Der innigste Dank geht an Dr. Christoph Spunda, der als Sohn von Dr. Franz Spunda und Rechtsinhaber seiner zahlreichen Werke die großzügige die Erlaubnis erteilte, dieses bisher unveröffentlichte Manuskript auflegen zu dürfen.

Außerdem sei Monika Kobsch gedankt für die akribische Übertragung von sechshundert Schreibmaschinenseiten mit Handnotizen des Autoren, die Jahrzehnte lang im Deutschen Literaturarchiv Marbach darauf gewartet haben.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
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Franz Spunda, Platon, Band I

Erste Ausgabe

© 2012 by Edition Pleroma, Frankfurt am Main

Erste Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Nicolas Vassiliev

Titelbild: ©Nicolas Vassiliev

Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-9396-4726-3

www.edition-pleroma.de

E-Mail: info@edition-pleroma.de

Inhalt

Erstes Buch

Platons Jugend

Der zwölfjährige Platon - Liebe zu Diotima - Anaxagoras und die Vorherrschaft des Geistes - Gespräche mit Sokrates - Politische Krisen in Athen - Erste Werke des Platon - Diotimas junger Tod - Platon und der Tyrann Kritias - Platon und seine Liebe zu dem Jüngling Lysis - Die Weisheit des Pythagoras – Sokrates als Gast - Verurteilung und Tod des Sokrates – Aufbruch in ferne Länder.

Erstes Kapitel

Golden taucht sie empor über dem inselnden Meer, die Sonne, feierlich glühend, ein Gott. Wo das Gedünst der Nacht noch eben gelagert, flattert es in dünnen Schleiern empor, die im Äther wonnig zerfließen. Von den Gestaden Ioniens her taucht auf die Glut der strahlenden Scheibe, ergießt ihr Licht, im jähen Erwachen gleitend über Inseln, Klippen und Felsen, die im Anhauch rosig erblühen, und stürzt dann aufbrandend nach oben an die heiligen Häupter der Berge des Festlandes. Blutrotem Quarz vergleichbar erbrennt das Schneehaupt des Olympos als erster der Gipfel; seinem Anruf antwortet der Parnassos in verklärter Verzückung; vom Süden leuchtet der Taygetos auf. Und alle die übrigen Berge, Kyllene, Erymanthos, Chelmos, vom gleichen Schauder getroffen, gewinnen im Licht ihre Göttlichkeit wieder.

Und dann senkt sich von oben herab, was vom Osten herankam, das Licht, auf die kleineren Berge, Oita, Kithairon, Parnes, Arachnaion; rieselt die Täler hinab zu den Hügeln und Hainen, wo Nymphen und Hamadryaden bei dem ersten Strahl erwachen. Bald ist jede Mulde von Glanz erfüllt, jedes Tal, über das sich überlange Schatten der Zypressen wie dunkle Steige legen. Das Wunder der Lichtgeburt währt nicht länger als das Erschaudern des Herzens und selig abklingender Dank. Die Welt ist wieder da, wie du sie liebst, die gleiche, schöne wie gestern. Aber es ist etwas hinzu gekommen, was der Sinn nur halb erahnen kann: dass dieser Tag gekommen ist als Göttergeschenk. Du kannst heute reiner, inniger, lichter werden. Als Aufgabe und Bewährung ist dir das Licht geschenkt. Die Kühle der Nacht, die dem Boden entatmet, hält die Sinne heiter und hell.

Während die anderen noch schlafen, ist einer aus ihrer Gemeinschaft herausgetreten und eilt jetzt mit munteren Schritten zum sprudelnden Quell. Es ist ein Knabe von ungefähr zwölf Jahren. Unter drei breit schattenden Platanen schießt das Wasser der Peirene aus ehernen Löwenmäulern in ein Becken und von da abwärts in steinerne Tröge, in denen es ausruht als kristallene Flutung.

Der Knabe beugt sich über den Trog, netzt die Schläfen, das Haupthaar. Dann taucht er die Arme bis an die Schultern in das eisige Nass und lässt die Kälte in sein Blut dringen. Drei Pulsschläge lang hält er den Atem an, und wie er die Lungen wieder öffnet, ist es ihm zumute, als ob er die Lust des werdenden Tages mit einem Zug einschlürfen wollte: Vorfreude zugleich und Gebet. Dann strählt er sein Haar mit einem hornenen Kamm und blinzelt hinüber über das Myrthengebüsch, unter dem hervor der Spiegel des saronischen Golfs emporblitzt, während die Sonne noch von der Bodenschwellung des Isthmos verdeckt ist. Gerne möchte er sich hier versäumen und dem Traum nachsinnen, der erst vor Kurzem ihn verlassen hat – noch klingt er in ihm nach wie ein allmählich verschwebender Ton und zerfließender Hauch – da reißt das Gekläff eines Hundes ihn aus dem Halbtraum. Auf dem nahen Stadion erscheinen die Sklaven, die den Platz säubern, die Opferpfannen reinigen und neue Scheiter für den Brand bringen. Andere schleppen Körbe mit Fichtenreisern herbei, mit denen sie die Ränge der Zuschauer und das Eingangstor schmücken.

Der Knabe läuft zum Zelt seiner Gefährten zurück und rüttelt die Schläfer:

»Auf, Chairephon, Kriton, Ktesippos! Wollt ihr die Letzten sein?« Die Gerufenen springen auf und blinzeln nach der Sonne, die gerade über die Myrthen emporsteigt.

»Du hast Recht, es ist an der Zeit. Wir müssen uns eilen«, sagt Ktesippos, der Jüngste von ihnen.

Die vier Freunde werfen das leichte Nachtgewand von sich und legen die Chlamydes, die Festgewänder an, die so geschickt zugeschnitten sind, dass sie mit einem Schwung abgeworfen werden können. An die Füße binden sie sich Sandalen aus geschmeidigem Hirschleder, deren Riemen über den Knöcheln verschlungen werden. Chairephon, der Eitelste von ihnen, träufelt auf seine Haare einige Tropfen wohlriechenden Öls, das er an den Schläfen verreibt. Inzwischen haben Sklaven ein Feuer entfacht und sieden in einem Kessel die Grütze für das Morgenmahl. Aus anderen Zelten treten Knaben hinzu, ein jeder seinen hölzernen Löffel und Teller in der Hand; sie warten hungrig auf das Garwerden des Breies. Zurufe ertönen von allen Seiten. In ihrer Ungeduld klappern sie mit dem Essgeschirr, dass es einen lustigen Lärm ergibt. Da kommt ein Alter hinzu und gebietet Ruhe:

»Die Gäste schlafen noch. Es sind auch Kranke unter ihnen, auf die ihr Rücksicht nehmen müsst.«

Und sogleich trat Ruhe ein.

