Valerie Hammerbacher, geboren 1973 in Böblingen, studierte Kunstgeschichte und Philosophie und beendete im Jahr 2000 ihr Studium an der Universität Stuttgart. Neben architekturtheoretischen Aufsätzen zur Moderne veröffentlichte sie eine Publikation zur englischen Naturästhetik in der Malerei des 18. Jahrhunderts. Des Weiteren ist sie durch Ausstellungen und Kataloge zur zeitgenössischen Fotografie in Erscheinung getreten. Sie arbeitet derzeit als Kulturjournalistin in Stuttgart.
Dorothee Keuerleber wurde 1924 in Stuttgart geboren. Nach Studienaufenthalten in den USA schloss sie 1952 ihr Diplomstudium an der Technischen Hochschule in Stuttgart ab. Von 1952 bis 1954 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Siedlungsbau der Technischen Hochschule in Stuttgart. Ab 1965 arbeitete sie als Architektin bei der Staatlichen Hochbauverwaltung Baden-Württemberg und leitete das Referat für Sportstättenentwicklungsplanung und Sportstättenbau beim Ministerium für Kultus und Sport. Seit ihrer Pensionierung 1989 arbeitet sie als freie Architektin. Von 1990 bis 1992 konzipierte sie die Ausstellung »Weißen hofsied lung Stuttgart 1927«. Seit Januar 2000 ist sie Vorstandsmitglied im Verein der Freunde der Weißenhofsiedlung.
Schmucklos, ohne Ornament ist die kubische Architektur der Weißenhofsiedlung ein Dokument moderner Baukunst. 1 7 Architekten haben mit insgesamt 21 Häusern, die sie 1927 auf dem Stuttgarter Killesberg errichtet haben, ein Wohnprogramm wegweisender Architektur vorgestellt. Ein Minimum an Form sollte dem Großstadtmenschen ein Maximum an Freiheit gewährleisten. Mit flexiblen Grundrissen haben die wichtigsten Architekten des 20. Jahrhunderts Prototypen von Wohnungen in einer sonnigen, gut durchlüfteten und gesunden Architektur geschaffen. Durch die Verbindung von bildender Kunst, Architektur und Innenraumgestaltung zeugt die Weißenhofsiedlung von dem Bestreben, die Gesamtheit des alltäglichen Lebens ästhetisch zu gestalten. Die Siedlung ist ein Ensemble hervorragender Einzelleistungen, deren Analyse sowohl über die künstlerische Qualität der einzelnen Architekten wie über die Entwicklung der klassischen Moderne Auskunft gibt.
In der vorliegenden Publikation werden die Bauten erstmals mit maßstabsgerechten Plänen, welche die tatsächliche Umsetzung innerhalb der Siedlung aufzeigen, in Dimension und Proportion begreifbar. Die Texte bieten eine architekturhistorische Einordnung, die über die nuancenreiche Bewegung der Moderne Auskunft gibt, die bisher nur unzureichend mit dem Begriff des Neuen Bauens gefasst wurde. Zahlreiche Zusatzinformationen verweisen auf weitere Bauten, Designobjekte und den biografischen Werdegang der Weißenhof-Baumeister. Ein umfangreiches Glossar erklärt alle wichtigen Begriffe des Textes und kann gesondert als Nachschlagewerk genutzt werden.
Festschrift zum 75-jährigen Bestehen der Weißenhofsiedlung
Stuttgart, im Juli 2002
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich
Impressum
© 2002 – alle Rechte liegen bei den genannten Inhabern
Idee und Konzeption: Valerie Hammerbacher M.A., Jörn Vogt M.A.
Text: Valerie Hammerbacher M.A.
Gestaltung: Jörn Vogt M.A.
Grundrisse, Isometrien, Infoboxen: Dipl.-Ing. Dorothee Keuerleber
Fotos: Vogt/Hammerbacher, ansonsten siehe Fotonachweis
Tabellen zur Renovierung: Dr.-Ing. Hermann Nägele
ISBN: 978-3-8482-6888-7
Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Wir danken dem Verein der Freunde der Weißenhofsiedlung e.V. für die Unterstützung und die Bereitstellung von Bildmaterial und Zeichnungen. Dank auch an das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg und das Stadtarchiv Stuttgart für die Bereitstellung zahlreicher weiterer historischer Aufnahmen. Weiterer Dank gebührt Marko Schacher und Petra Küh-nel für die gewissenhafte Schlusskorrektur dieser Publikation.
