der Straße komplett einmal um die eigene Achse gedreht hatte, und dann war der Wagen quer über die Straße eine rechte Böschung hinuntergeschossen und zwischen zwei Bäumen förmlich eingequetscht worden.
»Lass uns sofort zum Krankenhaus fahren!«, sagte ich.
In Sekundenschnelle informierte mein Mann seine Mutter, die den Stalldienst beenden kommen sollte, und Judith sollte ihre Geschwister beaufsichtigen, die zurzeit schon oben in ihrem Zimmer waren.
Wir fuhren hinunter zur Kleinstadt. Ab diesem Moment begann das Gefühl des Albtraums, aus dem du nicht erwachen kannst. Du bist im falschen Film. Nein, das kann nicht real sein. Irgendwo in deinem Kopf ist eine Art Notaggregat eingeschaltet, das dich noch den Wagen lenken und die Straße wahrnehmen lässt.
Als wir uns dem Bahnübergang näherten, sahen wir schon von weitem Polizei und Blaulicht, langsam fuhren wir an der Unfallstelle vorbei.
Wir sahen den kleinen Wagen zwischen den Bäumen hängen und augenblicklich begann mein Mann zu schreien, wie ein schwer verwundetes Tier. Er war völlig außer sich.
»Bitte beruhige dich«, rief ich, »sonst machen wir auch noch einen Unfall! Lass mich fahren!« Er fasste sich und wir erreichten das Krankenhaus. Vor dem Eingang trafen wir sofort die Mutter des Fahrers. Sie berichtete uns auf unser Fragen hin, dass Leif zum Sportplatz transportiert wurde, wo ein Hubschrauber landen und ihn zur Uniklinik in die nächstgrößere Stadt fliegen sollte. Ihr Sohn und zwei andere Freunde, die noch mit im Auto gewesen waren, hatten schon eine Untersuchung im Krankenhaus gehabt und wurden mit leichten Gehirnerschütterungen entlassen. Leif hatte vorn als Beifahrer angeschnallt gesessen.
Wir liefen zur Notaufnahme, wo alsbald ein Notarzt, der Leif an der Unfallstelle behandelt hatte, erschien und uns seine Eindrücke schildern konnte.
Er sagte, als er die Beifahrertüre des Wagens öffnete, habe er Leif angesprochen und er habe noch einen Augenblick reagiert, aber dann sei sein Blick so plötzlich gebrochen und er sei bewusstlos geworden. Dies war für den Notarzt ein sicheres Zeichen gewesen, dass Leif innere Kopfverletzungen erlitten hatte, sodass man ihn sofort zu einer Notoperation fortbringen musste. In diesem Moment glaubte ich immer noch, dass es sich um einen Irrtum handeln könnte und es nicht Leif sei, von dem dort die Rede war. Dann aber überreichte uns der Arzt eine kleine Tüte mit den privaten Dingen des Unfallopfers. Darin erkannte ich Leifs Uhr mit dem orangefarbenen Armband und seine Brieftasche.
Ein Gefühl von unendlicher Schwäche und starke Übelkeit überfielen mich. Mein Mann weinte leise. Eine Krankenschwester brachte uns beiden ein Beruhigungsmittel. Natürlich wollten wir sofort zum Krankenhaus, wo Leif jetzt im OP lag. Ich spürte aber, dass keiner von uns beiden in der Lage gewesen wäre, die 50km lange Fahrt dorthin zu bewältigen. Ich schlug vor, Renaud, einen sehr guten Freund von uns, anzurufen, ob er uns fahren könne.
Er war sehr schnell da und wir fuhren zum Krankenhaus.
Während der Fahrt klammerte ich mich an die Hoffnung, dass es nicht so schlimm sei und die Ärzte Leif gut helfen würden; ich verdrängte jeden gegenteiligen Gedanken.
Es war mittlerweile gegen Mitternacht und es folgten drei oder vier furchtbare Stunden des Wartens, wie lange, weiß ich nicht mehr.
Wir lagen auf Sitzbänken in einer größeren Halle des gespenstig leeren Krankenhauses, das nur von außen, durch die großen Fenster hereinfallenden Lichter der Stadt ein wenig erhellt wurde, und versuchten zu schlafen. Irgendwann musste ich aufstehen und nach draußen gehen.