»Ist es wahr, dass auch dein Großvater Aristokles hergekommen ist, um durch den Gott der Spiele Heilung zu erlangen?« fragte Chairephon den Knaben, der als Erster aufgestanden war.

»Er leidet seit Jahren an der Gicht«, erwiderte der Gefragte. »Asklepios in Epidauros und Trophonios in Lebadeia haben seine Bitten um Heilung nicht erhört. Nun erhofft er sich vom Gott der Isthmischen Spiele, dass seine Leiden zumindest erträglicher werden.«

»Poseidon als heilender Gott ist noch nicht von allen nach Gebühr erkannt«, sagt Kriton.

»Denn er als Bruder des Hades und des Zeus ist mächtiger als die jüngeren Götter. Und aus dem Wasser ist alles erstanden.«

»So behauptet Thales. Ganz falsch: Aus dem Feuer! Aus der Luft!« ruft man ihm von allen Seiten entgegen.

»Aus der Luft! Aus der Luft!«, schreit einer, der dabei ganz wild mit seinem Löffel herumfuchtelt.

Wieder droht Lärm wie früher auszubrechen, doch plötzlich verstummen alle, als der Kochsklave den Brei auszuteilen beginnt. Alle drängen zum Kessel, nehmen die Speise in Empfang und löffeln mit Behagen. Die leer gewordenen Essgeschirre sammelt ein Sklave ein und fegt dann den Platz rein.

Vor und im Stadion hatten sich die ersten Gäste eingefunden. Auf Bahren wurden Kranke hereingetragen und vor dem ersten Rang auf den Boden gelegt; neben ihnen kauerten andere Gebrechliche. Hinter ihnen stiegen die Sitzreihen für die Übrigen empor, ähnlich wie im Theatron, aber nicht in einem Halbkreis, sondern in gerader Reihe, sanft an den Abhang des Hügels gelehnt.

Der Altar, ein Bomos, stand im Eingang der Rennbahn, aus rohen Feldsteinen getürmt, über die ein aus Erz geschmiedeter Dreizack aufragte, das Zeichen des meergewaltigen Gottes. Rechts davon nahmen die Knaben Aufstellung, etwa dreißig; links von ihnen stellten sich die Mädchen auf, von gleicher Anzahl, der Größe nach angeordnet. Sie waren aus ihren Lagern von der anderen Seite des Hügels gekommen. Der Bomos stand genau auf der Wasserscheide zwischen den beiden Meeren. Nach Osten leuchtete der saronische Golf im Prallglanz des sich spiegelnden Sonnenlichts, nach Westen zu lag in smaragdener Kühle der Schatten der korinthischen Bucht, von Bergen wie ein Landsee umschlossen. Nach Norden ragten steil die Felsflanken der Berge auf, hinter denen in erblauender Ferne das schneeige Doppelhaupt des Parnassos hell wie ein erscheinender Gott aufgleißte. Die Hochgipfel im Westen ließen nur ferne Umrisse erkennen, während ganz nahe der Zinnenkranz der Akrokorinthos wie ein Wächter die Landschaft zu seinen Füßen hütete. Weit unter ihr, zum Meer hin sich ausbreitend, lag die Stadt Korinthos mit ihren Häfen, von denen nur der Leuchtturm mit seiner Laterne sichtbar war. Auch der Stadtkern war durch Bodenschwellen verdeckt. Nur die alten Tempel am Stadtrand, das Apollon-Heiligtum und das Medeion, leuchteten in ihrer grellen Bemalung aus den dunklen Lorbeerhainen ihrer Umgebung hervor.

Eine feierliche Stille lag über der Landschaft, die sonst vom Gelärm der Schiffsknechte erfüllt war. Denn unmittelbar hinter dem Festplatz war eine tiefe Furche in das Erdreich geschnitten, in der alltäglich Schiffe von einem zum anderen Meer von Ochsen und Pferden gezogen wurden. Dadurch wurde die Umschiffung des gefürchteten Vorgebirges Tainaren an der Südspitze des Peloponnesos vermieden und kostbares Handelsgut vor dem Zugriff der rasenden Elemente gesichert.

Um die Ausdünstungen des Werktages zu vertreiben und Lüfte zu reinigen, waren schon am Vortag entlang der Furche Räucherpfannen aufgestellt worden, denen scharfe Düfte in Wolken entstiegen. Aber der Frühwind hatte sie verblasen, und heute war wieder der Geruch von Tierdünger bemerkbar geworden. Deshalb wurde neue Glut und Räucherwerk in die Pfannen getan. Als nun blaue Schwaden daraus empor wirbelten, traten die Priester an den Altar. Chersimos, der diesem Amt seit einem Lebensalter vorstand, rief den Gott der Meere in altertümlichen Worten an, in altdorischer Mundart, die von den Gästen aus Attika und Boiotien nur schwer verstanden wurden. Dann wurden die Opfertiere herein gebracht, eine Taube, ein Salamander, ein Maulwurf und ein Fisch, wobei ein Doppelchor von je sechs Knaben und sechs Mädchen den Hymnos anstimmte, der die vier Elemente beschwor, dem Opfer günstig zu sein. Während Chersimos die Tiere schlachtete und ihr Blut auf den Opferstein tropfen ließ, wurde der Holzstoß hinter dem Bomos in Brand gesetzt, in den die Opfer geworfen wurden, sobald die Flammen hoch aufleckten.

Da vernahm man aus dem Talgrund dunkle Trompetenstöße, eine Wiederkehr immer gleicher Tonfolgen, der Ruf Poseidons, wenn er mit seinen Wogenrossen über die Fluten dahin jagte. Aus diesen Tönen heraus schwoll der Anruf des versammelten Volkes: zuerst nur Einzelrufe aus allen vier Richtungen des Himmels, dann der Chor und schließlich die Rufe aller: Beschwörung und Gebet. Als die Flamme niedriger brannte, erhielt sie neue Nahrung. Ein Priesterdiener warf aus einem Korb getrockneten Meertang darauf.

Indessen hatten die Spielordner die einzelnen Gruppen zusammengestellt, die gegeneinander kämpfen sollten: die für den Ringkampf, für den Diskos, das Rennen und das Keulenwerfen. Zu jeder Gruppe traten die Preisrichter heran. Die Spiele begannen gleichzeitig an sechs verschiedenen Plätzen. Neugierig streckten sich alle Hälse, Zurufe der Verwandten flogen auf. Jeder der am Spiel Beteiligten, Knabe oder Mädchen, warf, wenn an ihn die Reihe kam, sein Gewand ab und stürzte sich in blühender Nacktheit in die gestellte Aufgabe. Alles war so geschickt angeordnet, dass immer ein Spiel in das andere übergriff, sodass sich für den Zuschauer in den Rängen ein harmonisches Bild ergab.