www.weissenhofsiedlung.de
Wie wohnen? Diese Frage prangt auf dem Plakat, das Willi Baumeister 1927 für die Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« auf dem Stuttgarter Killesberg entworfen hat. Die Worte in Schreibschrift erscheinen wie eine persönliche Anmerkung auf einer alten Fotografie. Ein historistisches Interieur ist energisch mit einem dicken roten Kreuz durchgestrichen. Ironisch wird der Innenraum, der mit schweren Teppichen und bürgerlichem Inventar ausgestattet ist, von Baumeister mit der Frage nach der geeigneten Wohnform kommentiert.
Das Plakat verdeutlicht das Programm der Weißenhof-Architekten: die Abkehr von eklektizistischen Stilzitaten und das Ziel, das Leben des modernen Menschen neu zu gestalten. 1 7 Architekten aus Holland, Belgien, Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden 1927 eingeladen, um mit ihren Gebäuden die Fragestellung nach der geeigneten Wohnform des Großstadtmenschen zu beantworten.
»Ich habe die verwegene Idee, alle auf dem linken Flügel stehenden Architekten heranzuziehen, das würde ausstellungstechnisch glaube ich unerhört erfolgreich sein«1, schrieb Mies van der Rohe 1925 an Gustaf Stotz, den Geschäftsführer der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbundes. Nach mehreren Durchgängen einigte man sich auf Mart Stam, Peter Behrens, Hans Scharoun, Josef Frank, Le Cor-busier und Pierre Jeanneret, Victor Bourgeois, Adolf Gustav Schneck, Jacobus Johannes Pieter Oud, Richard Döcker, Mies van der Rohe, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Hans Poelzig, Adolf Rading, Bruno Taut und Max Taut.
Mies van der Rohe wurde zum künstlerischen Leiter des Ausstellungsprojektes bestimmt. In seinem Bebauungsplan legte er die Position der einzelnen Häuser fest. Das Einfamilienhaus von Hans Scharoun bildet darin mit den Häusern von Le Corbusier eine Klammer. Der Wohnblock von Mies van der Rohe schließt die Siedlung nach Westen ab. Er stellt als langgestreckter Baukörper das »Rückgrat« der Siedlung dar. Mies van der Rohe hat den Bebauungsplan an die Topographie der Hanglage angepasst. Die Häuser sind in verschiedenen Ebenen angeordnet und nehmen die Terrassierung des Siedlungsgeländes auf.
Die Weißenhofsiedlung zeigte damit einen Wechsel von Bildern. Bei einem Rundgang präsentierte sich dem Besucher die Architektur als ein Ensemble aus abwechslungsreichen Ansichten und zeigte vor den Häusern von Walter Gropius, Jacobus J. P. Oud und Ludwig Mies van der Rohe eine kleine Platzsituation. Durch unterschiedliche Traufhöhen ergaben sich verschiedenartige Ansichten der Siedlungsbebauung.
Doch die Bebauung war weit davon entfernt, an die Siedlungsprojekte der Gartenstädte zu erinnern, für die Camillo Sitte sich eingesetzt hatte. Anstatt verwinkelte Ansichten entstehen zu lassen, ordnete Mies van der Rohe die Häuser der Weißenhofsiedlung in Schichten um den Hang. Ein interessanter Eindruck ergab sich dabei aus einer Bebauung durch verschiedene Höhenniveaus und Häusertypen: Ein- und Zweifamilienhäuser, Wohnblocks und Reihenhäuser, die von den beiden Holländern Mart Stam und Jacobus J. P. Oud in Zeilenbauweise errichtet wurden.
In vielerlei Hinsicht sind die zentralen Ideen der Moderne in den Häusern auf dem Weißenhof verwirklicht worden. Die wegbereitenden Lösungskonzepte der Architekten, die Anlage als Ausstellungsprojekt des Deutschen Werkbundes und die Verbindung mit der Stadt Stuttgart als Geldgeberin zeigt den gesellschaftspolitischen Hintergrund des Siedlungsprojekts. Das Konzept, durch moderne Architektur, Möbel und Kunst den Lebensraum umfassend zu gestalten und damit zu verbessern, ist in der Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« in der Weißenhofsiedlung beispielhaft realisiert worden. Obwohl die Bauten der Siedlung große Ähnlichkeiten aufweisen, sind einige Häuser als Einzellösungen der Architekten zu werten. Die Bauten Josef Franks, Richard Döckers, Hans Poelzigs, Hans Scharouns und das Terrassen haus von Peter Behrens nehmen Abstand von einem Wohnprogramm als reiner Standardisierungs-Floskel. Auch Adolf Gustav Schneck zeigte sich skeptisch gegenüber Typisierungen von Grundrissen und standardisierten Bauelementen.