Ein Gefühl hysterischer Revolte überfiel mich und ich weinte heftig. Dies war auch das erste Mal, dass sich mein »inneres Wissen«, wie ich es nennen möchte, meldete. Ich spürte, dass Leif nicht mehr lebend in ein Leben, wie wir es bisher gemeinsam verbracht hatten, zurückkehren würde. In tiefster Verzweiflung starrte ich in den Nachthimmel und die Worte pressten sich aus mir heraus: »Wenn es das ist, was geschehen soll, so soll dein Wille geschehen!« Gleichzeitig verspürte ich aber dieses Gefühl von Ungerechtigkeit und dass ich an einen solchen Gott nicht glaube, der mir mein Kind wegnimmt. Nichts passte, aber irgendwie wusste ich, dass es sich hier und jetzt vollendete, Leifs irdisches Schicksal besiegelt wurde, nach einem schon lange vorher in einer anderen Dimension getroffenen Abkommen, an dem ich und wir alle aus unserer Familie teilhatten. Aber die Puzzleteile waren noch lange nicht zusammengesetzt. Mein Sein wurde von diesem riesigen Schmerz beherrscht …
Irgendwann kam der Arzt aus dem OP. Ich vergesse nie, was er sagte: »Es sieht nicht gut aus. Wir mussten die Schädeldecke öffnen, weil das Gehirn angeschwollen war und dagegendrückte. Die linke Hirnhälfte Ihres Sohnes ist sehr stark beschädigt worden. Wir mussten eine kleine Partie wegschneiden.«
Auf unsere Frage, was das bedeutet, erklärte der Arzt, dass man nun ein paar Tage abwarten müsse, es würden dann Tests am Gehirn gemacht, was und wie noch funktioniert. Leif sei im künstlichen Koma und werde beatmet.
Noch konnte der Arzt nichts dazu sagen, ob Leif überhaupt überleben würde. Ich wusste in diesem Moment nur eines: Leif sollte nicht vielleicht völlig behindert und gelähmt einen Rest von Leben in einem Rollstuhl verbringen. Das hätte er nie gewollt. Ich betete schon von diesem Augenblick an inbrünstig, dass es dazu nicht kommen sollte.
Völlig erschöpft fuhren wir erst mal nach Hause, um ein paar Stunden zu schlafen. Wir sollten Leif dann am nächsten Tag zum ersten Mal besuchen.
Morgens beim Erwachen packte uns der Horror mit voller Wucht: Leif hat einen schweren Unfall gehabt und liegt im Koma im Krankenhaus! Ich rief als Erstes meine Mutter an und konnte nur mit großer Anstrengung die Hysterie unterdrücken, als ich ihr mitteilte: »Mum, Leif ist gestern Abend mit einem Freund im Auto verunglückt und schwer am Kopf verletzt worden, die linke Hirnhälfte ist betroffen … Bete, dass er das nicht schwer behindert überlebt.«
Meine Mutter konnte nur »Oh nein« und »Oh mein Gott!« hervorbringen. Wir einigten uns darauf, dass sie nachmittags mit ihrem Mann käme, weil wir schon bald zum Krankenhaus aufbrechen wollten. Ich informierte auch meine engsten Freundinnen, und das Entsetzen breitete sich aus, wie auch im Dorf und Umgebung, wo die Nachricht wie ein Lauffeuer umgegangen war.
Ich erinnere mich nur vage daran, dass Judith, gerade vierzehnjährig, nach den ersten Informationen am Morgen sofort bitterlich weinte, umringt von betroffenen Freundinnen, die herbeigeeilt waren. Erik und Nora waren damals sieben und neun Jahre alt. Ich wollte es ihnen schonend beibringen und sagte nur, dass Leif jetzt im Krankenhaus sei und wir erst mal nur mit der großen Schwester dorthin fahren würden. Wir wollten den beiden den Anblick des frisch operierten Bruders, der mit Sicherheit an Kabeln und etlichen Geräten lag, ersparen.