Ein heiliger Rausch der Erregung hatte alle ergriffen. Jeder Muskel, jeder Sinn war gespannt, wie es nur geschehen kann, wenn der Mensch die Nähe des Göttlichen fühlt. Denn der, der nach den Spielen als Sieger hervorgehen wird, wird deutlich als Liebling der Götter erwiesen sein. Ein jeder der Zuschauer hoffte für seinen Sohn oder Enkel, der da unten auf dem Sand seine Kraft erprobte. Auch die Kranken auf den untersten Sitzen und auf den Bahren, von denen aus sie nur das gewahren konnten, was sich unmittelbar vor ihnen abspielte, waren von der gleichen Erregung ergriffen. Es war, als ob ein Strom von Kraft und Gesundheit auf sie überflösse. Da und dort erhob sich einer mit verzückt blickenden Augen, beschrieb mit den Händen Kreise in der Luft, und sein Mund rang nach einem befreienden Wort. Aber es war wohl noch nicht an der Zeit für ihn. Noch hatte der Gott nicht seine verschlossene Seele geöffnet, und wortlos sank er zurück, von der Gewissheit beglückt, die das Vertrauen zu den Hohen gewährt.

Ein tönendes Horn zeigte das Ende des ersten Teils an. Knaben und Mädchen schlüpften wieder in ihre Kleider, und ein Geschwirr von Stimmen flatterte auf. Ein jeder lief zu seinen Verwandten, die stolz auf die Teilerfolge ihrer Sprösslinge waren. So zogen sie hin, eine jede Sippe zu ihrem Zelt, und labten sich an Speise und Trank.

Die größten Aussichten hatte wider alles Vermuten Sthenelos, der Sohn eines einfachen Fischers aus Gytheion, also ein Dorer, ein stämmiger Bursche. Er hatte in drei Spielen gesiegt, nur im Laufen war er unterlegen. Aufseiten der Athener, die fast die Hälfte der Beteiligten ausmachten, war noch kein klares Bild zu gewinnen. Aber soviel war gewiss, dass in den musischen Spielen einer von ihnen einen Preis gewinnen würde.

Aristokles war von den Seinigen in das Zelt der Kodriden gebracht worden.

»Wie fühlst du dich, Vater?« fragte ihn sein Sohn Ariston. »Bist du mit deinem Enkelkind zufrieden?«

Der Greis nickte, winkte den Knaben heran und legte ihm die Hand auf das Haupt.

»Es geht Segen von dir aus, mein Kind. Ich spüre, dass ein Gott mit dir ist. Meine Seele sagt mir, dass du siegen wirst.«

Aristokles wollte aufstehen, um den Enkel ganz zu umfangen, aber ein neuer Schwächeanfall riss ihn zurück.

»Du sollst dich nicht erregen, Vater«, sagte Ariston, sein Sohn und bettete den Alten auf sein Lager zurück.

Die Zeltgenossen setzten sich zum Mahl um den Tisch, Ariston und seine Gemahlin Periktione, deren Vater Glaukon und dessen Sohn Charmides. Neben ihnen saßen Fernergesippte wie Kritias und Kallaischros. Periktione brachte die besten Stücke dem Greis auf der Bahre. Dieser aber begnügte sich mit einem Fladen Honigkuchen und einem Becher hellroten Wein. Die Kinder des Ariston verschlangen mit Heißhunger das Mahl und stürmten dann hinaus zu ihren Freunden aus den anderen Zelten. Sobald sie weg waren, sagte Glaukon: »Vielleicht sind wir heute zum letzten Mal für lange Zeit in heiterer Geselligkeit vereint. Der Krieg ist vom Volk beschlossen, der überflüssigste Krieg, den Athenai jemals geführt hat. Mögen die Götter noch alles zum Heil wenden!«

»Du warst seit jeher dagegen«, sprach Ariston, »aber der Volksbeschluss erscheint mir gerechtfertigt. Athenai wäre keine Großmacht mehr, wenn wir die Bitte der beiden sikelischen Städte um Beistand abgeschlagen hätten. Nur dadurch ist unsere Stadt groß geworden, dass sie immer ein Hort der Bedrängten war.«

»Was gehen uns Leontinoi und Thurioi an?«, ereiferte sich Kallaischros.

»Ein Raubkrieg ist es, den die Unersättlichkeit einiger Verblendeter vom Zaum gebrochen hat. Erinnert euch an die Hetzrede des Peisandros: ›Die Reichtümer des Westens gehören euch, wenn ihr mutig zugreift. Und haben wir einmal die große Insel Sikelia in unserem Besitz, so setzen wir auf das gegenüber liegende italische Festland über. Wenn dann nach einigen Jahren unsere Herrschaft gefestigt ist, so greifen wir Karthago an und gewinnen seine märchenhaften Schätze. Lasst dann nur ein Menschenalter vergehen, und Aigypthos gehört uns. Dann wird der Großkönig erzittern, wenn wir an die Tore Asias pochen werden. Ihr seid die Herren der ganzen Welt, wenn ihr beherzt zugreift. Nie war die Gelegenheit günstiger als jetzt!‹ - So schrien Peisandros und Androkles, und mit ihnen brüllte das ganze Volk, vom gleichen Rausch der Macht ergriffen.«

»Es ist kein unbesonnenes Abenteuer, wie du wähnst«, warf der junge Charmides ein, »sonst hätte sich der gewissenhafte und fromme Nikias nicht als Strategos für den Krieg zur Verfügung gestellt. Auch der zweite Strategos Lamachos ist kein Hitzkopf mehr, eher ein Zauderer, der nur dann zugreift, wenn er seiner Sache ganz sicher ist.«

»Doch der dritte, der wahnsinnige Alkibiades, drückt zehn Ehrenmänner wie die beiden an die Wand und tut allein, was er will«, sagte Glaukon mit betonter Schärfe. »Wir alle sind schuld daran, dass wir es haben so weit kommen lassen. Die größte Schuld trägt aber Perikles, der den Epheben Alkibiades verzogen und jede seiner Launen gebilligt hat.«

»Mit ihm Aspasia und alle Verächter der alten Ordnung und Ehrfurcht, die Neunmalgescheiten, die Sophisten«, behauptete Kallaischros. »Und mit ihnen die Dichter, die den alten Götterglauben untergruben.«

»Schilt mir die Dichter nicht!«, warf Charmides ein, »denn was wäre die Welt ohne die Musen?«

»Recht hast du, Kind«, ließ sich nun der Greis auf der Bahre vernehmen. »Der große Aischylos war mein Freund. Ich bin noch heute stolz darauf, dass ich die Leiturgia seines Gefesselten Prometheus beigesteuert und im Chor mitgesungen habe.«

»Wir wissen es«, sagte Glaukon, »und ehren ihn wie du. Aber was jetzt im Theatron geschieht und welche Lästerungen ungestraft gesagt werden dürfen, das fordert die Rache der Götter heraus. Ich sehe einen Zusammenbruch auf allen Gebieten voraus. Die einzige Hoffnung auf eine schönere Zeit erblickte ich nur darin, dass die Jugend mit gleichem Eifer wie zu meiner Zeit den heiligen Spielen ergeben ist. Ich habe am Vormittag an meinen Enkeln eine rechte Freude gehabt.«

Die Gespräche wurden immer lässiger. Mittägliche Müdigkeit legte sich über alle, und jeder legte sich zu kurzem Schlummer nieder. Der Gymnasiarchos draußen gebot den lärmenden Knaben Ruhe. Um weiter ungestört tollen zu können, liefen einige zum Hafen Leicheion an das Meer, um ein erquickendes Bad zu nehmen; andere zogen in die Feigenbüsche oberhalb des Peirenequells, während andere sich zu Brettspielen in den Schatten lagerten.