Die meisten Einfamilienhäuser sind dem ursprünglichen Ausstellungsziel zum Trotz keine Typenhäuser, die sich für die preiswerte Serienproduktion eignen. Vor allem die im Grundriss sehr eigenwilligen Bauten von Le Corbusier, Scharoun oder Rading sind eher als Experimente zu werten.
Anfang der 20er-Jahre erscheint das Konzept der Avantgarde-Architekten noch nahezu einheitlich. Von der amerikanischen Öffentlichkeit wird ihre Bauweise als »Internationaler Stil« wahrgenommen.2 Doch die künstlerische Entwicklung der Weißenhof-Architekten zeigt bereits Mitte der 20er-Jahre durch die Bauten der Werkbund-Ausstellung in Stuttgart die spezifisch unterschiedliche Ausprägung, die sich in den Jahren nach 1927 noch stärker ausbilden wird: Mies van der Rohe und Le Corbusier haben bereits zehn Jahre nach der Fertigstellung ihrer Bauten auf dem Weißenhof unterschiedliche konzeptuelle und gestalterische Vorstellungen von Architektur. Hans Scharoun und Adolf Rading entwickeln ihre organische Bauweise weiter.
Das Zusammentreffen der wichtigsten Architekten des 20. Jahrhunderts in Stuttgart während des Baus der WeißenhofSiedlung ermöglicht es, die prägenden Persönlichkeiten der Architektur der klassischen Moderne zu studieren. Wie unter einem Brennglas markiert die Siedlung einen Zeitpunkt innerhalb der Kunstgeschichte, der sowohl die Entwicklung der einzelnen Architekten zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch die Vielfältigkeit der Moderne zeigt. Die unterschiedlichen Lösungsansätze, die nachhaltig die Architektur des 20. Jahrhunderts beeinflusst haben, sowie die Verbindung der Weißenhof-Architekten untereinander lässt die Siedlung als Paradebeispiel der modernen Architektur erscheinen. Alle Architekten waren durch Mitgliedschaften in avantgardistischen Zirkeln programmatisch an der Formulierung neuer architektonischer Ideen beteiligt. Durch ihr Umfeld hatten sie auch Kontakt zu den Vertretern anderer Künste: Mart Stam arbeitete mit El Lissitzky, den er aus seiner Berliner Zeit kannte, an der Zeitschrift ABC. Oud wurde von Theo van Doesburg und Piet Mondrian beeinflusst; Walter Gropius und Mies van der Rohe hatten als Leiter des Bauhauses eine intensive Verbindung zu Kandinsky, Itten und Klee.
Ludwig Hilberseimer war nach der Emigration von Mies van der Rohe in die USA an maßgeblichen Stadtplanungen in Chicago beteiligt. Viele Weißenhof-Architekten kannten sich aus dem Werkbund, Bruno Taut und Richard Döcker schlossen sich 1926 zur Architektengruppe »Der Ring« zusammen. Diese Querverbindungen lassen die Bauten nicht nur als architektonische Einzelleistungen erscheinen, sondern auch als Ausdruck komplexer Programme.
Die Entstehung der Weißenhofsiedlung ist mit dem Zusammenwirken verschiedener Institutionen, Organisationen und Einzelpersönlichkeiten verknüpft. Zum einen waren die Mitglieder des Deutschen Werkbundes beteiligt, zum anderen wirkten die Agitatoren der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft mit.
