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Franz Spunda, Platon, Band II
© 2012 by Edition Pleroma, Frankfurt am Main
Erste Ausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Satz : Nicolas Vassiliev
Titelbild: ©Nicolas Vassiliev
Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-9396-4727-0
www.edition-pleroma.de
E-Mail: info@edition-pleroma.de
Es war eine kühl-klare Mondnacht, als Platon nach fast zehnjähriger Wanderfahrt wieder den Boden seiner Heimat betrat. Weil der Peiraieus des Krieges wegen gesperrt war, musste man in dem kleinen Hafen Zea anlegen. Jetzt in der Nacht zwei Stunden nach Hause zu gehen wäre töricht gewesen; man sah sich daher nach einem Nachtlager um. Annikeris klopfte an einer Fischerhütte an, die sich den späten Besuchern öfnete; diese legten sich auf eine Schütte Stroh, um im Schlaf das Kommen des Morgens zu erwarten.
Karpathos trieb bei Sonnenaufgang drei Maultiere auf, und sie ritten zur Stadt. Diese bot von der Westseite einen ungewohnten Anblick; nur die Akropolis war sichtbar, die eigentliche Stadt war durch vorgelagerte Hügel verdeckt. Vom Krieg war in den Vorstädten nicht viel zu spüren; auch die Straßen, durch die sie zogen, zeigten ihr gewohntes Gepräge.
Vor Platons Haus sprang den Angekommenen Melas entgegen, der sich wunderte, seinen Herrn so plötzlich vor sich zu sehen. Er erzählte ihm außer Atem, dass er soeben von Glaukon und Adeimantos mit fünf Talenten komme, mit denen er noch heute nach Aigina überfahren wollte. Sie traten ein und Platon wollte seinem Freund sogleich die Kaufsumme zurückgeben, die dieser für ihn ausgelegt hatte. Doch dieser weigerte sich, das Geld anzunehmen. »Betrachte es als Opfergabe, die ich dem Zeus Eleutherios gespendet habe. Nicht mir, sondern ihm verdankst du es, dass sich das Missgeschick so rasch gelöst hat.«
Annikeris war darüber ungehalten: »Soll uns das alberne Geld entzweien? Es wäre eine Beleidigung für mich, etwas von dir in Empfang zu nehmen, was ich für den edelsten Zweck der Welt ausgegeben habe.«
»Gut. Wir wollen darüber nachdenken, wie wir den Zwist aus der Welt schafen.«
Auf die Nachricht, dass Platon heimgekehrt sei, kamen alle seine Freunde und Verwandten zu ihm, um das Wiedersehen mit ihm zu feiern. Glaukon war in der Zwischenzeit zweimal Archon gewesen und bekleidete jetzt ein hohes Staatsamt im Buleuterion; Adeimantos hatte durch den Handel mit thrakischem Getreide ungeheure Summen verdient. Potone war eine Frau von ansehnlicher Körperfülle geworden, deren Sohn Speusippos zu einem schönen Knaben erblüht war, der es nicht erwarten konnte, bald unter die Epheben aufgenommen zu werden. Sein ruhiger Blick und seine klugen Fragen verrieten eine außergewöhnliche Begabung. Er hatte seinen heimgekehrten Oheim vom ersten Blick an liebgewonnen und lauschte jedem Wort, das von seinen Lippen kam. Hingegen trug Platons junger Halbbruder Antiphon ein geziertes Gehabe zur Schau; er schien auf den Reichtum seiner Familie eingebildet zu sein und auf ein aufgeblasenes Wissen, das mit Modeworten um sich warf.
Einige Enttäuschungen gab es für Platon auch beim Wiedersehen mit seinen alten Freunden. Kriton, der Treueste, war im vorigen Jahr gestorben. Sein Sohn Kritobulos lag an einer Speerwunde krank, die er im letzten Krieg erhalten hatte. Der weichherzige Apollodoros hatte das überhitzte Leben in Athenai nicht länger ertragen können und war mit Kratylos nach Ephesos gezogen, wo er im Tempel der Artemis Vorleser und Erklärer des Herakleitos geworden war.