Ariston, der die Müdigkeit nach kurzem Schlummer abgeschüttelt hatte, war zur Peirene gegangen, hatte das kühle Wasser aus der hohlen Hand geschlürft und war dann den Weg hinauf zur hohen Akrokorinthos gestiegen. Mit jedem Schritt wurde der Rundblick größer. Vom Parnassos war der ganze Gebirgsstock sichtbar geworden, im Westen war die reiche Gliederung der arkadischen Berge aufgetaucht. Doch die Blicke des Spähenden wandten sich nach Osten der Heimatstadt zu. Dort hinter dem Klippengewirr der skironischen Felsen schimmerte der Fahrweg nach Megara als dünner Strich; das Meer hatte eine satte Kornblumenfarbe angenommen, aus der der steile Kegel des Oros von Aigina und die zarten Umrisse von Salamis auftauchten. Der sanfte Bergrücken am Rande des Horizonts war der Hymettos; die schmale Bucht vor ihm musste die Einfahrt zum Peiraieus sein. Dort musste Athenai liegen. Ganz schwach war der Hügel des Lykabettos zu erkennen. Wer besonders scharfe Augen hätte, könnte vielleicht auch die Akropolis erkennen, doch er müsste Augen eines Falken haben.

Dort unten vollzog sich vielleicht zu dieser Stunde das Schicksal eines Volkes. Vielleicht gelang es in letzter Stunde besonnenen Bürgern dennoch, das wahnwitzige Vorhaben zum Scheitern zu bringen. Denn man musste sich vor Augen halten, dass die lakonisch gesinnte Partei nichts unversucht lassen wird, auf Dekeleia hinzuweisen: Dort saß, keine zweihundert Stadien entfernt, eine starke spartanische Besatzung und drohte, in Attika verheerend einzufallen, wenn sich Athenai nur die geringste Blöße gäbe. Wenn jetzt das Volk seine gesamte Heeresmacht nach dem Westen schickte, wer blieb dann zu Hause, um dem Einfall der Dorer zu wehren? Alle die alten Geschlechter und ihr Anhang, die Alkmaioniden, Eumolpiden, Kodriden und Soloniden, und mit ihnen alle, die etwas zu verlieren hatten, waren entschieden gegen das Abenteuer. Doch die Raubgier der Mehrheit gab die Entscheidung. Jeder zerlumpte Müßiggänger sah sich in Gedanken bereits als Gutsbesitzer auf Sikelia, der einen Schwarm von Sklaven zur Verfügung hatte und nach Herzenslust prassen konnte.

»Mit dem feigen Gesindel von Syrakusai werden wir Nachkommen der Marathonkämpfer schnell fertig werden. Auf eine geschickte Überrumpelung kommt alles an. Entsetzen wird die Glieder der Feinde lähmen, und ehe sie sich dessen noch besinnen können, sind sie über den Haufen gerannt. Und Sparta? Die Lakonier werden es sich gründlich überlegen, sich mit uns anzubinden, wenn wir die stärkste Macht zur See und zu Lande geworden sind. Vielleicht wirft man ihnen dann einige Brocken großmütig hin.«

Ariston sah tiefer als die ruhmredigen Demagogen. Der Mensch ist ein Raubtier, leider ist es so. Aber die Götter haben ihm Verstand und Besonnenheit verliehen, die ihm sagen sollen, wie weit er gehen dürfe. Und das Maß. Wo aber ist da die Grenze? Theseus darf weiter gehen als der erstbeste Ruderknecht. Allerdings tut er das auf eigene Gefahr. Dass auch er nicht das Maß überschreite, darüber wacht die Nemesis. Warum hat diese Gottheit, die doch eine der wichtigsten ist, im ganzen Stadtgebiet noch keinen Tempel? Nur einen unscheinbaren Hain, abseits auf dem Weg zum Hymettos. Umsonst betet ihr zur geharnischten Pallas, wenn ihr nicht zuvor die Dunkle versöhnt habt.

Hornklänge mahnten den Sinnenden zur Umkehr auf den Festplatz, wo die Spiele jetzt fortgesetzt wurden. Ariston tat aber nur einige Schritte und ließ sich dann auf einen Stein nieder. Die Unruhe seines Herzens würde die hoch gestimmte Festfreude nur stören und den isthmischen Gott beleidigen. Jetzt hatte mehr denn je Athenai die Gunst des Erderschütterers nötig. Ihm war auf den athenischen Schiffen das Heil eines ganzen Staates anvertraut worden. Wie, wenn die Flotte scheiterte, so wie einst die persische am Steilhang des Athos? Wenn ein Sturm sie zersprengte, wie es einst vor Artemision geschah? Solange man noch festen Boden unter den Füßen hatte, konnte man mit bekannten Kräften rechnen, auf dem Meer ist aber alles ungewiss. Das Meer macht den Handel reich, aber dieser Reichtum ist trügender Schein, der in jedem Augenblick zusammenbrechen kann. Wer aber fest in der Erde wurzelt, dem kann nichts geschehen, denn jeder Frühling bringt neue Saaten, jeder Herbst neue Ernten.

Jedes Volk hat zwischen Land- und Meergöttern zu wählen. Die Stadt Athenai hatte sich entschieden, als sie bei dem Streit um ihren Besitz den Preis der Pallas gab. Aber statt ihr treu zu bleiben, der Spenderin des Ölbaums, wandte sie sich dem Herrn der Wogen zu und war durch ihn reich und immer reicher geworden. Die hölzernen Mauern des Themistokles bezeichneten den Übergang von der Landmacht zur Seemacht. – Kannst du das Rad der Geschichte zurückdrehen, Ariston?

Der Reichtum seines Geschlechtes entstammte ausschließlich dem Landbesitz. Öl, Wein, Getreide, Felle, Mühlen und Sägewerke bildeten seit einem Jahrhundert den Grundstock seines Wohlstands. Zwar konnte einmal eine Ernte missraten und dort ein Gutshof abbrennen, aber der Schaden konnte in Kürze wettgemacht werden. Niemals hing alles an einem Faden.

