Lieber Leser, liebe Leserin,
ich möchte Ihnen mit den Erinnerungen an meine aktive Dienstzeit im Nordosten Afghanistans von Februar 2004 bis Februar 2005 einen kleinen Einblick geben in das Arbeitsleben eines Polizeiberaters zu damaliger Zeit.
Das Thema Afghanistan hat mich nicht nur während meiner aktiven Dienstzeit als Polizeivollzugsbeamter des Landes Niedersachsen mit einigen Auslandserfahrungen sondern auch nach meiner Pensionierung weiterhin intensiv beschäftigt. Vielleicht gelingt es mir, Ihr Interesse an diesem immer noch interessanten Thema zu wecken, bereits vorhandene Kenntnisse zu vertiefen oder das sich verfeinernde Wissen um die Vergangenheit mit in die Beurteilung von Gegenwart und die Erwartungen an die Zukunft einzubeziehen.
Insbesondere die verstärkt im Jahre 2012 einsetzende sukzessive Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die nationale Polizei und an die nationale Armee mit Hinblick auf die beabsichtigte Verringerung der internationalen Präsenz bis Ende 2014 zeigt die Aktualität der Ereignisse.
Ich habe bewusst aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes auf die Nennung von Namen und Dienstgraden verzichtet - und das nicht nur für den Polizeibereich und lokalen Beschäftigte. “Wir“, das waren zu Beginn erfahrene Kollegen und Kolleginnen aus Baden - Württemberg, von der Bundespolizei, vom Bundeskriminalamt, aus Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz.
Ich schrieb damals kein minutiöses Tagebuch und hinterlasse keine langen Briefe, sondern verstehe meine Erinnerungen als eine Art Gedächtnisprotokoll, dass ich mit eigenen alten handschriftlichen Notizen nach dem Grundsatz keep it short and simple etwas auffrischen konnte. Ein Hang zur Verklärung oder Veteranenromantik liegt mir fern. Auch nach einem derartigen Einsatz gilt bis auf weiteres eine Form der Amtsverschwiegenheit weiter, wie sie bei den Vereinten Nationen (UN), der Europäischen Union (EU) und aufgrund der einschlägigen Beamtengesetze der Länder und des Bundes üblich ist. Ich möchte daher um Verständnis bitten, dass dieser Teil der Erlebnisse nur als Nichtgeschriebenes mitschwingt.
Bitte erwarten Sie keine blumigen Schilderungen, bunten Sprachgemälde oder Erzählungen aus 1001er Nacht. Die Umstände verdienen eine gewisse Nüchternheit.
Es war der 11. September 2001, als ich mit US - amerikanischen und anderen ausländischen Kollegen am Fernseher im Hauptquartier der UNMIK -Police (United Mission In Kosovo - Police) in Pristina den Fall der Twin - Tower in New York erleben musste. Zu dieser Zeit arbeitete ich im Rahmen der Polizeimission der UN für die Zentralabteilung Interne Ermittlungen.
Die Betroffenheit war allenthalben deutlich zu spüren, und keiner hatte Zweifel, dass sich aufgrund der Vorgeschichte und den Erkenntnissen in den folgenden Monaten in Afghanistan etwas „tun werde“. Neben einem zeitnahen und zügigen militärischen Vorgehen durfte davon ausgegangen werden, dass auch eine polizeiliche Komponente mit deutscher Beteiligung in diesem Nachkriegsszenario zum Einsatz kommen könnte.
Entsprechende Erfahrungen lagen bereits aus den Ereignissen in Bosnien-Herzegovina (ab 1996) und Kosovo (ab 1999) im Zuge der Rückkehr in eine Zivilgesellschaft vor. Im Rahmen eines UN-Mandats rückten nach Befriedung der Lage durch militärische Maßnahmen die verschiedensten Organisation für den Neuaufbau beziehungsweise Wiederaufbau der Infrastruktur nach und übernahmen die entsprechenden Aufgaben.
Dazu gehörte auch der Aufbau der Polizei mit einer eigenen und selbständig arbeitenden Organisation unter dem Dach des Innenministeriums. Albanien hatte einen ähnlichen Weg beschritten, als es im Frühjahr 1997 wegen der so genannten Pyramiden-Betrugsaffäre, die große Teile der Bevölkerung um ihr Erspartes brachte, zu internen Unruhen gegen den Staatsapparat, insbesondere gegen Militär und Polizei, kam.
Die damalige WEU (West Europäische Union) übernahm den Wiederaufbau und die Ausbildung der Polizei im Innenministerium und an der Polizeiakademie in Tirana.