Leif lag auf der Intensivstation in einem großen Zimmer. Als wir eintraten, erkannten wir ihn beim ersten Hinsehen kaum, so sehr waren sein Hals und Gesicht vom Cortison angeschwollen. Wie erwartet lag er am Beatmungsgerät unter unzähligen Kabeln. Der Kopf war fein säuberlich weiß bandagiert und nur ein dünnes Tuch bedeckte den Unterbauch bis zu den Knien seines sonst nackten Körpers. Leif lag dort wie eine griechische Statue. Sein sportlicher, durchtrainierter Körper hatte keine Schramme, ebenso wenig wie sein Gesicht, und man hätte vergessen können, dass er im Augenblick zwischen Leben und Tod schwebte; dies machte die Situation umso bizarrer und unrealistischer.
Es war ein Schock für uns, unseren geliebten Sohn und Bruder dort liegen zu sehen.
Genau aber in dem Moment, als ich Leif erblickte, erlebte ich diese neue Form von Bewusstseinserweiterung, wie ich es vorerst bezeichnen möchte, eine Information, die aus einer anderen Ebene zu mir kam, eine Art Stimme im Kopf, anders als ein Gedanke.
Gleichzeitig spürte ich diese absolute Gewissheit, ein Wissen aus dem innersten Bauch heraus, und die Stimme sagte: »Wir werden niemals getrennt sein!«, und es war, als würde etwas von meinem Sohn direkt in mich, genau in der Mitte der Brust, übergehen. Eine lebendige Energie, die sich in mir einnistete.
Dann hörte ich seine Stimme in meinem Kopf: »Mama, lass dich nicht gehen, kümmere dich um meine Geschwister!« Ich fühlte mich in diesem schweren Augenblick sehr stark verbunden mit Leif und dieses Gefühl verließ mich auch in der gesamten folgenden Zeit nicht mehr. Hilflos standen mein Mann, meine Tochter und ich vor dem Bett und konnten dieses furchtbare Bild des regungslosen jungen Mannes, die grausame Stille, die auch das Piepsen der Herztöne nicht unterbrechen konnte, nur ertragen.
Ein erstes Gespräch mit dem Arzt brachte die Erkenntnis, dass Leif während des Aufpralls des Wagen mit dem Kopf gegen das Lenkrad geschleudert worden war. Nun sollten in den nächsten Tagen Hirntests gemacht werden, um zu prüfen, was das Gehirn selber an Regeneration noch vollbringen würde.
Die Prognose war allerdings sehr schlecht. Leif hatte wenig Überlebenschancen.
Ich fragte den Arzt, welche Lebensqualität Leif zu erwarten hätte, wenn er dennoch in eine stabile Körperfunktion überginge.
Er sagte, Leif würde mit großer Wahrscheinlichkeit niemanden erkennen und bestenfalls in einem vegetativen Zustand leben. Diese Möglichkeit versetzte mich schlichtweg in Panik. Das wäre kein Leben, um das wir in Leifs Interesse kämpfen wollten. Er hätte mit Sicherheit gesagt: »Erspart mir das!«
So fragten wir den Arzt, ob die Situation ein späteres Abschalten der Geräte erfordern könne. Dies bejahte er; sobald alle Hirntests gemacht seien und keine Verbesserungen stattgefunden hätten, könne Leif ohnehin auch ohne Beatmungsgerät nicht aus eigener Kraft überleben.
Noch heute, nach zehn Jahren, dass Leif von uns gegangen ist, wundere ich mich wieder, wie wir diese surreal anmutenden Gespräche überhaupt ertragen haben.
Ich erinnere mich an eine Stelle in einem der ersten Bücher, die ich nach Leifs »Tod« las: »Es ist, wie wenn du dich an den Uferrand des Flusses, der Leben heißt, gesetzt hast und alles fließt an dir vorüber, ohne dass du es auch nur bemerkst. Es dauert oft sehr lange, bis du dich wieder in diesen Fluss hineingibst.«
Alles wirkt unrealistisch und zum Teil unangebracht: der Straßenverkehr, Leute, die sich unterhalten, lachen, essen, Musik im Radio (gar nicht zu ertragen). Ich konnte ohnehin tagelang kaum etwas essen und nahm in einer Woche sieben Kilo ab. Man besteht nur noch aus Schmerz. Aber Leif hatte mich gebeten, dass ich mich weiter um meine anderen Kinder kümmere. Das tat ich auch, denn auch ich war und bin immer der Meinung, dass die anderen Kinder einer betroffenen Familie gerade in dieser schweren Zeit Halt und Unterstützung von den Eltern brauchen sowie ein gewisses Maß an Normalität. Während dieser Zeit ließen wir unsere Kinder auch oft zu Freunden gehen, wann immer sie wollten.