Und jetzt war die Welt ein Würfelspiel geworden, wo nicht Vorsicht und Klugheit entschieden, sondern der bloße Zufall; Mut nannten es die Jungen. Dieser Heldenmut hatte die Übermacht der Perser gebrochen, er wird uns auch im Angriffskrieg helfen. So hämmerten es die Alten den Jungen ein, die vor Ehrgeiz brannten, es den Großvätern von Marathon und Salamis gleichzutun. Dass Xerxes nach der Niederlange von Salamis den Krieg plötzlich abbrach und Hals über Kopf nach Susa heimgeeilt war, nicht aus Angst vor den siegreichen Hellenen, sondern weil sein Thron durch eine Verschwörung in Persien gefährdet war, das verschwieg man der Jugend wohlweislich. Denn hätte der Großkönig sein Ziel beharrlich längere Zeit verfolgt, so hätte auch die größte Tapferkeit Hellas vor dem Untergang nicht gerettet. Dass es zum Heil ausschlug, war ein Werk der Unberechenbaren, der Unbestechlichen. Die Nemesis hatte eingegriffen, um den Hochmut des Königs zu züchtigen. Alles, was Kleio, die Muse der Geschichte, mit ihrem Griffel eingezeichnet, ist ihr Werk.

Das sollten die Bürger zu Hause erwägen, ehe es zu spät geworden ist. Was da in Athenai und seinen Hafenstädten herumlungert, ist das noch das Volk des Miltiades und des Themistokles? Diesem frechen Schwarm, dem nichts heilig ist, der alles besser weiß, aber überhaupt nichts leistet, haben gewissenlose Volksverführer eingeredet, dass er zur Weltherrschaft berufen sei kraft seiner Auserlesenheit vor allen anderen Menschen. Ein Rausch, wie wenn er von Bakchos gekommen wäre, hat sie alle ergriffen. Nemesis klagt dunkel in ihrem Hain, doch niemand bemerkt es.

Während Ariston sich Sorgen um die Zukunft seiner Heimat machte, hatte die Sonne den Scheitel des Chelmos berührt und ließ lachsfarbene Wolken über seinen Gipfel entbrennen. Das korinthische Meer war im Gegenschein grasgrün geworden, während der saronische Golf ein stumpfes Kobaltblau angenommen hatte, auf dem braune Segel leicht wie Vögel schwebten. Die Fichtenwälder über den skironischen Klippen loderten in hellster Verzückung. Der Rücken des Aigaleos schwoll wie purpurner Samt. Salamis und Aigina waren Blöcke aus leuchtendem Bernstein geworden.

Mit trunkenen Blicken nahm Ariston den Rausch der Farben in sich auf und ließ das Schwelgen der Sinne im Abklingen des Lichts sich sänftigen. Es wurde Zeit, an die Rückkehr zu denken. Die Spiele gingen zu Ende. Es wäre unziemlich, der Preisverteilung fernzubleiben. Im Abwärtsschreiten gab es noch manches zu sehen, was seinen Schritt zum Verweilen einlud. Dort hatten sich schwärmende Bienen an einem Ulmenast festgesetzt, den sie wie eine goldene Wolke umsausten. Häher mit grün schimmerndem Gefieder zogen klackernd durch einen Ölwald, eine braun schillernde Natter sonnte sich auf einem warmen Stein.

Als sich Ariston den Platanen der Peirene näherte, glaubte er zu hören, dass man seinen Namen rief. Wie, dem alten Vater war doch nichts Schlimmes widerfahren? Da sah er, wie seine Enkelkinder ihm entgegenliefen, Adeimantos, Glaukon und ihnen atemlos nachtrippelnd die kleine Potone. Sobald sie in Hörweite waren, rief ihm Adeimantos zu, indem er die Hände zu einem Schallbecher formte:

»Wir haben gesiegt!«, die gleichen Worte, die der Marathonläufer ausgestoßen hatte, bevor er tot zusammenbrach. Und weil der Vater anscheinend nicht sogleich begriff, wurde der Knabe deutlicher: »Platon hat den ersten Preis in den musischen Spielen errungen!«

Da kam der Genannte aus dem Gebüsch hervor, trat an den sprudelnden Quell und tauchte beide Arme in das eiskalte Wasser mit der gleichen Bewegung, wie er sie heute schon in aller Frühe getan hatte. Dann wandte er sein vor Freude glühendes Gesicht dem Vater zu und sagte:

»Die Musen waren mir hold. Mit ihrer Hilfe wurde es mir möglich, den Sthenelos zu übertreffen.«

Ariston drückte den Glücklichen an seine Brust und sprach: »Ich bin selig, einen solchen Sohn zu haben. Mögen dich die Himmlischen schützen und pflegen, wie sie es bisher taten!«

»Schade, dass du nicht gehört hast, wie schön er gesungen hat!« ließ Potone ihr dünnes Stimmchen ertönen und blickte voll Stolz zu ihrem großen zwölfjährigen Bruder empor.

»Kommt nun zur Mutter!« sagte Glaukon. Platon gab dem Schwesterchen die Hand, und sie stiegen abwärts zum Festplatz, wo sich die feierliche Ordnung auflöste.

»Du musst mir genau erzählen, wie es gekommen ist«, sagte Ariston mit einem warmen Blick auf Platon. Weil dieser schwieg, noch immer vom Rausch des Sieges betäubt, nahm an seiner Stelle Adeimantos das Wort und berichtete:

»Nach dem Ergebnis des Vormittags waren alle Aussichten bei den Peloponnesiern. Von den Athenern kamen überhaupt nur drei in den engeren Wettbewerb, darunter Platon an letzter Stelle. Aber am Nachmittag veränderte sich das Bild plötzlich wie durch ein göttliches Geheiß. Sthenelos machte Fehler um Fehler, war bei einer Rüge ungehorsam und wurde deshalb vom Platz verwiesen. Das schien uns allen ein gutes Zeichen, und alle fassten neuen Mut. Platon rückte unversehens auf die zweite Stelle, wie von einem Gott nach oben gerissen. Noch hatte er einen Vordermann, der schwer umzulegen war, einen gewissen Barilos aus Chalkis. Da gaben die musischen Spiele im Endkampf die Entscheidung. Barilos begann mit einem Paian des Stesichoros, hatte aber gleich bei der zweiten Strophe das Missgeschick, das Versmaß zu verfehlen, sodass er mit den Spondaien ins Gedränge kam. Der Gesang war wirklich schwer, ihn hätte wohl auch ein anderer nicht gemeistert. Platon, der nach ihm hervorgerufen wurde, erhielt eine Chorstelle aus einem neuen Dichter, aus den ›Hiketides‹ des Euripides, wo die Mütter der vor Thebai gefallenen Helden die Hilfe des Theseus anrufen. Diese Stelle war wohl minder schwierig, erforderte aber große Geschicklichkeit und Kenntnis, um den raschen Wechsel der Tonarten zu treffen. Platon sang sie mit einer Sicherheit, die alle in Erstaunen setzte. Seine Stimme hatte einen vollen Klang, und wir alle fühlten das Leid der Mütter heraus. Als er geendigt hatte, brachen alle Zuhörer in begeisterten Beifall aus; nur einer hatte auszusetzen, dass Platon die Pektis nur mit zwei Fingern statt vorschriftsmäßig mit dreien gehalten hatte. Auch sein Diskoswurf am Vormittag fand einen Tadler. – Es kam zur Abstimmung, und das Ergebnis war: Platon erhielt von den neunzehn Stimmen sieben, Barilos sechs und ebenso viele Sthenelos, der auf Betreiben seiner Landsleute wieder in Gnaden aufgenommen worden war. – Du hättest die Wut der Spartaner sehen sollen, denen schon zum dritten Mal der Siegespreis entwunden worden war, den sie schon sicher wähnten.«