Sollten es nicht doch die „Anderen“, wer auch immer es sein sollte oder gemeint war, machen? Gab es nicht andere asiatische Staaten und besonders die Nachbarstaaten wie Iran, Turkmenistan, Uzbekistan, Tadschikistan, China oder Pakistan, die diese Aufgabe auch hätten erledigen können?
Was wollten Europäer oder einfach nur Fremde in Afghanistan? Das Britische Empire war dort bereits mehrmals gescheitert. Letztendlich musste es nach dem Dritten Anglo-Afghanischen Krieg am 8. August 1919 im Vertrag von Rawalpindi die Souveränität und Eigenstaatlichkeit Afghanistans anerkennen.
Siebzig Jahre später waren auch die sowjetischen Truppen nach zehn Jahren Besatzung gescheitert und zogen sich auf ihr Territorium zurück.
Lassen wir doch einmal einen lokalen Bürgermeister zu Wort kommen, der mir gegenüber erklärte, der heroische Kampf der Afghanen gegen die sowjetischen Truppen und deren erzwungener Rückzug habe mit zur Destabilisierung der Sowjetunion und letztendlich auch zur Vereinigung Deutschlands beigetragen.
Wie sagte mir später einmal ein afghanischer Bauer: „ Du kannst mir meine Kuh stehlen oder mein Haus niederbrennen, aber meine Freiheit nimmst Du mir nicht!“ Das war der gemeinsame Nenner, der über innere Zwistigkeiten zwischen den einzelnen Volksgruppen hinweg den freiheitlichen Drang zur Eigen- und Selbständigkeit offenbarte und von den Invasoren und Eingeladenen unterschätzt wurde.
Deutschland unterhielt bereits seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts enge diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen zu Afghanistan und beteiligte sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise neben der Gewerbeschule in Kabul an der Aus- und Fortbildung von Polizeipersonal. Während der sowjetischen Besatzungszeit ab Ende 1979 bis 1989 wurden Polizeiangehörige auch in der damaligen Sowjetunion und in der DDR ausgebildet.
Auf Grundlage des Petersberger Abkommens von 2001 vereinbarten die Bundesrepublik Deutschland und die Islamische Republik Afghanistan in einem bilateralen Vertrag die Tätigkeit deutscher Polizeibeamter und -beamtinnen. Im Jahr 2002 begann die Arbeit zunächst in Kabul unter anderem mit dem Bau der dortigen Polizeiakademie und der Ausbildung von Offizieren. Mit Beginn des Jahres 2004 wurden die Außenstellen in Herat Richtung der iranischen Grenze und in Kunduz im Nordosten eingerichtet und besetzt.
Was trieb „uns“ Polizeibeamte nun ausgerechnet dazu, in einem mittlerweile scheinbar befriedeten fremden Land mit unterschiedlicher Kultur, anderer Religion, wechselvoller Geschichte, vermintem Terrain und dann noch weit entfernt von zu Hause arbeiten zu wollen?
Ein Ausbilder im Vorbereitungsseminar für den Einsatz in Afghanistan formulierte und provozierte irgendwann einmal, man müsse schon „verrückt“ sein, um „dorthin“ zu gehen. Vielleicht waren wir alle verrückt im einem positiven Sinne - wer weiß das schon. Die Zeit wird es zeigen. Oder war es doch nur die „unstillbare Sehnsucht nach dem Tod“, wie ein Kollege aus einer Stabsdienststelle vor Jahren fragend in den Raum stellte.
Nach meinen Erfahrungen in Bosnien - Herzegovina, im Kosovo und in Albanien hielt ich es nicht für abwegig, auch in Afghanistan unter den dortigen besonderen Bedingungen einen Polizeiaufbau mit anzustoßen und einen kleinen Beitrag für die Stabilität des Landes zu leisten. Das mag zunächst nach Naivität, Weltverbesserung und Abenteuerlust klingen. Meine bisherigen Erkenntnisse lehrten mich jedoch, es trotzdem zu wagen; denn oft waren es die kleinen Schritte und persönlichen Gespräche und nicht die „großen Würfe“, um vor Ort etwas umzusetzen und zu bewegen. Letztendlich fand man sich auf diese Weise doch im großen Ganzen wieder.