Im Deutschen Werkbund, der die Ausstellung »Die Wohnung« in Stuttgart initiierte, versammelten sich Künstler, Architekten, Industrielle und Handwerker. Die Verbindung von Nützlichem und Schönem, die Anfang des 20. Jahrhunderts heftig diskutiert wurde, fand 1907 ihren Niederschlag in der Gründung des Werkbundes. Kunst und Architektur waren für die Mitglieder des Werkbundes nicht nur Gegenstände, die mit angenehmen Wohlgefallen betrachtet werden konnten, sondern besaßen die Potenz, Verhaltensweisen zu beeinflussen und den Benutzer zu ökonomisch-rationellem Handeln anzuregen. Die Industrie sollte künstlerischen Zwecken dienstbar gemacht werden, genauso wie die Kunst durch die industrielle Herstellung eine neue Stufe ihrer Entwicklung erlangen sollte. Der Künstler ist in dieser Verbindung nicht mehr nur der Entwerfer von Formen, sondern wird in einen Produktionszyklus integriert.
Die Bedeutung des Werkbundes für das Neue Bauen lag nicht zuletzt an seinen Mitgliedern: Adolf Gustav Schneck, Hans Poel-zig, Bruno Taut, Walter Gropius, Lilly Reich und Hans Scharoun engagierten sich. Peter Behrens wirkte im Vorstand. 1922 wurde dann Richard Döcker, 1925 Mies van der Rohe in den Vorstand gewählt. Peter Bruckmann, der Juniorchef der Heilbronner Sil-berwarenfabrik P. Bruckmann & Söhne, war von 1909 bis 1919 erster, von 1919 bis 1926 zweiter und ab 1926 bis 1932 wieder erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes. Er gehörte neben Gustaf Stotz zu den entscheidenden Persönlichkeiten, welche die Bebauung des Weißenhofs und die Auswahl der Architekten mitbestimmten.
1923 wurde die Württembergische Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbundes gegründet, deren Geschäftsführer Gustaf Stotz wurde. Bereits 1925 begann Gustaf Stotz das Projekt »Weißenhof« zu entwickeln. Das städtische Gelände war für eine Bebauung schon seit Jahren eingeplant gewesen. Arbeitern, Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes sollten Wohnungen bereitgestellt werden. Mitte der 20er-Jahre versammelten sich in der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft Mitglieder und Vorstände, die sich engagiert für eine moderne Architektur einsetzten. Adolf Gustav Schneck und Richard Döcker vertraten die Architektur des Neuen Bauens. Paul Schmitthenner, prominenter Vertreter der Stuttgarter Schule, wurde 1926 nicht wieder in den Vorstand gewählt.
Daraufhin überzeugten Gustaf Stotz und Peter Bruckmann den Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Lautenschlager und gewannen den Baubürgermeister Daniel Siegloch für das Projekt. Die Stadt erklärte sich bereit, auf dem Gelände des Killesbergs die Siedlung zu realisieren, da seit Anfang der 20er-Jahre Wohnungsbaupläne in der Bauabteilung des Gemeinderats diskutiert wurden. 1926 sollten 1.600 neue Wohnungen in Stuttgart durch die Mittel der Hauszinssteuer und Darlehen des Dawes-Plans finanziert werden.
In vielen unterschiedlichen Listen wurden Architekten zusammengestellt. Auch renommierte Architekten wie Hugo Höring, Adolf Loos und Erich Mendelsohn, der in Stuttgart 1926–28 das Kaufhaus Schocken errichtet hatte, standen auf der Auswahlliste für die Werkbund-Siedlung. Die gesamten Kosten für die Weißenhofsiedlung betrugen 1.482.000 Reichsmark. Der vom Gemeinderat bewilligte Betrag von 1.450.000 Reichsmark wurde damit nur um 32.000 Reichsmark überschritten.3
Bis zum Ausstellungsende wurden 500.000 Besucher gezählt; zahlreiche Fachzeitschriften im In- und Ausland berichteten. Die Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« konnte somit für die Initiatoren als Erfolg verbucht werden.