Sie waren zu den Zelten gekommen, wo ihnen der Großvater mit leuchtendem Gesicht entgegentrat:

»Meine Glieder sind wieder gelenkig geworden. Da seht nur!«

Er machte einige Schritte, zwar unsicher, aber ohne Stütze. Ariston, der den Vater schonen wollte, fasste ihn unter dem Arm und geleitete ihn zu einem Lehnstuhl.

Während man um ihn beschäftigt war, näherten sich zwei Mädchen als Abgesandte der Priesterschaft und überbrachten die Festkleider für den Sieger. Periktione beschenkte die beiden mit silbernen Armringen, die sie vom Gelenk streifte.

»Ich glaube, dich habe ich schon einmal gesehen«, sagte die Frau zu der Älteren der beiden, deren nachtschwarze Locken über den Nacken fielen.

»Du musst dich beeilen!«, ermahnte die Mutter, deren wissendes Auge verstanden hatte, was da geschehen war. Liebevoll half sie ihm, der auf einmal unbeholfen geworden war, bei dem Anlegen des Kleides, dessen Spangen und Nesteln nur eine weibliche Hand meistern konnte. Kaum hatte sie die letzte Falte zurechtgestrichen, als das Tympanon schon aufklang, das die Gäste wieder auf den Festplatz rief. Ein Reigen von Mädchen nahm den Sieger in die Mitte und führte ihn unter den Zurufen der Knaben zum Bomos, wo die Schiedsrichter standen. Ein Chorgesang der ältesten Knaben stimmte ein Preislied auf den Sieger an, auf Platon aus Athenai, den Sohn des Ariston, worauf der gesamte Chor dem Gott dankte, zu dessen Ehren die Spiele gefeiert worden waren.

Da erfasste auf einmal alle eine Unruhe, die man sich nicht erklären konnte. Keiner wusste, woher sie ausgegangen war. Die Herzen, die kurz vorher mit heiterster Freude übervoll waren, schienen auf einmal leer; der Trank der Freude war schal geworden. Man sehnte sich danach, schnell mit den Zeremonien fertig zu werden. Platon spürte das plötzliche Erkalten der Seelen ringsum und stand fragend in der Menge. Er fühlte, dass er nicht mehr Mittelpunkt des allgemeinen Interesses war. Er gewahrte, wie einer der Zuschauer seinem Nachbar etwas zuflüsterte, dieser gab das Gehörte weiter. Das Geheimnis, das da von Mund zu Mund ging, hatte nun auch die Schar der Priester erreicht. Chersimos ergriff mit überhasteter Gebärde den Siegespreis den Kranz aus Fichtenreisig, das durch goldene Fäden zusammengehalten war, und drückte ihn dem vor ihm stehenden Sieger auf den Scheitel, mit einer Bewegung, die ausdrückte, dass man jetzt keine Zeit für derartige Kindereien habe.

Irgendwo gellte es aus der Menge: »Die Flotte ist heute früh nach Sikelia ausgefahren. Aber in der Nacht vorher sind alle Hermen an den Wegkreuzungen verstümmelt worden. Wehe uns allen!«

Im Nu stoben alle wie ein aufgeschreckter Bienenschwarm auseinander. Platon fühlte sich um seinen glücklich erkämpften Sieg geprellt, um das Zujauchzen der Herzen. Enttäuscht griff seine Hand nach dem Fichtenkranz auf seinem Haupt. In Wut wollte er ihn herunterreißen und mit Füßen stampfen, doch die Ehrfurcht vor dem Gott, dem er geweiht war, hielt ihn vor diesem Frevel zurück. Ein Schluchzen stieg in ihm auf, das ihn weh durchschüttelte. Langsam ging er durch die Dämmerung zum Zelt der Seinigen, wo er alle im vollen Aufbruch fand:

»Wir müssen sofort nach Hause«, sagte der Vater. »Wer weiß, was die nächsten Stunden uns bringen werden?«

»Ich habe meine Freunde und das Mädchen Diotima zum Festmahl eingeladen«, sagte Platon mit dem Fuß unwillig aufstampfend.

»Wir wollen es zu Hause feiern«, sagte die Mutter besänftigend. »Jetzt ist keine Zeit für dergleichen. Wir brechen wie alle anderen sofort nach Hause auf.«

Die Zeltstangen wurden bereits umgelegt, die Planen zusammengefaltet und in Ballen auf Lasttiere verstaut.

»Es ist doch mein Festtag!«, rief der Knabe, und Tränen des Zorns traten in seine Augen. Er presste beide Fäuste gegen die Schläfen und zwang die Lippen aufeinander, um nicht in Weinen auszubrechen.

»Bleib bei mir, Kind!«, sagte der Großvater, »wir beide gehören nicht dieser Welt an.»

Die Bahre wurde, um nicht im Weg zu stehen, abseits getragen. Platon setzte sich neben sie und sah der Verwüstung zu, die vor seinen Augen geschah.

Plötzlich stand Diotima vor ihm und sagte:

»Deine Mutter hat es wohl gestattet, dass ich zu deinem Fest kommen darf, aber... .«

Ihr blieben die Worte im Halse stecken.

»Ach, das Festmahl – du siehst, was draus geworden ist«, sagte der Knabe mit Bitterkeit, aber es klang auch verächtlich.

»Wenn ihr so alt geworden sein werdet wie ich, ihr Kinder«, sprach der Greis, »werdet ihr über alle Trugbilder des Lebens nur lächeln. Das Schönste im Leben ist doch die Erwartung.«

Seine Stimme klang wie eine Offenbarung aus einer anderen Welt. Der Greis war zurückgesunken. Platon ergriff Diotimas Hand, und sie ließen sich zu Füßen des Alten nieder, der langsam einschlummerte.

Die Sonne war erloschen. Das schwache Rosengewölk des Himmels hatte sich abgestumpft und war in ein sterbensmattes Malvenviolett abgeklungen.