Die Vorbereitungen in Deutschland in Sachen interkulturelle Kompetenz, Begegnung mit möglichen Gefahren für Leib und Seele wie beispielsweise Krankheiten, Unfälle, Anschläge, extreme Temperaturunterschiede und Wetterverhältnisse, Minengefahr, Trennung von der Familie, Umgang mit Gerüchten, Leben in Gemeinschaftsunterkünften auf engem Raum, Teamfähigkeit und vieles mehr bildeten meines Erachtens eine geeignete Grundlage für eine spätere Handlungssicherheit vor Ort.
Jeder musste letztendlich seine eigenen Erfahrungen machen. Es war Kameradenpflicht, einen Kollegen oder eine Kollegin auf vermeintliche oder festgestellte Verhaltensauffälligkeiten hin anzusprechen. Letztendlich waren wir eine Gefahrengemeinschaft. Jeder sollte sich auf den Anderen verlassen dürfen.
Wir reisten von Köln-Wahn mit einer Luftwaffenmaschine nach Termez in Uzbekistan, um nach einer Übernachtung von dort ins benachbarte Afghanistan zu fliegen.
Als meine Kollegin und ich Ende Februar 2004 auf dem südlich der Stadt gelegenen Flugplatz im nordafghanischen Kunduz (auch: Kundus, Qhunduz) aus der Transall der Bundeswehr stiegen, begrüßte mich als erstes neben dem Vorfeld das Gerippe eines weißlackierten VW-Käfers. Die Reste eines abgewrackten Reisebusses leisteten Gesellschaft.
Unwillkürlich kam mir ein afghanisches Wort in den Sinn, auf das ich irgendwann beim Lesen von Literatur und Informationen über das zukünftige Einsatzland aufmerksam geworden war und das da sinngemäß lautete: „Nach Kunduz geht man nur zum Sterben“.
Wie ich erfuhr, bezog sich diese Aussage wohl hauptsächlich auf die Zeit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als mit der zunehmenden Besiedlung in dieser Gegend begonnen wurde und es in und um Kunduz noch Sümpfe und stehende Gewässer gab. Damals forderte die Malaria unter der Bevölkerung Jahr für Jahr eine hohe Zahl von Opfer.
Mit der einsetzenden Urbarmachung der flussnahen fruchtbaren Gebiete und den verbesserten Vorbeugungs- und Behandlungsmethoden verringerte sich die Todesrate über die Jahrzehnte. Die penibel geführten Unterlagen im Krankenhaus von Kunduz gaben ein beeindruckendes Zeugnis über den Krankenstand der Bevölkerung.
Zu erwähnen wäre noch die Leishmaniose, eine weitere Geißel der Bevölkerung. Bei einer Form dieser Krankheit verursachen Stiche durch Sandmücken(–flöhe) auf der Haut die Bildung von Beulen. Die später abheilenden Beulen hinterließen hässliche bis zur Entstellung führende Narben. Hiervon waren nicht wenige Kinder betroffen.
Internationalen Quellen zufolge hatte Afghanistan allgemein eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten weltweit. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei etwa 50 Jahren. Soweit die Statistik.
Mit Blick auf die Malariaprophylaxe hielten wir uns an die Empfehlungen der Bundeswehr. Neben der regelmäßigen Einnahme eines Medikamentes bedeckten wir Arme und Beine. Letzteres half auch gegen die Sandflöhe, die sich angeblich nur bis zu einer Höhe von 1,5m bewegten. In den Bereichen der Unterkünfte standen einige Fliegenfallen.
Tatsächlich fanden sich vereinzelt Malariafliegen in den Behältern und bestätigten durch ihre Anwesenheit die Notwendigkeit einer Vorsorge. In Kabul auf etwa 1800m Höhe war derlei nicht zu befürchten.
Dass der Spruch vom Sterben in Kunduz in einem anderen übertragenen Sinn Wirklichkeit werden sollte, wurde uns im Verlauf der folgenden zwölf Monate unseres Missionsaufenthaltes im Norden und im Nordosten des Landes noch sehr eingehend und leidvoll vor Augen geführt.
Der Basar in der Innenstadt bildete das Geschäftszentrum. Der Gewürzmarkt als auch der Fleischmarkt waren in überdachten Seitenarmen und Nebengebäuden am zentralen Platz untergebracht. Die Teppichhändler belegten eine Straßenseite, die andere Straßenseite beherrschten die Händler mit Elektroniksachen.
Die Schmiede hatten sich in einer weiteren Straße niedergelassen und fertigten aus vielerlei Restmetall und Blechen kleine Heizöfen, Sicheln, Messer, Zaunelemente und vieles mehr. Überwiegend standen Kinder am offenen Feuer und bedienten den Blasebalg.