Die anderen nach Megara Geflüchteten waren vollzählig da, bis auf Eukleides; dieser hatte in seiner Heimatstadt einen Umsturz vorbereitet, der aber gescheitert war, weshalb er für zehn Jahre verbannt worden war. An Agathons Schläfen zeigten sich die ersten weißen Haare, während Phaidon in unverwüstlicher Jugend blühte. Die anderen waren behäbige Bürger geworden, die von dem Ruhm zehrten, Schüler des Sokrates gewesen zu sein.
An ihre Stelle waren jüngere Männer getreten, die in schwärmerischer Begeisterung für Sokrates entbrannt waren, den sie alle gekannt hatten, obwohl sie bei dessen Tod noch unverständige Knaben waren; unter ihnen schienen Timaios, Theaitetos und Menon die geistig Regsamsten zu sein.
So war in Platons Abwesenheit eine Gemeinschaft entstanden, die, durch die Lehre des Meisters geeint, kein höheres Ziel kannte, als dessen Gedanken immer gründlicher zu erfassen und wirksam zu machen. Es fehlte nur ein Oberhaupt und eine geregelte Arbeitsweise, und einen Schule war geschafen, der eine gleiche Bedeutung zukommen musste wie dem Pythagoreerbund in Süditalien oder den aigyptischen Tempelschulen. Annikeris feuerte seinen Freund dazu an, diesen Gedanken in sich fruchtbar werden zu lassen.
»Der Philosophenstaat in Sikelia ist durch die Wankelmütigkeit und den Jähzorn eines Tyrannen zusammengebrochen. Du hast daraus gesehen, wie man es nicht machen soll und kannst die Grundlagen für einen neuen Staat in die Herzen deiner Freunde legen. Hundert Seelen glühen schon heute für dich. Morgen werden es tausend sein, und in hundert Jahren wird die gesamte Menschheit dich als ihren Lehrer und Meister anerkennen. Denn ist einmal der Staat, wie du ihn ersehnst, als geistige Form vorhanden, so wird er früher oder später seinen Ausdruck in der Welt der Körper finden.«
»Du hast einen meiner geheimsten Gedanken erraten, den ich auszusprechen scheute, weil nahe bei ihm die Versuchung und der Frevel wohnen. Doch nun ist die Zeit gekommen, wo ich mich zu ihm bekennen muss, denn die Stunde für ihn ist reif geworden. Voll Abscheu wenden sich die Edelsten unter uns von der Politik ab. Diesen zeige ich den Staat als geistigen Inhalt; sie werden die Ersten sein, die mit klopfenden Herzen mir folgen werden, die Besten aus allen Hellenenvölkern. Mir schwebt ein philosophisches Olympia vor, das täglich und stündlich da ist und die Vereinigung aller Hellenen vorbereiten soll. Darüber soll der Geist des Sokrates wie eine lichte Wolke schweben.«
Außer Annikeris wusste bloß Phaidon von diesem weitgesteckten Ziel. »Der Leiter des Bundes ist gefunden, es fehlt nur der Ort. Die Behörde billigt nur dann eine Vereinigung, einen Thiasos, wenn er einen Versammlungsraum auf eigenem Grund und Boden besitzt.«
Phaidon erbot sich, aus eigenen Mitteln beim Kap Kolias eine Wandelhalle zu erbauen, was die Eifersucht des Annikeris erregte, der sich angeboten hatte, eine solche Halle näher der Stadt am Nordabhang des Lykabettos zu stiften. Platon äußerte sich darüber nicht, seine Gedanken weilten bei Sokrates. An einem Nachmittag bat ihn Annikeris, ihn an die Stelle zu führen, wo die irdischen Reste des Meisters lagen. Phaidon ging mit und fand auch bald die Platane, während Platon einen anderen Baum als die richtige Stelle bezeichnete. Sie gingen das ganze Gelände ab und zwangen ihre Erinnerung, ihnen dienstbar zu sein. Kriton, den man als verlässlichsten Gewährsmann hätte anrufen können, war nicht mehr. Sie gingen die ganze Umgebung bis zum Ilissos ab, ohne zu einer eindeutigen Klarheit zu kommen. Es zeigten sich einige Feldraine und Spuren vermoderter Hütten. Da entdeckte Phaidon einen Feldstein, der oben roh zu einem Altar zu behauen war; auch eine verwitterte Inschrift wurde sichtbar, die man als Hakademos oder Akademos zu entziffern glaubte.