Die Inseln im stumpfen Bleigrau des Meeres waren zu steinernen Ungeheuern geworden. Schon blinkten einige Sterne, die ersten Boten der blausamtenen Nacht.

»Wie ist doch die Welt schön!« schwärmte das Mädchen. »Denn alles ist voller Götter.«

»Du magst Recht haben. Die Welt ist schön, aber nicht gut«, sprach Platon mit schwacher Stimme. »Warum verträgt sich das Schöne so selten mit dem Guten? Was steckt hinter allem Schönen, das du siehst?«

»Immer ein größerer Gott, so pflegte meine Muhme, die Seherin, zu sagen«, entgegnete das Mädchen. »Doch einer ist der Höchste.«

»Was aber ist das Höchste?«

»Das, was kein Tod beflecken kann, sagte die Weise.«

»Ich ahne, wie das zu verstehen ist. Für das Höchste gibt es keinen richtigen Namen.«

»So ist es, aber die Seele weiß davon.«

»Du würdest mich glücklich machen, wenn ich in Athenai mit dir darüber weiter reden könnte. Von dir erführe ich mehr als von meinen Lehrern.«

»Das meiste kann man nicht lernen, sondern man muss es aus sich selber herausholen.In der Seele ist alles vorhanden, was dir zu wissen nützlich ist. Warte noch einige Jahre, und dir wird es klar werden.«

»Wie, ich könnte alles von selber lernen?« klang es ungläubig von den Lippen des Knaben.

»Wenn sich dein Herz der Liebe erschließt. Aber davon weißt du noch nichts, du Lieber, Dummer!«

Sie drückte ihm einen scheuen Kuss auf die Stirn, sprang auf und war in der Dunkelheit entsprungen. Platon zitterte an allen Gliedern. Ihn packte Angst.

»Adeimantos!«, rief er, »Glaukon!« Doch diese vernahmen ihn nicht.

»Großvater!«, rief er abermals im jähen Erschrecken. Dann sank er wie vom Blitz gefällt zu den Füßen des Dahingeschiedenen hin. Bei Fackelschein fand man die beiden, den toten Greis und den ohnmächtig gewordenen Knaben.

Man legte das Kind auf eine zweite Bahre und trug beide ins Schiff. Der Siegeskranz lag schief auf Platons Stirn wie der Kranz eines bakchisch Berauschten. Aber nicht Dionysos war bei ihm eingekehrt, sondern Apollons Seherblick hatte die Seele des Knaben geöffnet, als er an der Bahre des Toten saß und aus dem Mund des Mädchen Diotima seltsam erregende Worte vernahm, von denen er noch nicht wusste, dass es Worte einer Weisheit waren, die aus der Liebe kommt.

Es war unmöglich, durch das Gewimmel in den Häfen hindurchzukommen. Das Schiff der Kodriden fand die Einfahrt in den Peiraieus durch die dort ankernden Transportschiffe blockiert und musste deshalb in der Bucht von Munychia anlegen, denn auch Zea und der Phaleron waren gesperrt. Bevor sie auf holprigen Karrenwegen in ihr Haus gelangt waren, verging fast der ganze Tag.

Von Athenai aus konnte die ganze Lage besser überschaut werden. Ariston ging noch am Abend des gleichen Tages zu dem ihm befreundeten Prytanen Pyrilampes, von dem er alle Einzelheiten erfuhr: Die Kriegsflotte war am Morgen des gestrigen Tages nach Sikelia ausgelaufen unter dem Befehl der drei Strategen Nikias, Lamachos und Alkibiades, einhundertvierunddreißig Trieren, von denen sechzig attische waren; zwei Fünfzigruderer aus Rhodos, vierzig Schiffe mit Kriegsgerät und dreißig mit Nahrungsmitteln sollten morgen in See stechen. An Mannschaften hatte die Flotte an Bord zwanzigtausend Ruderer, die als Fußsoldaten ausgebildet waren, ferner fünftausendeinhundert attische Hopliten, zweitausendeinhundertfünfzig Schwerbewaffnete von den Bundesgenossen, fünfhundert Argiver und zweihundertfünfzig Arkader. Weil man Reiterei bei dem Unternehmen für überflüssig hielt, gab man nur dreißig Berittene mit. – Eine solche Macht hatte Athenai noch niemals außer Landes geschickt.

»Wie waren die Opfer?«, fragte Ariston.

»Unklar und ablehnend. Nur ein Orakel, das des aigyptischen Ammon, dessen Spruch eine Triere des Alkibiades aus Kanopus gebracht hatte, war günstig. Aber dieses war offenbar bestochen oder gefälscht«, behauptete der Prytane.

»Und trotzdem konnte es Glauben finden? Wenn Alkibiades also im Volk beliebt ist, wie kommt es, dass man ihn in Verbindung mit dem Hermenfrevel bringt?«

»Der Fall ist noch nicht geklärt. Folgendes ist die Tatsche: In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages fand man sämtliche Hermen der Stadt verstümmelt an, außer der vor dem Haus eines gewissen Andokides stehenden. Des Volkes bemächtigte sich eine ungeheure Erregung. Andokides wurde vor das Gericht gezerrt, wo er also aussagte: Er sei kurz nach Mitternacht wach geworden und aus dem Haus gegangen, um sein Wasser abzuschlagen. Da habe er im Mondschein gesehen, wie Alkibiades mit einem Schwarm betrunkener Jünglinge und Buhlerinnen vorüberlärmte. ›Einer von ihnen hatte einen Hammer in der Hand, mit dem er auf meine Herme losgehen wollte, doch da bemerkte er mich, ließ die Hand sinken und lief davon‹.«

»Es wäre ja Wahnsinn, wenn sich Alkibiades am Vorabend eines großen Unternehmens an dem Beschützer der Wege und Fahrten hätte vergehen sollen. Ich traue ihm die übelsten Streiche zu, aber nicht eine solche Dummheit«, sagte Ariston.

