Simone Harre und Nicole Roewers

Jede Menge

Glück

Gespräche mit Menschen

Layout:    Valentina Strickler

Bilder:     Matthias Körnich

Glück?

Ich sitze auf dem Sofa neben einer alten Dame und ihrem kleinen Hündchen, einem Yorkshire-Terrier. Das Glück, ja, das kenne sie, sagt sie. Die alte Dame lächelt und erzählt. Sie erzählt vom Krieg, von ihrem ersten Butterbrot nach dem Krieg, von ihrer Arbeit als verheiratete Frau, von den Nerzmänteln, die sie niemals brauchte, vom lieben Gott, mit dem sie sich unterhalte und von ihrem Urenkel. Sie sei glücklich, sagt sie und so wie es jetzt sei, genau so solle es immer bleiben, das wäre schön. Immer wieder denke ich seither an diesen einen Satz. Daran, dass ein alter Mensch voller Zufriedenheit sagt, sein Lebensalter gefalle ihm. Es gäbe nichts Besseres.

Ein Jahr später komme ich wieder. Ich möchte ein Foto von der Dame machen.

Ich weiß, es ist inzwischen viel Zeit verstrichen und schon ein paar Mal, wenn ich sie auf der Straße traf, habe ich gesagt, ich würde vorbeikommen. Nun endlich war ich da. Der Ehemann öffnet mir. „Meine Frau“, sagt er zögerlich und macht eine lange Pause, „meine Frau, die ist…“ – ich halte den Atem an – „… schon seit fünf Wochen…“ – oh mein Gott, denke ich, sie wird doch nicht…? Der Mann schaut mich an und sagt stockend: „… im Krankenhaus.“ Ich atme auf. Sie ist nicht tot. Nein. Nur im Krankenhaus und auf dem Weg der Besserung. Ein Glück. Aber nun erfahre ich, dass sie tatsächlich beinahe gestorben wäre.

Das Glück, denke ich auf dem Heimweg, ist wie ein Irrlicht, flink und ungestüm, mal hier, mal dort. Und höchst eigensinnig. Zwei Wochen später sehe ich die alte Dame wieder. Ich umarme sie und drücke sie ganz fest. „Schön, dass Sie wieder bei uns sind!“, sage ich. Sie ist noch ein wenig schwach und mager, aber sie kann wieder lächeln und nach einer weiteren Woche machen wir das Foto. „Schau mal“, sagt sie vergnügt zu ihrem kleinen Hündchen, „wir werden noch berühmt!“

Die alte Dame ist einer von vielen Menschen, denen wir auf unserer Reise zum Glück begegnet sind. Aufgebrochen waren wir, weil wir wissen wollten: wie glücklich sind wir eigentlich wirklich? Dazu befragten wir Nachbarn, Freunde, Bekannte, aber auch Wildfremde. Es wurde eine Reise durch die Lebenszeit der Menschen. Und so vielgestaltig ein Leben sein kann, so vielgestaltig zeigte sich uns auch das Glück.

Mal krisengeschüttelt, mal auf der Sonnenseite des Lebens. Und niemals einfach. Die Gespräche, die wir führten, offenbarten uns den steten Wandel des Glücks und sie zeigten uns, dass es nicht darum geht, das Glück festhalten zu wollen, sondern es vor allem auch loslassen zu können. In diesem Sinne hoffen wir, dieses Buch möge den Leser inspirieren, dem eigenen Leben mit Liebe und Neugier zu begegnen, denn eines haben wir auf dieser Reise gelernt: einen Plan gibt es nicht.

Inhaltsverzeichnis:

Vom Glück, …

Vom Glück,

mal reich zu werden

Eine Grundschulklasse

Ich möchte jetzt von euch wissen, was Glück ist, sage ich, stelle mein Aufnahmegerät auf und lehne mich zurück. Ich bin guter Dinge, schließlich sitzen hier rund 20 Kinder vor mir, alle zwischen acht und neun Jahre alt. 20 frische kleine Menschen, und die haben doch sicher noch Träume, große, tolle, unverbrauchte Träume, was das Glück angeht, davon bin ich überzeugt. Die 20 kleinen Menschen schauen mich an, ein bisschen neugierig, ein bisschen verlegen, ein bisschen nachdenklich.

Aber keiner sagt etwas.

Na? Bohre ich. Raus mit der Sprache! Was ist Glück?

Sie drucksen noch kurz rum, dann macht Lara den Anfang.