Mein Mann hatte den Betrieb und die Tiere zu versorgen und versuchte dort, seinen Schmerz ein wenig zu verdrängen, denn er hat in der gesamten Zeit und noch bis heute sehr gelitten. Uralte Schmerzen sind mit Sicherheit bei ihm aufgewühlt worden. Als Zweijähriger verlor er seinen Vater bei einem tragischen Unfall auf dem Hof. Aber jeder Mensch geht anders mit solch einem furchtbaren Schmerz und Verlust um, so wie er kann. Niemals sollte man jemanden verurteilen, der sich in seinem Schmerz nur zurückziehen kann. Ich habe Mütter, Väter kennengelernt, die den Verlust eines Kindes niemals überwunden haben. Sie führen ein Leben in stiller Verzweiflung.
Doch ich konnte zutiefst Kraft aus der Gewissheit ziehen, dass Leif (niemand, der verstirbt) jemals gewollt hätte, dass wir im Leben keine Freude, ja kein eigenes Leben mehr danach haben.
Dies sollte sich in meinen späteren spirituellen und esoterischen Lektüren mannigfach bestätigen.
Als wir wieder zu Hause ankamen, warteten meine Mutter und ihr Mann, meine beste Freundin mit ihrem Mann und die übrige Familie auf uns. Große Bestürzung und Verzweiflung breitete sich nach unseren ersten Informationen unter allen Anwesenden aus. Sie versuchten uns zu unterstützen und zu trösten, Mut machende Worte zu finden, dass das Gehirn sehr regenerationsfähig sei und es schon »Wunder« bei ähnlichen Fällen von Unfallopfern mit Kopfverletzungen gegeben habe. Schon ab diesem Moment teilte ich allen mit fester Gewissheit mit, dass Leif nicht mehr zu uns nach Hause zurückkehren würde.
Es war keine Form von Resignation, es war dieses neue Wissen, das sich meiner bemächtigt hatte, auch wenn es mir vor seelischem Schmerz fast den Verstand raubte.
Die folgenden fünf Tage gehören in meiner Erinnerung zu den unrealistischsten und schmerzhaftesten meines bisherigen Lebens sowie mit Sicherheit auch für den Rest der Familie. Täglich waren wir von Angehörigen oder den einen oder anderen Freunden umgeben, gerade so, wie jeder es von seinem Alltag abhängig organisieren konnte. Es war eine Zeit, in der man psychisch und körperlich an seine Grenzen des Ertragbaren kommt. Irgendetwas schaltet dann auch auf »Notversorgung«. Man isst, schläft, arbeitet, tut profane Dinge, an die man sich aber auch hinterher nicht mehr erinnern kann.
Leif blieb im Koma, Gehirntests bewiesen keine Verbesserung seines Zustands und unsere täglichen Besuche im Krankenhaus waren eine große Qual. Für mich bedeutete es nur das Warten auf den schlimmsten Moment, wenn der Arzt uns mitteilen würde, dass sie aus medizinischer Sicht die Gewissheit und Befugnis hätten, die Geräte abzuschalten.
Während unserer Anwesenheit bei Leif hatte ich mich bisher emotional immer sehr beherrscht. Ich war überzeugt, dass Leif auf einer anderen Ebene sehr genau wahrnehmen und vielleicht hören konnte, was wir fühlten und sprachen. So wollte ich ihn nicht noch mit unserem Schmerz belasten. Aber an einem der letzten Tage bat ich meinen Mann, mich vor dem Verlassen des Krankenzimmers noch einen Moment mit Leif alleine zu lassen.
