Diese kleine Schrift ist ein Entwurf zum Thema „ Ereignis “, entstanden im Wintersemester 1986/87 an der Katholischen Universität Eichstätt, Fakultät für Religionspädagogik / Kirchliche Bildungsarbeit (FH) Abteilung München.
Ausgangspunkt war die bedrängend aktuelle Frage: Wie heute von Gott reden? Es ging also um die Erkundung eines neuen Weges und einer Neuorientierung unserer Gottesrede. Diese Unternehmung führte zu den Quellen, letztlich zur Bibel.
Hermann Seifermann
Oratorium des hl. Philipp Neri,
München
Hermann Seifermann, geboren 1925 in Neusatz (Bühl, Mittelbaden), seit 1959 Oratorianer in München, lehrte – nach Zusatzstudien u.a. in Tübingen und Jerusalem – zunächst am Münchner Institut für Katechetik und Homiletik, anschließend bis 1990 an der katholischen Stiftungsfachhochschule in Eichstätt „Exegese des Alten Testamentes und Didaktik des Bibelunterrichtes“.
Darüber hinaus engagierte er sich jahrzehntelang in bibeltheologischer Erwachsenenbildung, u.a. in Freising, Neustadt (Weinstraße), Würzburg-Himmelspforten und auf Burg Rothenfels. Die Nachfrage nach seinen Kursen war bis vor wenigen Jahren – die nachlassende Gesundheit erzwang deren Einstellung – ungewöhnlich hoch und erstreckte sich oft über alle Altersgruppen. Anziehend empfanden viele Hörer seine Eigenständigkeit und Originalität in der Forschung wie im Vortrag, und allen – auch manchen Fachleuten – erschloss er die Bibel überraschend neu und tief. Fernab der häufigen, in entlegene Stoffe und Spezialthemen verliebten, akademischen Gelehrten-Distanz ging es Seifermann stets um die Mitte des Glaubens, um die Entdeckung Gottes in der Bibel und um die ´Buchstabierung` der Zugänge zu Gott in Glauben und Handeln mittels biblischer Spurensuche und Wegweiser, nicht zuletzt auch um die Brücken zwischen Erstem Testament und Neuem Testament. So half Seifermann vielen Suchenden für den persönlichen Glauben, für Glaubensgespräche, Predigt und Unterricht. Viele Jahre lang brachte er seine Erkenntnisse in biblischen Predigten (Homilien) zudem der Gemeinde an St. Laurentius in München nahe.
Vorliegende kleine Schrift, ein Entwurf zum Thema ´Ereignis`, wurde im Wintersemester 1986/1987 an der Fachhochschule Eichstätt vorgetragen. Wie heute von Gott reden? Um diese auch heute wieder aktuelle Frage mühte sich Seifermann bis zuletzt, angetrieben durch zahllose Gespräche und Erfahrungen in der Seelsorge. Ihm war klar: diese Frage machte Grabungen an den Quellen nötig: an den biblischen Zeugnissen. Aus ihnen ergibt sich etwa, dass Gott weder einfach ist noch nicht ist, sondern (gemäß Mk 10,27) begegnet, indem ER sich als der oder das Unmögliche ereignet und Menschen zu unmöglichem (nicht für möglich gehaltenem) Verhalten antreibt.
Für die Hörer seiner Kurse ist Seifermanns Vortrag ein willkommener Grundriss wesentlicher Einsichten, wie er sie gewöhnlich in und aus dem Studium zentraler biblischer Texte entwickelte. Doch dürfte er auch für jene, die Seifermann zum ersten Mal in Buchform begegnen, viele Anregungen enthalten. Auch Unkundige können die Erfahrung zahlreicher Erst-Hörer machen: manche Einzelheit verstehen sie nicht auf Anhieb; doch erfassen sie die Spur des Gedankengangs, sodass mit fortschreitender, aufmerksamer Lektüre (einem inneren Hören!) sich die Gewissheit einer unverhofften Bereicherung einstellt.
Kurz vor Erscheinen dieser Vorträge, deren Veröffentlichung er bejahte, ist der Autor verstorben.
Für technische Mithilfe bei der Vorbereitung dieses Vermächtnisses für die Drucklegung sei Agnes Bohlen (Schmelz) und Agathe Strohmayer (München) herzlich gedankt.
Der Herausgeber
In erschreckender Weise erleben wir in unserer sogenannten Moderne - in Wissenschaft, Technik, Industrie, Wirtschaft, Politik und auch Kunst -, dass das, was eine ganze große Epoche lang selbstverständlich war, einfach aus dieser unserer modernen Welt verschwindet: nämlich GOTT.