Für mich ist Glück, wenn ich viel Geld gewinne. Beim Lotto.

Das Eis ist gebrochen, die anderen ziehen nach: Mit 18 ein gutes Studium zu machen und einen guten Job zu haben. Mit seiner Arbeit später mal viel Geld zu verdienen, um sich eine tolle Wohnung leisten zu können. Einen Lebenspartner zu finden, den man gerne mag.

Moment mal, denke ich, Geld, Job, Wohnung, Partner- die sind doch erst acht oder neun, was ist denn hier los, das klingt alles so vernünftig! Ist DAS das Kinderglück? Ich ermuntere sie, mal nicht an später, sondern an jetzt zu denken. Sie wackeln auf ihren Stühlen hin und her, scharren mit den Füßen, es kommt Bewegung in die Kinder. Und das Glück wird konkreter: Das Schreibschriftheft endlich bekommen zu haben. In der Pause fünf Tore zu machen. In einem Test eine bessere Note als erwartet zu haben.

Einen Freund zu finden, wenn man in eine neue Schule kommt. Doch noch einen Platz im Flugzeug nach Spanien zu bekommen, obwohl es hieß, die Maschine sei ausgebucht.

Und dann sagt Christine:

Man hat ja auch Glück, wenn man eine Familie hat, die einen ganz dolle lieb hat und sich immer um einen kümmert.

Die Kinder stimmen nickend und murmelnd zu. Also doch nicht nur Geld, Auto, Job? Jetzt möchte ich wissen, wann sie das letzte Mal so richtig glücklich waren, oder jemanden getroffen haben, der richtig glücklich war? Jana muss nicht lange überlegen:

Meine Tante! Die ist immer glücklich, wenn sie etwas zu essen kriegt.

Einige Kinder kichern, andere lachen, und dann erzählen sie sich gegenseitig ein paar Geschichten: Der Junge aus dem Schulbus, der immer gut gelaunt und glücklich ist, ohne dass man etwas tun müsse. Der Opa, der eigentlich schon hätte tot sein sollen und dann im Krankenhaus doch noch gerettet wurde. Die Omas, die einfach glücklich sind, wenn sie ihre Enkel sehen. Das Glück, einmal im Urlaub 100 Euro gefunden und alles für Spielzeug ausgegeben zu haben. Als Forscher später einmal einen großen alten Knochen zu finden, einen Dinosaurierknochen.

Ich möchte später einmal etwas mit Kindern machen. Das reicht mir schon zum Glück.

Damit schließt Luca die Runde.

Paul, bisher noch ungehört, möchte auch etwas sagen. Sein Glück? Vorbei. Für immer, und das liegt daran, dass seine Schwester jetzt eine Zahnspange trägt.

Ich war glücklich, als meine Schwester noch keine Zahnspange hatte! Jetzt hat sie eine und keine Hasenzähne mehr. Damit konnte ich sie immer ärgern. Das geht jetzt nicht mehr.

Doch Gott Dank: das Glück geht niemals ganz. Es hängt noch im Zimmer seiner Schwester, in Form eines Fotos. Da hat sie nämlich noch die Hasenzähne. Und wenn Paul ganz traurig ist, geht er heimlich hin und schaut sie sich an.

Ni

» Der Dalai Lama würde vielleicht sagen, dass er glücklich ist, aber auch der ärgert sich, wenn ihm etwas runterfällt oder die Sandalen kneifen. «

Herbert, 38, Mediengestalter

Vom Glück,

nicht weg zu wollen

Lilly Meikis, 15 Jahre
Gymnasiastin

Es ist Samstag, elf Uhr morgens, und ich bin bei Lilly. Sie hat eigentlich keine Ahnung, was sie erwartet. Das Glück halt. Sicher. Ein paar Fragen beantworten und dann weiterfrühstücken. Vielleicht ist auch das der Grund, weswegen ich am Esstisch und nicht im verschwiegenen Kinderzimmer sitze. Denn in unmittelbarer Nähe werkeln die Eltern mit dezent gespitzten Ohren an ihrem Frühstück.

Keine Geheimnisse also, denke ich. Schade. Oder doch? Wie war der erste Kuss?

Ich habe mich einfach älter gefühlt.

Nicht glücklich?

Doch, in dem Moment war ich total glücklich, aber insgesamt war das halt ein Schritt in die Pubertät.