»Ich auch nicht. Die Sache wird noch rätselhafter und macht die Aussage des Andokides unglaubwürdig, weil gestern in der Nacht der Mond gar nicht schien«, sprach Pyrilampes und fuhr nach einer Pause fort:

»Um den Fall aufzuklären, wurden hundert Minen dem zugesagt, der genauere Angabe machen könnte. Es meldete sich daraufhin Thessalos, Kimons Sohn, der einen früheren Frevel des Alkibiades aufdeckte: Ein früherer Sklave des Alkibiades hätte ihm verraten, dass dieser einmal bei einem Gastmahl in der Trunkenheit die Mysterien von Eleusis nachgeäfft und die Geheimnisse der Demeter verhöhnt hätte. Diese Beschuldigung wurde sofort geprüft und für richtig befunden. Der Archon Hiereus hat daraufhin gegen ihn die Anklage wegen Verrats von Staatsgeheimnissen erhoben. Der Beschuldigte wird zurückberufen werden, um sich zu rechtfertigen.«

»Streiche eines Betrunkenen«, sagte Ariston. »Ich vermute, dass Sparta dahinter steckt.«

»Was hätte Sparta damit zu tun?«

Ariston erklärte: »Wenn das athenische Unternehmen in Sikelis glückt, ist Sparta für lange Zeit unschädlich gemacht. Die Spartaner haben alles Interesse daran, den Zug zu vereiteln oder zu stören. Dass Alkibiades wissentlich im Bund mit Lakedaimon ist, wird niemand behaupten. Aber ein Berauschter ist leicht dorthin zu führen, wo man ihn haben will. Es braucht bloß eines der leichtfertigen Mädchen eine Parteigängerin Spartas zu sein und dem Bezechten den übermütigen Gedanken der Zerstörung eingegeben haben.«

»Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht für deinen Verdacht. Doch man darf nicht voreilig urteilen, die Sache ist ernst.«

»Was wird nun weiter geschehen?«

»Ich nehme an, nichts, um das Volk nicht noch mehr zu entmutigen. Wir müssen im Gegenteil alles tun, um seine Zuversicht zu stärken. Denn in einem Angriffskrieg sind die ersten Tage entscheidend.«

Das Gespräch wandte sich dann häuslichen Dingen zu. Pyrilampes war in seiner Jugend Periktione zugetan gewesen, bezeugte auch jetzt noch der Gattin des Freundes seine Verehrung und nahm an allem, was sie oder ihre Kinder betraf, den lebhaftesten Anteil. Als er von Platons Sieg bei den Isthmien hörte, sagte er:

»Er wird ein Staatsmann wie Perikles werden oder, was noch mehr wäre, ein großer Dichter. Du solltest dich um seine Erziehung mehr als bisher kümmern.«

Ariston biss sich auf die Lippen, der Vorwurf saß. Er war in dieser Hinsicht bisher zu sparsam gewesen. Der Paidagogos seiner vier Kinder Cholos war gewiss ein ehrenwerter Mann, aber sein Gesichtskreis reichte nicht weit. Doch es war schwer, einen geeigneten Lehrer für den überdurchschnittlich begabten Knaben Platon zu finden. Es gab wohl genug Weisheitslehrer in der Stadt. Aber war einer fähig, die Seele des empfindlichen Kindes zu beeinflussen und liebevoll auszubilden?

Jetzt in den Drangsalen der Kriegszeit waren andere Sorgen vordringlicher. Die Lebensmittel werden knapp werden, der Handel wird einschrumpfen, lästiges Gesindel wird in Erwartung reicher Beute in die Stadt ziehen, es wird an Arbeitskräften überall fehlen.

Pyrilampes besaß bei Karystos ergiebige Salzgärten, die den Bedarf der Stadt an Salz deckten. Von Karyston war aber die athenische Besatzung abgezogen worden. Die Flotte brauchte nur eine Schlappe zu erleiden, und dann war es den vor Dekeleia lagernden Spartanern leicht gemacht, in das unbeschützte Attika einzufallen und Karystos als willkommene Beute einzustecken. Pyrilampes war als kluger Kaufmann bemüht gewesen, seinen Besitz rechtzeitig loszuwerden, hatte aber keinen Dummen gefunden, der sein gutes Geld in eine fragliche Sache gesteckt hätte.

Auch Ariston hatte seine Sorgen. In Kriegszeiten ist Bargeld, das man vergraben kann, besser als jeder andere Besitz. Wäre er doch nicht zu den Isthmien gezogen! So waren drei kostbare Tage vor Kriegsausbruch vertan, in denen er vielleicht doch die Mühle von Liopaision hätte verkaufen können.

Das einzig Erfreuliche war, dass Pyrilampes seinem Sohn Krates rechtzeitig die Stelle eines Beamten in Buleuterion gekauft hatte, wodurch er vom Kriegsdienst verschont blieb. Das trug ihm zwar einige Spottverse ein, aber dies ließ ihn völlig kalt.

Allmählich gerieten beide Freunde in eine fröhliche Stimmung: Wenn auch der Staat in seiner Verblendung einem ungewissen Schicksal entgegentaumelte – sie hielten ihren Besitz gesichert, komme, was kommen mag.

Ganz anders war die Stimmung unter den jungen Leuten. Endlich hat sich das Vaterland zu einer entscheidenden Tat aufgerafft! Nach den Demütigungen der letzten Jahre und dem planlosen Hin- und Herziehen gegen plündernde Spartaner, worin der Krieg gegen Lakedaimon seit Jahren bestand, endlich ein Griff ins Große, der das Gesicht der Welt verändern sollte! Seit den Tagen der Perserkriege, die schon Legende geworden waren, seit Kimons großem Sieg, war das Ansehen Athens von Jahr zu Jahr gesunken.

Noch einmal hatte Perikles versucht, den alten Glanz wiederzugewinnen, aber das Erreichte war von den Erben schändlich vertan worden. Nichts als leidiges Parteiengezänk, Streit um Nichtigkeiten, nirgends ein Blick ins Weite.

Nur so war es möglich gewesen, dass eine so anrüchige Persönlichkeit wie Alkibiades zum Abgott der jungen Leute werden konnte. Nicht allein, weil man seine frivole Zügellosigkeit bewunderte und nachahmte, sondern vielmehr weil man wünschte, dass sein ungestümer Geist einen neuen Zug in das verrottete Staatswesen bringen werde. War doch der Gedanken, nach Sikelia zu ziehen, seinem Kopf entsprungen. Da er ihn mit Hilfe der rückschrittlich gesinnten Aristokraten, denen er selber angehörte, nicht verwirklichen konnte, hatte er sich an die demokratische Partei gewandt, die ihn begeistert aufnahm, denn man hoffte durch einen raschen Sieg das Elend der niederen Klassen mit einem Schlag zu beseitigen. Sittlichen Bedenken gegenüber blieb man taub. Wo sich das Gewissen bei reiferen Leuten regte, wurde es durch rednerische Kunstgriffe willfähriger Sophisten erstickt.

Rhetorik und Philosophie waren seit einigen Jahren zur wahren Leidenschaft der jungen Athener geworden. Es wimmelte in der Stadt von Meistern in der Kunst des Beschwatzens und Betörens. Als Erster dieser Sophisten war Gorgias aus Leontinoi in Athenai aufgetaucht, wo er in kurzer Zeit durch seine große rednerische Begabung zum geistigen Mittelpunkt der Stadt geworden war. Er brachte ein Thema mit, das die Seelen aller Zuhörer zutiefst aufrüttelte und jeden zur Stellungnahme dafür oder dagegen zwang, nämlich die Frage: Was steht höher, das Naturrecht, das die Götter einem jeden in das Herz gepflanzt haben, oder das künstlich geschaffene Recht, das die Regierenden uns auferlegen?