Zwar sagt man, es sei in dieser Zeit der Gottesferne auch schon wieder eine weitverbreitete Gottessehnsucht zu erkennen (Esoterik), aber sie weiß sich noch kaum gültig, allgemeingültig zu artikulieren. Woher kommt das? Liegt es etwa an der den genannten Feldern menschlichen Betriebs eigenen Struktur mit ihrem jeweiligen Sachzwang? Oder haben wir vielleicht in unserem Reden von Gott, schlicht gesagt, die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt? Reden wir etwa unbeirrt noch immer in der Sprache der vergangenen Epoche von Gott? Es scheint so!
Dann aber heißt die Grundfrage: „Wie heute von Gott reden?“ Es ginge dann um eine grundlegende Neuorientierung unserer Gottesrede heute. Der einzuschlagende Weg hieße dann: zurück zu den Quellen, anthropologisch, theologisch, geschichtlich – mit einem Wort - biblisch! Diesen Weg wollen wir erkunden.
Dazu ist es unerläßlich, dass wir die Ausformungen des Menschseins in unserem Kulturkreis, im Alten Orient in der Umwelt des späteren Israel in den Blick nehmen. Betrachten wir also zunächst die vorherrschende Weise der Daseinserfahrung im staatlich geprägten Alten Orient:
Wir sind in Mesopotamien Gen 11,27ff: „Tarach zeugte Abram, Nachor und Haran. Und Haran zeugte Lot. 28Haran starb unterm Angesicht seines Vaters im Land seiner Geburt, im chaldäischen Ur … 31 Tarach nahm Abram seinen Sohn und Lot Sohn Harans seinen Sohnessohn und Sarai, seine Schwiegerin… sie zogen mitsammen aus dem chaldäischen Ur, ins Land Kanaan zu gehen. Doch als sie bis Ḥaran kamen, setzten sie sich dort fest, in einem Staat, einem Staatsgebiet also mit Städten, einer Hauptstadt, einem Machtzentrum, so Ur, so Ḥaran. Für Ägypten gilt dasselbe: Staat, Städte, Welthauptstadt, Machtzentrum, Menschwesen ’ādām, Religion: bá‘al. Unsere Erzählung handelt von einem Abraham, der kommt aus Ur in Chaldäa, das liegt im südlichen Mesopotamien, Zweiströmeland; Chaldäa ist ein anderes Wort für Neubabylon. Also Babylonien wäre da in der Nähe, benannt nach der Stadt Babel/Babylon am Euphrat, der Hauptstadt des Landes, dann die Stadt Ur am Unterlauf des Euphrat, dann am Tigris Assur und Ninive, das sind uralte Städte. Anmerkung: Das heutige Bagdad ist eine neue, moderne Stadt am Tigris, nicht am Euphrat.
Unsere Erzählung sagt, der Abram sei von dort gekommen zusammen mit seinem Vater Tarach und seinem Bruder Nachor und einem gewissen Haran und sei dann aufwärts gezogen, und da oben in Ḥaran hätten sie Station gemacht, da hätten Nachor und Abram sich Frauen genommen, dann sei Tarach, der Vater, gestorben, und dann sei Abram von dort mit seiner Frau Sarai nach Kanaan gezogen.
Ausgehend von der Bibel sind wir also hineingetaucht in einen Zusammenhang bestimmter geographisch-kulturellreligiöser Art. Fragen wir nach dem „Menschwesen“, so wird es gefaßt mit dem Namen ’ādām, Weltenherrscher. Fragen wir nach der Religion, so ist es die bá‘al-Religion. ’ādām heißt „der Mensch“. Indem wir sagen „der Mensch“, ist schon klar geworden: Das ist kein Eigenname, kein Individuum und dessen Eigenname. Es ist die Gattung Mensch, aber die Gattung Mensch politisch verfaßt.
’ādām ist ein Titel für den Großkönig des Reiches des Alten Orient in Mesopotamien, Babel-Assur, aber auch in Ägypten. Jeder Pharao ist ein ’ādām. Es ist im Holzschnitt eine unglaubliche Rune. ’ādām ist ein Name im Sinn von Titel und als Titel ein Programm, eine Herausforderung, ein Entwurf.
’ādām ist ein führender Begriff im Mythos der Staaten des Alten Orient, auch in der Bibel bis ins NT: Wenn wir reden vom Menschensohn, ist es der Sohn des ’ādām, Menschensohn, einer von ’ādām-Art.
Zunächst: Es gibt nur einen ’ādām, nur einen Pharao, daneben gibt es prinzipiell keinen zweiten.