Lilly ist fünfzehn, geht in die neunte Klasse, ist froh, wenn es in der Schule gut läuft, denn dann läuft alles andere auch gut. Alles andere, das ist Sport, Leichtathletik im Verein, lesen, mit Freundinnen ausgehen und den Freund aus der Zwölften lieb haben. Und demnächst geht sie sogar für ein halbes Jahr nach Kanada. Englisch lernen.

Ob sie aufgeregt ist?

Und wie!

Vor fünf Jahren war sie schon mal in Kanada, in Vancouver genauer gesagt. Unten am Strand und oben in den Bergen. Das Leben in den Blockhütten am See war Glück, sagt Lilly. Aber damals war sie mit ihrer Familie unterwegs gewesen. Nun wird sie ganz alleine sein. Eine große Herausforderung?

Ja, wahrscheinlich wird Kanada beides werden: Schrecklich und schön!

Im Hintergrund raschelt und scheppert es noch immer. Manchmal wird Kaffee an uns vorbeigetragen. Ich fühle mich ein wenig wie ein Eindringling, denn der Tag beginnt hier erst. Schick gemacht hat sich noch keiner. Auch Lilly sitzt neben mir, bequem und ganz in weiß. Das Haar locker hochgebunden, ganz uneitel, ganz hübsch, höflich in Erwartung meiner Fragen. Also weiter: Was ist Glück?

Glück ist, wenn man sein Leben nicht ändern will, wenn man dort bleiben möchte, wo man gerade ist.

Und deswegen wird sie aus Kanada auch wieder zurückkommen. Denn Lillys Glück hockt nicht in der Ferne, auch nicht separiert in ihrem Zimmer, sondern hier am Esstisch, inmitten der Wohnung, inmitten der Familie. Hier findet sie Raum für ihre Probleme, hier wird ihr zugehört und hier wird sie verstanden. Besonders eng ist ihr Verhältnis zur Mutter.

Bei ihrer Mutter gäbe es nicht so diese Verschwiegenheit, sagt Lilly, die verstehe einen halt einfach. Außerdem ist die Mutter immer relaxt, auch wenn sie Stress hat. Das findet Lilly gut.

Aber wir sind hier alle so, machen gerne einen Spaß, und wenn wir ein Problem haben, können wir auch darüber lachen.

Ein Familienidyll also?

Nein, natürlich ist auch bei uns nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen! Wir knallen auch mal die Türe zu, aber dann vertragen wir uns alle wieder. Das ist wichtig. Man kann ja auch einfach mal still sein und „Entschuldigung“ sagen.

Was sind ihre Stärken, frage ich sie. Lilly überlegt nicht lange.

Meine Stärken sind, dass ich einen guten Humor habe und mit jedem gut klarkomme.

Außerdem sei es schön, sagt sie dann noch, wenn man für alle Menschen eine Art Liebe empfinden könne. Aber dann sagt sie nicht mehr viel, denn dann wird es laut. Im Wohnzimmer wird Musik aufgedreht. Die Eltern rocken! Lilly versucht sich noch eine Weile zu konzentrieren, dann steht sie auf, ermahnt die Eltern höflich, aber bestimmt zur Ruhe und kehrt zurück. Es wird wieder still.

Aber auch hier am Tisch ist fast alles gesagt. Ich könnte noch dieses oder jenes Glück im Leben einer Fünfzehnjährigen anhäufen. Unglück zumindest ist nicht dabei.

Vielleicht noch dies: Wie sieht die Zukunft aus?

Ich würde gerne Sport studieren und dann in Richtung Management gehen. Vielleicht vorher noch mal nach Spanien wegen der Sprache …

So dies und das. Doch bis es soweit ist, könne ja noch einiges passieren und schließlich: Vielleicht kommt alles ja ganz anders. Sowieso, jetzt muss sie erstmal nach Kanada, die Familie verlassen und in weiter Ferne alleine sechzehn werden. Ein großes Übel, findet Lilly, denn:

Sechzehn, das ist schon was Besonderes!

Aber andererseits… Das kann man ja nachfeiern!

Si

» Gipfelglück. Wenn ich auf einem Berg oben auf dem Gipfel stehe, dann habe ich Gipfelglück. Ich bin dann einfach saumäßig glücklich. Das Lustige daran: ich kann auf dem popeligsten Gipfel Gipfelglück haben. «

Axel, 39, Chemiker

Vom Glück,

weg zu wollen

Maria, 29 Jahre, Make-Up-Artist

Ich glaube, ich wollte es von mir selbst wissen, was ich dazu zu sagen habe. Ich hatte in letzter Zeit Glück, großes Glück. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt dazu was sagen kann, endlich!