Ich betrachtete meinen Sohn und setzte mich auf Hüfthöhe neben sein Bett. In all diesen Tagen hatte ich ihn immer nur gesehen, aber nie mehr berührt.
Nun nahm ich seine leblose, kühle Hand in meinen beiden Hände, hielt sie und küsste seine regungslosen Finger. Mein Schmerz kannte keine Grenzen mehr und die Tränen liefen. Ich wusste, dass es die letzten Momente in unserem gemeinsamen irdischen Leben waren, dass ich ihn noch einmal berühren konnte, und diese Leblosigkeit zerriss mir das Herz.
Schon seit einigen Tagen beschäftigte mich das drängende Gefühl, ihm sagen zu müssen, dass er gehen könne, wenn er wolle. All die Tage, die Leif dort schon im Koma lag, bewiesen mir nur ein Zögern seinerseits, weil er uns allen dieses furchtbare Leid seines endgültigen Abschieds nicht zufügen wollte. Auch zu Lebzeiten hatte er immer sehr sensibel auf Differenzen und Spannungen, vor allem mit mir, reagiert und war immer sehr bemüht gewesen, diese schnell zu beseitigen. Leif und ich hatten in den letzten Jahren ein sehr gutes Verhältnis gehabt, konnten stundenlang zusammen erzählen und austauschen.
Jetzt erhob ich mich an seinem Krankenbett, beugte mich nah an sein rechtes Ohr und sagte Worte, die wieder von woanders her zu kommen schienen und die schmerzhaftesten waren, die ich je aussprechen musste: »Leif, wenn du gehen möchtest, dann kannst du es tun. Es ist schön dort drüben und wir werden dich immer lieben.«
Wieso sagte ich das? Ich wusste es damals nicht. Aber heute weiß ich, dass es das Drüben gibt und es wunderschön dort ist und dass es Leif gut geht.
An einem dieser folgenden Tage nahm ich dann auch Erik und Nora beiseite und versuchte ihnen mit schonenden Worten die bittere Wahrheit mitzuteilen. Ich sagte ihnen, dass ihr Bruder jetzt noch im Krankenhaus sei und noch lebe, aber dass er wahrscheinlich nicht mehr zu uns nach Hause zurückkomme, dass er aber immer bei uns sein würde, auch wenn wir ihn nicht mehr sehen könnten, und dass sie darüber auch traurig sein und weinen dürften.
Sie taten es – intuitiv ließen sie ihrer großen Traurigkeit freien Lauf, schmiegten sich beide an mich und weinten.
Am Tage des 27. Oktober erhielten wir vom Arzt die entsetzliche Gewissheit und Bestätigung, dass Leif nicht überlebensfähig war und die versorgenden Geräte abgeschaltet werden sollten. Man hatte alle Tests am Gehirn vorgenommen, die sicherstellten, dass es in einem irreparablen Zustand bleiben würde. Sie sollten abends gegen 18 Uhr abgeschaltet werden. Der Gedanke, bei Leif anwesend zu sein, während sie ihn vom irdischen Leben trennten, und vielleicht dabei zusehen zu müssen, wie sein Körper reagierte und ums Überleben kämpfen würde, war für mich unvorstellbar und unerträglich. Ich teilte dies dem Arzt mit und fragte ihn, was passieren würde. Er hatte volles Verständnis für unsere Gefühle und erklärte, dass es in der Tat für uns nicht einfach sein könne, während dieser Prozedur dabei zu sein. Er versicherte, dass Leif in keinster Weise leiden würde, dass man dem Gehirn zusätzliche Mittel zufügen würde, um es absolut ruhigzustellen, und dass Leif nicht allein gelassen sei.
Ich weiß nicht mehr, wann und wie wir das Krankenhaus verlassen haben. Wir entschlossen uns, auf dem Heimweg kurz vor Erreichen unserer kleinen Stadt von der Autobahn abzufahren, um bei einer kleinen Kirche anzuhalten. Es war ein trüber und kühler Tag, es hatte immer wieder geregnet, wir waren stumpf und still von diesem bohrenden Schmerz, der uns für die nächsten Wochen nicht mehr verlassen sollte … Da fiel mein Blick nach links in den Himmel über der Landschaft und ein doppelter, farbenkräftiger Regenbogen zog mich in seinen Bann. Im tiefsten Innern wusste mein Herz sofort, dass es ein letzter Gruß von Leif war, dass es aber auch schon ein sicheres Versprechen dieser ewigen Verbindung sein sollte, die immer zwischen uns als Familie und allem Lebendigen und unserem Schöpfer bestehen würde.