Vor 1927 waren in Stuttgart bereits Ausstellungen organisiert worden, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, über neue Architektur und Baumethoden zu informieren. 1922 wurde die »Werkbundausstellung Württembergischer Erzeugnisse« gezeigt, 1924 präsentierte man in der Ausstellung »Die Form« hauswirtschaftliche Geräte in modernem Design. Nachdem durch den Ersten Weltkrieg die Debatte um Typisierung und Serienproduktion unterbrochen wurde, griff der Werkbund in den Jahren 1923/24 die Fragestellung nach Qualitätssteigerung der industriellen Möbelfertigung wieder auf. Das Ausstellungswesen als ein Forum, um Innovationen aus dem Bereich des Bauwesens und der Gebrauchsgüter der Öffentlichkeit vorzustellen, wurde zu einer Plattform des Deutschen Werkbundes. Die Ausstellung »Die Form«, deren voller Titel »Die Form ohne Ornament« war, präsentierte Arbeiten aus den Bereichen Rohbau, Ausbau, Heizung, Bauhygiene, Arbeiter- und Feuerschutz im Stuttgarter Handelshof, der in der Nähe des Hauptbahnhofes lag. Der Weißenhof-Architekt Adolf Gustav Schneck gehörte zu den Hauptverantwortlichen der Ausstellung, in der er mit zahlreichen Typenmöbeln vertreten war. Hugo Keuerleber von der Staatlichen Beratungsstelle für das Bauwesen war an dieser Bauausstellung ebenso beteiligt wie der spätere Geschäftsführer der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft Gustaf Stotz. Nach der gelungenen Ausstellung »Die Form« kam der Gedanke, ein Projekt vorzubereiten, welches das gesamte Spektrum des Wohnens abdecken sollte. Die Idee zur Weißenhofsiedlung war geboren.
Die Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« gliederte sich 1927 in vier Blöcke: die Musterhäuser auf dem Weißenhof, zwei innerstädtische Ausstellungen und das Experimentiergelände, das gegenüber der Weißenhofsiedlung lag. Hier wurden neue Baumethoden und Werkstoffe vorgestellt: Sperrholzplatten, die durch einen Überzug mit Asbestschiefer wetterfest waren, Dachpappen, Feifel-Hohlblocksteine, Fonitram-Platten, Hohlkörperdecken, Gehweg- und Flurplatten. Bimsbetonhohlblocksteine aus dem Neuwieder Becken, die wegen ihres geringen Gewichts bei wirtschaftlicher Größe einen beliebten Baustoff darstellten, wurden ebenfalls als innovative Baumaterialien vorgestellt.4
In der Innenstadt wurden in der Kunst- und Gewerbehalle Exponate der Innenraumgestaltung vorgeführt: Geschirr, Vorhänge, Typenmöbel, sanitäre Einrichtungen, die »Münchner Küche« und die »Frankfurter Küche«, die später als Modell der platzsparenden Küchenausstattung in Serie ging.
Um die weltweite Aktualität des Neuen Bauens zu untermauern, zeigte man die »Internationale Plan- und Modellausstellung Neuer Baukunst« in den städtischen Ausstellungshallen auf dem Interimstheaterplatz beim Neuen Schloss. Ludwig Hilberseimer hatte die Gestaltung der Ausstellung übernommen und Aussteller aus Frankreich, Holland, Italien, Österreich, der Schweiz und den USA eingeladen. Sie zeigten Siedlungsmodelle, Schwebebahnprojekte, Küchen, Bahnhöfe und Bürogebäude.
Mit den Ausstellungshallen in der Innenstadt und den Musterwohnungen auf dem Killes-berg-Gelände »Weißenhof« war im Sommer 1927 ganz Stuttgart im Architekturfieber.
Die Präsentation der Weißenhofsiedlung als Ausstellung verweist auf die enge Verknüpfung von moderner Architektur und einer interessierten Öffentlichkeit. Dieser Zusammenhang zeigt sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Weltausstellungen. Deren Geschichte ist ein Dokument für die stete Veränderung in der Architektur im Zeitalter der Industrialisierung und für den Einfluss von Innovationen auf die Bautechnik. Der Bogen spannt sich von den frühen Gewerbemessen bis zu Maschinenbauausstellungen und letztlich kulturpolitisch aufgeladenen Präsentationen.
Doch das Ausstellungswesen ist nicht nur eine Präsentationsform neuer technischer Errungenschaften, es kann auch stilbildend für die Erscheinung der Exponate sein. So wie in Stuttgart »Die Form ohne Ornament« das Programm der Gestaltung beschreibt, gab die »Exposition des Arts Décoratifs«, die 1925 in Paris gezeigt wurde, der schlichten Ausführung von Gebrauchsdingen den Begriff »Art Déco«.