»Wer ist Akademos?«, fragte Phaidon.
»Der Altar deutet darauf hin, dass er ein altattischer Flurgott war«, sagte Platon. »Wir wollen in der Pinakotheke im Prytaneion nachschauen, wo alle alten Demen und Fluren aufgezeichnet sind.«
An dem angegebenen Ort zeigte man ihnen alte Fichtenbretter aus der Zeit vor den Perserkriegen; darauf waren alle Flurgrenzen eingerichtet.
»Diese Flur heißt Hain des Akademos, weil sich hier einmal ein Ölhain befand, der in der Perserzeit umgehauen und nicht neu bepflanzt worden war. Er ist Staatseigentum.«
Man forschte in den Aufzeichnungen nach und fand, dass dieses Grundstück vor zwölf Jahren um drei Talente feilgeboten worden, aber mangels Käufer liegen geblieben war. Es wäre also jederzeit für die gleiche Summe zu bekommen. Glaukon nahm die Sache in die Hand und erledigte sie in einigen Tagen.
»Für den Ankauf wollen wir das Geld verwenden, das Annikeris anzunehmen sich sträubte. Wie es einmal zur Befreiung aus körperlichen Banden gedient hat, soll es jetzt der Freiheit des Geistes für die ganze Welt dienen«, sagte Platon.
Um der Form zu entsprechen, wurde der Thiasos der Freunde als religiöse Gemeinschaft eingetragen, mit dem Sitz im Hain Akademos. Menexenos und Menon, die Kenntnisse in der Baukunst besaßen, entwarfen prächtige Pläne für einen Lehrraum, an den sich zwei Wandelhallen anschließen sollten. An der Stelle, wo man das Grab des Sokrates vermutete, sollte eine Feierstätte errichtet werden, die durch die Standbilder der Musen geziert sein sollte. Vor dem Lehrhaus stellte man sich ein Marmorbild des Apollon vor. Entlang des Flusses sollte eine schattige Allee zum Lustwandeln einladen. Der Vater des Timaios, ein Brunnenmeister, ging das Gelände ab, um nach Wasser zu suchen. Nach langen Versuchen erbohrte er eine Stelle, die kühles klares Nass spendete. Denn ohne Wasser gibt es keine Reinheit und Heiligung.
Platon weihte in seinem Haus einen eigenen Raum den Schätzen und Andenken, die er von seinen Wanderfahrten heimgebracht hatte. Für die Isis-Statue wurde im Hintergrund ein Altar errichtet; aus pentelischem Marmor ein Opferstein, der auf schlanken Säulen ruhte; davor ein Räucherbecken aus getriebenem Erz; von oben hing in einem Geflecht aus Silberdraht eine Alabasterschale herab, in der ein Öllicht schwamm. Zur Aufbewahrung seiner Schriften aus Aigyptos diente ein Wandschrank aus hellem Ahornholz. Die Kristalle und Modelle aus Kyrene standen ihm gegenüber auf Borden von gleichem Holz. Daran schlossen sich zwei Truhen mit den Geschenken und Andenken der Pythagoreer. Die Geschenke des verräterischen Dionysios hatte Platon dem Tempel der brauronischen Athene gespendet.