Sagt Maria. Maria ist Ende 20, schlank, groß, blond und lebt in Köln als freiberufliche Visagistin. Ihre Mitbewohnerin und Freundin hatte ihr erzählt, dass sie uns ein Interview zum Thema Glück geben würde. Das wollte Maria auch. „Gib denen meine Visitenkarte!“ So kam sie zu uns. Und das ist ihre Geschichte.

Maria ist an der deutsch-polnischen Grenze geboren, auf deutscher Seite. Also im tiefsten Osten, sagt sie. Sie habe eine glückliche Kindheit gehabt, tolle Eltern, aber als sie den Schulabschluss in der Tasche hatte, wollte sie weg. Weit weg.

Ich wollte erfahren, wie es ist ohne Familie. Alleine zu sein. Ich wollte wissen, was in mir steckt. Ich hatte ein unwahrscheinliches Selbstbewusstsein und hab gedacht: ich komm nach Köln und schaff das sofort. Ich war früher immer so ein Typ, ich hab gesagt: ich reiß die Welt ein!

Also studierte sie in Köln auf einer Privatschule, machte sich danach als Visagistin, Maskenbildnerin und Hairstylistin selbständig. Und dann? Zog und zerrte sie an der Welt, aber die ließ sich nicht einreißen. Das Glück wehrte sich mit Händen und Füßen. Sie war Special-Make-Up-Stylistin in der Medienstadt Köln. Aber niemand wollte sie. Eine harte Zeit sei das gewesen, so ganz ohne Erfolg, so ganz gegen ihre Erwartungen. Alle Versuche, beruflich Fuß zu fassen, schlugen fehl. Je mehr sie ruderte, je verzweifelter sie akquirierte, desto weniger kam sie vorwärts.

Ich hab gesehen, wie andere gearbeitet haben. Und ich habe nicht gearbeitet. Ich hab viel zu Hause gesessen. Oder Promotion gemacht, damit ich meine Miete zahlen konnte. Dann habe ich mein Selbstbewusstsein verloren. Ich habe gesagt: Ja, das liegt an mir. Du kannst das nicht richtig, du gibst dir nicht genug Mühe.

Die Krise folgte auf den Fuß. Dass da niemand auf sie gewartet hatte, dass es so schwer war, das ging an die Substanz. Ständig gegen einen Strom anzuschwimmen, ständig alles zu geben und nichts zu bekommen. Irgendwann war die Kraft dann aufgebraucht und der Körper sagte: Schluss jetzt.

Vor genau zwei Jahren hatte ich einen Burnout, eine Gürtelrose. Ich hatte mehrfach Nervenzusammenbrüche. Ich war wirklich am Ende.

Sie machte eine Therapie, eine Gruppentherapie. Hielt einfach mal an in ihrem Leben, schaute, wo sie stand und sah, wo andere standen. Eine wohltuende Erfahrung, denn sie sah, dass sie nicht alleine war mit ihren Problemen. Anderen ging es genauso.

Ist also alles gar nicht so schlimm, dachte ich, ich kann mich beruhigen, bin auf einem guten Weg. Das muss einem auch mal jemand sagen! Nur wenn man so allein durch so eine Zeit geht, auch ohne Familie und großen Freundeskreis, den hab ich ja zu Hause gelassen, verliert sich das so ein bisschen, dass man jemanden hat, der sagt: hey, das ist total in Ordnung und das wird schon, jetzt stell dich mal nicht so an, mach dich nicht fertig.

Ein regelrechter Zeitgeist sei das, dass man sich mit so vielen Dingen herumschlage, dass man keine Zeit mehr habe für die schönen Dinge, dass die Gedanken dadurch blockiert seien und auch das Glück.

Wir suchen. Wir finden unseren Platz nicht mehr richtig. Es ist schwerer geworden, für mich und meine Generation, sein Plätzchen zu finden. Ob gesellschaftlich oder beruflich. Selbst privat ist es schwierig.

Zu viele Möglichkeiten, zu viele Richtungen sind da offen. Sie selbst sei mehrere Wege gegangen. Und mehrere Wege auch wieder zurückgelaufen, um eine andere Richtung zu probieren. Bis sie nicht mehr wusste: Geh’ ich jetzt links? Geh’ ich jetzt rechts? Die Therapie habe die Dinge wieder klar gestellt und ihr gezeigt, worum es sich eigentlich wirklich dreht.