Die Weißenhofsiedlung ist nach dem Weißenhof benannt, der von Georg Philipp Weiß bewirtschaftet wurde. Der wohlhabende Bäcker, der 1741 in Stuttgart geboren wurde, kultivierte das unbewirtschaftete Gelände auf dem Killesberg, als 1777 ein Teil des Gebietes um die Feuerbacher Heide für die Anlegung von Gärten und Höfen verpachtet wurde. 1779 errichtete er auf dem Gelände einen landwirtschaftlichen Betrieb mit einer Fläche von 51 Hektar, der nach ihm benannt wurde und seitdem Weißenhof heißt. Der Weißenhof erhielt 1878 eine Gastwirtschaft und wurde rasch zum Ausflugsziel der Stuttgarter und Feuerbacher. Das Anwesen ging später in den Besitz der Stadt über, bis es 1927 von der Weißenhofsiedlung überbaut wurde.
Der Bau der Weißenhofsiedlung war ein Projekt der Stadt Stuttgart, um die Möglichkeiten des Wohnungsbaus auf dem Killesberg zu erproben. Damit griff die Stadt in einen vormals privatwirtschaftlich geregelten Bereich ein und reagierte auf die Wohnungsnot, die sich in den ersten Nachkriegsjahren eingestellt hatte. Die Entstehung der Weißenhofsiedlung ist im Kontext einer neuen Verantwortung der Städte, Länder und des Staates gegenüber den Bedürfnissen und Rechten der Bewohner zu sehen.
Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Wohnverhältnisse drastisch verändert. Während 1870 noch zwei Drittel der deutschen Bevölkerung auf dem Land lebte, führte die zunehmende Industrialisierung und der kräftige Bevölkerungszuwachs dazu, dass kurz vor dem Ersten Weltkrieg schon rund drei Fünftel der Bevölkerung in der Stadt wohnte. Ebenso wie der Wohnungsbau war auch das Mietwesen den Spielregeln von Angebot und Nachfrage unterworfen, ohne dass Staat oder städtische Verwaltung eingegriffen hätten.
Das Vakuum an Wohnungen bedeutete für die Mieter, Verklausulierungen zu akzeptieren, wenn sie Raum anmieten wollten. Ab 1916 war der Neubau von Wohnraum nahezu vollkommen zum Erliegen gekommen. In den ersten Nachkriegsjahren wurde die Wohnungsnot durch die Rückkehr der Kriegsteilnehmer und die damit verbundenen Haushaltsgründungen noch verstärkt. Eheschließungen und Umsiedlungen, die in der Konsequenz des Versailler Vertrages vollzogen wurden, sowie 20.000 Wohnungen, die von den Besatzungsgruppen beansprucht wurden, verschärften die Wohnsituation. Obwohl die vom Deutschen Reich festgelegten Bauverbote durch die Weimarer Republik aufgehoben wurden, konnte bis 1922 keine vermehrte Bautätigkeit festgestellt werden. 1923 fehlten circa 1 Million Wohnungen. Gründe hierfür waren der Bauarbeitermangel und die Schwierigkeiten bei der Kreditierung der Bauvorhaben. Unrentierliche Kosten mussten vom Staat soweit übernommen werden, dass für private Kapitalgeber eine angemessene Verzinsung erzielt werden konnte. Der Staat griff somit erstmals mit finanziellen Unterstützungsleistungen in die Wohnungswirtschaft ein.
Die erhöhte Nachfrage nach Wohnraum, die durch das Mietnotrecht während des Ersten Weltkriegs aufgefangen wurde, bedurfte einer umfassenden Dauerregelung. Die im Artikel 155 der Weimarer Reichsverfassung dargelegten wohnungs-und bodenpolitischen Grundsätze, dass jedem Deutschen und seiner Familie eine gesunde und bedarfsgerechte Wohnung gesichert werden sollte, mussten im Wege der Gesetzgebung konkretisiert werden. Die öffentliche Wohnraumbewirtschaftung, die Mietpreisbildung und die Verbesserung des Kündigungsschutzes sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung wurden zwischen 1922 und 1923 von staatlicher Seite geregelt. So legten die Gesetze der Weimarer Verfassung erstmals die Sozialbindung des Eigentums und die Eigentumsgarantie fest und markierten die Geburtsstunde des sozialen Wohnungsbaus. Um die Herstellung von kleinen gesundheitlich, sozial und sittlich unbedenklichen Wohnungen zu fördern, wurden überall im Reich städtische Bauordnungen erlassen. Dabei wurde besonderer Wert auf das Wohnungsbedürfnis sowie auf die Förderung des Verkehrs, der Feuersicherheit und die öffentliche Gesundheit gelegt. Der städtebauliche Charakter bestimmter Gebiete konnte wie in der Weißenhofsiedlung auf reine Wohn- oder Industrieviertel beschränkt werden.