Es gibt auch neben dem Pharao keinen Großkönig von Babel-Assur, denn da ist ja nur der Titel verschieden. Beide sind ’ādām, aber im Prinzip, im Konzept, im Entwurf gibt es nur einen. Und damit ist von vornherein schon angedeutet: Konkurrenz und Feindschaft sind im Programm. Koexistenz gibt es nur, solange der eine nicht die Macht hat, den andern auszuschalten.
Wer ist dieser ’ādām? Ihm obliegt es, das Reich zu regieren. Nach dem Mythos, dem wir das entnehmen, bedeutete das Wort ’ādām früher nicht viel, es war ein Wort. Dann aber, so heißt es im Mythos, waren der Menschen zu viele geworden, das Land konnte sie nicht mehr ernähren. Da schlossen sie sich zusammen und gründeten die Stadt - das ist in der Sache der Staat -, um in gemeinsamer Anstrengung, in Parallelschaltung aller Kräfte, die Güter aus der Erde zu holen, um die Vielen am Leben zu erhalten.
Viele sind, Nahrung ist nicht da, da erfolgt der Zusammenschluß, das ist die Stadt, das Organisationsgefüge zur Beschaffung der Güter zum Überleben, d.h. gegen den Tod.
Dem Menschen, ’ādām, geben wir zunächst drei konkrete Nennungen:
Dabei gilt: ’ādām ist nicht gleichzeitig Fleisch und Trieb und Herz, sondern er ist von Fall zu Fall eines davon und das ganz (also kein Aufspalten in Sektoren wie im griechischen Denken: Dichotomie, Trichotomie).
Der ’ādām geht nun an die Natur heran
Mit diesen fünf markierenden Ausdrücken ist das Wesen des ’ādām erschlossen.
Schon 4000 v.Chr. wurde das bewußt. Der Mensch muß sich anpassen an dieses Gefüge der Natur, das ist gebieterisch.
Das Wort ’ādām macht eine Szene, ist ein Programm. Der, der es verkörpert, hat darin aufzugehen. Er muss Wissenschaftler, Techniker, Wirtschaftler, Politiker sein - und all das ohne Pause.
Im ’ādām-System, im Staatssystem ist von Gott nicht die Rede. Ganz anders im nichtstaatlichen Bereich, im Bereich der Stämme, dort herrscht eine eigene Kultur. Von ihren Gotteserfahrungen erzählt die Bibel. Diese Berichte können uns – intensives Studium vorausgesetzt – vielleicht helfen, auch für uns Heutige verständlich von Gott zu reden.
Denn jeder Mensch hat Gotteserfahrung, nur ist es nicht wahr, dass jeder Mensch, der Gotteserfahrung hat, sie auch bewußt hat und in Worten hat. Wir wollen also versuchen, den Gotteserfahrungen nachzuspüren, die in der Bibel zu entdecken sind.
Das Schlüsselwort heißt Ereignis. Auch ’ādām ist dahinein verstrickt, weiß aber keinen Ausweg. Seine Reaktion ist „rette sich, wer kann“. Wie aber bewältigt der Mensch der vorstaatlichen Kultur das Ereignis?
Das Ereignis, die Gelegenheit, einmalig und unwiederholbar, die da ist, jetzt, nicht vorher war und nicht nachher ist, das nennt man „Situation“. Wir wollen das Phänomen ein bißchen auffächern in deutschen Vokabeln:
„Situation“, „Gelegenheit“: Da ist etwas passiert, plötzlich, und betroffen sind „die Vielen“. Da weiß man plötzlich nicht, was man tun soll. Das Wort „plötzlich“ ist ein typisches Wort für das, wovon jetzt die Rede sein muß. Das war vorher nicht, ist nachher nicht, ist „plötzlich“. Plötzlich ist etwas passiert, unvorhergesehen und zuletzt und zutiefst prinzipiell nicht vorhersehbar. Die Deutschen haben dafür den Ausdruck im Nu, im Nu war das und das so und so, unversehens. „Zufällig“ nennt das Hilflose im Menschen den Zufall, „der Zufall hat's gewollt“, ich konnte es nicht in der Hand behalten. Zufällig, plötzlich, im Nu, unversehens, augenblicks.
Der ’ādām hat all diesen Wörtern den Krieg erklärt, er mag sie nicht. Es soll nichts zufällig passieren. Es soll nichts plötzlich passieren. Es soll nichts unversehens passieren. Es soll nichts augenblicks passieren. Er will alles im Vorhinein planen und berechnen, entschärfen.