Der Weiheraum bot Platz für ungefähr zehn Besucher. Allabendlich kamen die vertrautesten Freunde hierher und baten Platon, ihnen von seinen Erlebnissen und Erkenntnissen zu erzählen. Diese Abende waren ihm ein Anlass, in seine Gedanken Ordnung zu bringen und die gewonnene Weisheit abzuwägen, mit er die Lehre des Sokrates überbaute.
Durch die Fragen der Mitunterredner konnte er noch viel dazulernen, vor allem die Anordnung des Wesentlichen, damit es durch seine natürliche Taxis zur Wahrheit führe. Die dialektische Methode warf Fragen auf, durch die der gesuchte Begrif plötzlich in einem ganz anderen Licht erschien und zu weiteren Untersuchungen Anlass bot; oder er konnte gleich beim ersten Mal so klar umrissen werden, dass er für alle eindeutig dastand. Als kluger Frager erwies sich vor allem Menon, der den dialektischen Prozess beschleunigte und in unerbittlicher Folgerichtigkeit zu Ergebnissen hinlenkte, die allgemein mit Lob bedacht wurden.
Platon nahm sich vor, ihm die nächste seiner Untersuchungen zu widmen, in der der Grundstein für das Gedankengebäude gelegt werden sollte, an dem er seit seiner Abreise aus Kreta gearbeitet hatte. Die Schüler begrifen nicht sogleich, wie der neue Staat Platons durch eine rein logische Philosophie gestützt werden sollte.
»Falsch, ganz falsch, mein guter Kritobulos«, erwiderte Platon. »Nicht um eine logische Stützung des Staatsgebäudes handelt es sich, sondern um seine logische Voraussetzung. Wie die Seele eines jeden Einzelnen durch Philosophie geordnet werden muss, damit sie ihr Wesentliches entfalten kann, so muss auch der Staat als nächsthöhere Ordnung von der Philosophie geregelt und gesichert werden. – Wenn ich auch in den nächsten Jahren voraussichtlich nicht viel von der Politeia sprechen werde, so soll sie doch unausgesprochen das geheime Ziel meines Wirken sein. Wir wollen uns daher von nun an, liebe Freunde, an das rein Gedankliche machen. Ich lade euch ein, mit mir ein schwer zugängliches Gebiet zu betreten und zu erforschen, wie wir es mit dem Hain Akademos getan haben. Im Land der Gedanken ist aber alles schwieriger als auf unserem Grundstück. Denn da gibt es Schlingwurzeln, Gestrüpp und Dornen, die uns Hände und Füße zerreißen werden, wenn wir sie durchdringen wollen. Doch vielleicht sind uns die Götter gewogen, dass sie uns auch hier einen verschollenen Mittelpunkt finden lassen, von dem aus das gefundene Neuland seinen Sinn und Namen bekommen kann.«
Als die Anhängerschaft immer größer wurde und sich eine immer größere Anzahl junger Leute um den Meister scharte, entschloss sich Platon, seine Zusammenkünfte ins Freie zu verlegen. Welcher Platz war dazu geeigneter als die Wandelhalle des Gymnasions? Der Ausblick von dort auf die Palaistra, wo nackte Knaben und Epheben die Schönheit suchenden Augen der Besucher erfreuten, das Fächeln kühlender Winde, und das Zirpen der Zikaden erzeugten eine gelöste Seelenstimmung, die geneigt machte, den hohen Gedankenflügen des Lehrers zu folgen.
Platon beschränkte sich zunächst darauf, die bisherigen Ergebnisse seiner Philosophie zu sichten und klarzustellen, ließ aber dabei erraten, dass es sich bisher nur um Vorarbeiten und notwendige Feststellungen handelte, über die hinaus eine ganz neue, bisher kaum geahnte Philosophie wie eine zweite Sonne aufgehen werde. Obwohl er von allen Seiten von Neugierigen bedrängt wurde, wenigstens einige Andeutungen darüber zu machen, schwieg er beharrlich, doch seine Augen leuchteten vielsagend. Noch war seine Seele über den schändlichen Verrat des Dionysios erbittert und hatte noch nicht ihr Gleichgewicht gefunden. Oft trat an ihn die Versuchung heran, seine Abenteuer in Sikelia in der Art des ›Hippias‹ oder ›Ion‹ darzustellen und dem Gelächter der Welt preiszugeben. Aber ein Rückfall in seine philosophische Frühzeit erschien ihm seiner unwürdig, und außerdem hätte der dem Tyrannen zugemessene Hohn auch seine Freunde, Dion und Aristomache, streifen können.