Das Wachstum der Städte, erzeugt durch die Herausbildung eines Industrieproletariats, bedeutete einen Wandel für die Definition und Funktion von Siedlungsstrukturen. Die Megapolis und ihre Architektur war seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein zentrales städtebauliches Problem. Als sich die Situation in den Großstädten verschärfte, äußerten sich auch die Künstler zu diesem Thema: Fritz Lang thematisierte in seinem Kinofilm »Metropolis« von 1927 die Großstadt als verschlingenden Moloch. In den USA führte die Ökonomie des Baugrundes dazu, die Häuser in die Höhe wachsen zu lassen. Der Wolkenkratzer, der bald die Skyline amerikanischer Städte bestimmte, entstand. Louis Sullivan, der die bloße Anhäufung von Geschossen in eine architektonische Struktur brachte, wurde zum Protagonisten des amerikanischen Hochhausbaus und der Stadtbaukunst. Die Unterscheidung zwischen Architekt und Ingenieur trat bei seiner Arbeit besonders deutlich hervor. Der Ingenieur, der der Technik des Bauen verpflichtet war, setzte sich vom Architekt als Gralshüter der historischen Stile ab und verfolgte nun das Ziel, Wohnquartiere im Rahmen einer vernünftigen Stadtplanung entstehen zu lassen.
Der moderne Ingenieur-Architekt besitzt nicht nur einen solitären Bauauftrag, sondern ist für die Planung von Städten und weiten Landschaftsräumen zuständig. In der Stadtplanung bietet sich nun die Möglichkeit, neue Existenzbedingungen für die Gemeinschaft zu schaffen. Moderne Architektur musste seitdem auch unter den Prämissen urbanisti-scher Lösungskonzeptionen gedacht werden. Verkehr, Wohndichte, Platzsituationen und städtische Infrastruktur sollten mit den Bedingungen der Grundbesitzer und Bauherren in Übereinstimmung gebracht werden. Le Corbusiers »Plan Voisin« für die Stadt Paris und die Siedlungsprojekte von Taut, Gropius und Stam zeugen von der architektonischen Verantwortung gegenüber neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Anhand der Bauten der Weißenhofsiedlung lassen sich die zentralen Begriffe moderner Architektur untersuchen. Die Durchdringung unterschiedlicher Raumvolumina, Transparenz, Verbindung von Außenraum und Innenraum, Reihung, Typus, Serienproduktion und die Allianz von Kunst und Handwerk zeigen sich an und in den Wohnhäusern der Siedlung.
Besonders bei den Häusern von Richard Döcker, Mart Stam, Le Corbusier und Hans Scharoun wird die Durchdringung verschiedener Raumzonen deutlich. Während Döcker seine Architektur durch Kuben auf verschiedenen Ebenen entwickelte, gewähren Hans Scharoun und Mart Stam durch Glasfassaden von außen Einblick.
Den fließenden Ubergang zwischen Räumen unterschiedlicher Nutzung und das Ineinandergreifen von Außen und Innen leistete erstmals die Architektur Frank Lloyd Wrights (1869–1959). Mit seinen Bauten verließ er eine herkömmliche Definition von Architektur aus kompakten Raumkörpern und löste die Fassade durch ein System von Vor- und Rücksprüngen auf. In der Architektur des Gale House in Illinois von 1904 setzte er diese Aufsprengung des Baukörpers beispielhaft um. Die auskragenden Dachplatten und die Verandazone, wie sie das Haus von Hans Scharoun zeigt, zeugen von einer Beeinflussung der Weißenhof-Architektur durch die Errungenschaften Frank Lloyd Wrights.