Dies war das erste von bis heute nicht endenden, mehr oder weniger großen und kleinen, zum Teil atemberaubenden Zeichen und Wundern von der Präsenz und »Lebendigkeit« unseres Sohnes. Es erzählt wie ein Märchen, das schönste, das es je gab und das vom Leben selbst geschrieben wird. Davon will ich berichten …
*
Wir hatten uns in der völlig leeren Kapelle in eine vordere Bank gesetzt und versuchten still, jeder für sich, das Unfassbare zu ertragen. Jeden Moment sollten im Krankenhaus die lebenserhaltenden Maßnahmen für Leif abgestellt werden, und in der Atmosphäre der Kirche wollten wir gedanklich bei ihm sein. Ich weiß nicht, was mein Mann in diesem Moment durchmachte, ob er betete oder sein Kopf so leer war wie meiner, ich erinnere mich kaum, nur dass dieser physisch fühlbare Schmerz vorherrschend war und das ganze Sein erfasste und einen in einen Zustand der Unwirklichkeit versetzte.
Man lebt weiter, von Atemzug zu Atemzug, aber alles andere fasst der Verstand nicht wirklich und wieder einmal schaltet sich dieses System der Notfunktionen ein. Irgendwann standen wir auf, um nach Hause zu fahren und um uns um den Rest der Familie zu kümmern.
In dieser Nacht nahm uns der Schlaf in seiner unendlichen Gnade zeitweise in seine Obhut. Der eigentliche Zustand ist schwer zu beschreiben: Der dumpfe Schmerz in meiner Brust, so schwer wie ein riesiger Klotz Blei, löste sich schlagartig wie in einer Explosion in dem Moment, als mein Mann morgens gegen acht Uhr des 28. Oktober ins Schlafzimmer kam und mir sagte, dass sie gerade vom Krankenhaus angerufen hatten, um Leifs Versterben mitzuteilen.
In diesem Moment spürte ich nur eine tiefe Erleichterung, dass unser Sohn »es geschafft« hatte.
Nach dieser endgültigen Tatsache brach Leifs Schwester Judith zunächst einmal vollständig zusammen und lag in den nächsten Tagen nur noch weinend oder völlig apathisch im Sofa zusammengerollt da. Die jüngeren Geschwister konnten offensichtlich die Situation in ihrer Tragik noch nicht ganz begreifen, was sich zum Schutz ihrer kleinen Seelen bewährte. Judiths Zustand beunruhigte und schmerzte mich sehr. Man ist hilflos und spürt, dass man den anderen nicht trösten kann. Ich versuchte Judith aber klarzumachen, dass wir zusammenhalten und uns stützen würden und dass nichts und nirgendwer Leif wieder zu uns zurückbringen könne. Ich sei aber überzeugt, dass er jetzt und immer bei uns sein würde und speziell bei ihr.
Die nächsten Tage waren geprägt von unumgehbaren Aktionen und Tätigkeiten: Die Vorbereitungen zum Begräbnis mussten getroffen und etliche Ämtergänge erledigt werden. Der Bruder meines Mannes hatte sich bereit erklärt, den Bestatter zum Krankenhaus zu begleiten, um Leif dort abzuholen und zur Totenkapelle zu überführen. Dazu hatte ich Kleidung von Leif aussuchen müssen, da er komplett angezogen werden sollte, und ich nahm selbstverständlich Teile, die immer zu seinen Lieblingsstücken gehört hatten.
Die Schule musste informiert werden, der Direktor hatte während Leifs Aufenthalt im Krankenhaus schon mit uns Kontakt aufgenommen, und wir erfuhren von der katastrophalen Stimmung unter den Klassenkameraden, da niemand wusste, ob Leif überleben würde.