Da Kunduz im Gegensatz zu Taloqan, Feyzabad und Pol–i Komri über keinerlei Umgehungsstraßen verfügte, musste sich neben dem örtlichen Zielverkehr auch der Überlandverkehr durch das Stadtinnere zwängen.
Die zentrale Kreuzung verteilte den Überlandverkehr in Richtung Taloqan in der Provinz Tahar und darüber hinaus nach Feyzabad in der Provinz Badakhshan, zum Grenzübergang Shir Khan und nach Enam Saheb im Norden der Provinz Kunduz, nach Pol–i Komri und weiter nach Kabul als auch innerstädtisch beispielsweise zum Sitz des Gouverneurs, der Provinzpolizei, des Gerichts und des Gefängnisses.
Mit zunehmender Ortskenntnis konnten wir mit unseren Fahrzeugen dieses Nadelöhr umfahren. Das galt nicht für die schwer beladenen Lkw oder alle Militärkonvois. Der Reiseverkehr wurde weniger mit großen als mit kleineren Bussen abgewickelt.
Das Stadtzentrum mit dem Basar und dem erheblichen Personen- und Fahrzeugaufkommen bot somit ein ideales Angriffsziel für Sprengstoffanschläge jeglicher Art und Ausführung.
Unser Dreipersonen-Team in Kunduz (mit unterschiedlicher Besetzung während meiner zwölfmonatigen Dienstzeit) war eingebettet in das deutsche Regierungs-Projekt Provincial Reconstruction Team (PRT).
Es war beabsichtigt, mit den vor Ort arbeitenden Repräsentanten einzelner Ministerien wie Verteidigungsministerium (BMVg), Auswärtiges Amt (AA), Bundesministerium für Inneres (BMI), Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Synergieeffekte zu nutzen, bürokratische Hürden abbauen und zielgerichtet in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen lokalen gesellschaftlichen Gruppen durch Unterstützungsmaßnahmen und Projekte zügig helfen.
Wie die Erfahrungen zeigen sollten, war das Konzept in dieser Form grundsätzlich geeignet. Friktionen zeigten sich für uns hin und wieder mit lästigen und als nicht zielführend empfundenen Fragestellungen von der „Heimatfront“. Zu diesem Thema wurde in Kunduz das Ansinnen des Sachbearbeiters aus einem Ministerium in Deutschland kolportiert, dass man in Vorbereitung eines Ministerbesuches in Afghanistan vor Ort nur Fahrzeuge mit gültiger Hauptuntersuchung (TÜV) und Abgasuntersuchung (AU) anmieten dürfe.
Nun, nicht nur hier vor Ort spielte sich das wahre Leben zwischen den Zeilen ab. Die Begleitung des Ministers als auch die Medienvertreter fanden später keinen Anlass zu Fuß gehen zu müssen.
Das PRT-Projekt schien bei einigen deutschsprachigen Hilfsorganisationen oder Einzelinitiativen auf Irritationen zu stoßen. Man sah durch die Anwesenheit des Militärs seine Sicherheit, Unparteilichkeit und Freizügigkeit gefährdet und vermied zunächst die Nähe zu den Einsatzkräften. Im Laufe der Monate hatten wir einige Kontakte, zumal man überrascht war, deutsche Polizeibeamte im Nordosten zu sehen. Hier und da gab es den einen oder anderen, der von seiner Grundeinstellung her etwas gegen Bundeswehr und Polizei oder generell gegen alles Uniformierte hatte. Letztendlich entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis. Zudem erhielten wir ergänzende hilfreicheHinweise über örtliche Sitten und Gebräuche und für den Umgang mit der Bevölkerung.
Wir konnten uns von der engagierten, aufopferungsvollen und bemerkenswerten Arbeit der Organisationen überzeugen. Ich nenne hier nur beispielhaft den Bau und Betrieb von Schulen für Mädchen und Jungen im Raum Kunduz-Taloqan, ein Projekt zur Verbesserung der Wasserversorgung in Faizabad, den Bau des neuen Krankenhauses in Kunduz als schwedisch - amerikanisches Projekt, den Betrieb einer Näherei und Weberei mit Kindergarten als Projekt für Kriegerwitwen in Kunduz, Aus - und Fortbildungsmaßnahmen für Beschäftigte im Restaurant- und Hotelgewerbe, Verbesserung und Ausbau landwirtschaftlicher Produktion einschließlich Viehhaltung und Wasserbau. In vielen Fällen waren es kleine und gute Projekte, die den Menschen vor Ort in unkomplizierter Weise halfen.