Architekturtheoretisch wurde die Öffnung der Baukörper für den Außenraum durch den Schweizer Architekturkritiker Siegfried Giedion untermauert. Die Durchdringung des Raums ist für Giedion das Bewertungskritierium moderner Architektur schlechthin. Ausgehend vom Eiffelturm, der die reinste Verkörperung einer »Genese der Durchdringung« darstellt, besteht das Ziel des modernen Bauens darin, die starren Grenzen der Architektur aufzulösen. Wie durch einen Guckkasten soll der Betrachter zugleich auf die Terrasse und in den Innenraum blicken. Die Kontur einer Person, die sich im Freien bewegt, soll sich ebenso im Wohnzimmer abzeichnen wie der Schatten einer Person, die sich im Innenraum befindet, nach außen geworfen werden soll. Die Außenwelt strömt herein, gleichzeitig wird der Blick über die Terrasse auf die Landschaft weitergeführt. Licht, Luft und Öffnung sind die Parameter einer modernen Insze nierung von Architektur. Diese Konzeption, die Siegfried Giedion 1929 in seiner Schrift Befreites Wohnen beschreibt, ist bereits 1927 durch Hans Scharoun in der Weißenhofsiedlung umgesetzt worden.
In der Architektur des Neuen Bauens besitzt das Flachdach eine Signalbedeutung. Walm-, Sattel- oder Pultdach waren den Bauformen einer vormodernen Epoche zuzuordnen. Der Haustyp der Villa wurde oftmals mit einem Walmdach versehen. Das Satteldach war die traditionelle Lösung für den Abschluss eines Wohnhauses. Um sich von diesen repräsentativen und herkömmlichen Formen der Architektur zu distanzieren, gab Mies van der Rohe das Flachdach als einzige Vorgabe für die Weißenhof-Architekten vor. Während Schneck das Flachdach aus der Wirtschaftlichkeit der Wohnform ableitete, diente es bei Behrens als Terrasse und wurde von Le Corbusier für den Dachgarten benutzt. Das flache Dach, das als Dach nicht in Erscheinung tritt, sondern nur den logischen Abschluss einer rechteckigen Figur darstellt, ist das anschauliche Zeichen von Modernität der Weißenhofsiedlung. Es findet sich auch in anderen Siedlungen der 20er-Jahre. Die Meisterhäuser in Dessau, die Walter Gropius 1925/26 für die Lehrenden des Bauhauses baute, besitzen ebenso wie die Siedlungsbauten von Bruno Taut ein Flachdach.
Die flachen Dächer der Weißenhof-Architekturen wurden von Anfang an durch die konservativen Stuttgarter Architekten scharf kritisiert. Während sich im Warenhaus- und Industriebau die Errungenschaften des Neuen Bauens durchsetzten, zeigte sich im Wohnungsbau deutlich der Gegen satz von moderner und traditioneller Architektur. Die ästhetischen und technischen Innovationen des Neuen Bauens stießen bei Fragen nach Fensterformaten und Dachformen von Wohnhäusern auf heftigen Widerstand.
Eine Karikatur aus dem Jahr 1934 zeigt die Ansicht der Weißenhofsiedlung von Norden. Entlang der bogenförmigen Straße sind die Häuser von Scharoun, Taut, Hilberseimer, Le Corbusier und Mies van der Rohe zu sehen. Im Hölzelweg und in der Rathenaustraße tummeln sich Menschen mit Turbanen und Kaftanen. Auf der Mauer vor dem Haus Hans Scharouns sind zwei Löwen, davor bemüht sich ein Kameltreiber, sein Lasttier zur Arbeit zu bewegen. Die Weißenhofsiedlung erscheint als Marktplatz eines arabischen Dorfes. Die Attacken gegen die Reduktion der Wohnhäuser auf kubische Grundformen entwickelte sich verstärkt in den dreißiger Jahren. Ende 1927 hatte die Öffentlichkeit und die Presse die Weißenhofsiedlung noch positiv bewertet. Ab 1933 konnten jedoch die radikalen Traditionalisten in Stuttgart ihre Stimme erheben und diffamierten die Wohnhäuser als Araberdorf und damit als unangemessene »artfremde« Wohnform.
Die Weißenhof-Architekten haben in ihren Bauten eine Abkehr von der repräsentativen, traditionellen Bauweise vollzogen. Nicht nur die üppige Innenraum-Möblierung, die Willi Baumeisters Plakat zur Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« kritisiert, wird verlassen, sondern auch die traditionelle Gestaltung der Fassade und des Grundrisses. Kein Wohnblock, kein Einfamilienhaus folgt den Vorgaben einer Villa oder eines großbürgerlichen Wohnhauses. Während die Architektur der Stuttgarter Schule noch stark von der Bauaufgabe geprägt ist, Villen für vermögende Industrielle zu errichten, bekennen sich die Architekten auf dem Weißenhof zu einer Bauweise, die sich aus ihrer Nutzfunktion entwickelt.