»Du hast wirklich eine übermenschliche Geduld«, sagte einmal Kritobulos zu ihm, »dich nicht für die Schande zu rächen, die dir Dionysios in Syrakusai und Aigina angetan hat.«
»Es gibt auch eine Rache im höheren Sinn«,war die Antwort. »Die Akademia soll meine Rache sein, die ich mit dem bezahlt habe, wie viel ich auf dem Sklavenmarkt gekostet habe. Immer wird alles mit dem bezahlt, wie viel man selber wert ist. Damit du mich besser verstehst: Mit der Akademia gründe ich einen Gegenstaat zu allen vorhandenen Staaten und zeige eine geistige Ordnung, in der die Menschheit belehrt werden wird, was sie sein könnte, wenn sie als geistige Grundlage die ihrer würdige Staatsform gefunden hätte.«
An Nachmittagen besuchte Platon häufig den Hain Akademos, um sich von dem Fortschreiten der Arbeiten zu überzeugen. Die Zypressen für den Hain der Musen waren gepflanzt, mussten aber wegen der herrschenden Dürre fleißig gegossen werden. Oft nahm daher Platon einen Krug in die Hand und bewässerte die schmächtigen Bäumchen. Die Grundmauern für das Lehrhaus wurden ausgemessen.
Beim Ausheben des Untergrunds stieß man einmal auf ein Grab, das allem Anschein nach aus der Urzeit stammte, ein Skelett, das die Beine an den Leib gezogen hatte und in den Händen eine Art Urne hielt. Phaidon stieg in die Grube und holte das Ding heraus. Der enge Hals war mit einem Steinpfropfen verschlossen. Das Gewicht war überaus schwer. Der Inhalt musste ein Metall sein.
Platon befahl, die Leiche außerhalb des Hains zu bestatten und nahm die Urne mit sich nach Hause. Dort traf er gerade den jungen Timaios an, der auf ihn gewartet hatte. Platon zeigte dem Freund den Fund. Beide waren von Neugier ergrifen, den Inhalt des Gefäßes in Augenschein zu nehmen. Vielleicht war eine metallische Flüssigkeit darin.
Um keinen Tropfen davon zu verlieren, sollte Melas eine kupferne Schüssel und einen Hammer holen. Timaios schlug mit größter Vorsicht auf das Gefäß; es zersprang und ein fettiger, braunroter Staub rieselte in die Pfanne. Sie prüften ihn, wurden aber nicht klug daraus. Der Stof hatte fast die Schwere des Kupfers und war anscheinend doch kein Metall. »Vielleicht zergeht er in der Hitze?«, meinte Timaios. Er holte aus der Küche einen Kupferlöfel, in dem man Pistazienkerne röstet, warf soviel Staub hinein, wie er zwischen zwei Fingern fassen konnte und hielt den Löfel über die Glut des Opferbeckens vor dem Isisaltar. Es dauerte längere Zeit und der Staub wurde zu einem dunklen Tropfen. Als der Löfel zu heiß wurde, legte Timaios ihn zwischen zwei glühende Kohlen, die er mit vollen Backen anblies, bis die Funken stoben. Da zuckte plötzlich eine Stichflamme mit heftigem Knall auf und Timaios taumelte zurück, wie von einem Blitz gestreift. Platon fing ihn auf und sagte: »Es ist ein Werk der Unterirdischen. Wir wollen es ihnen zurückgeben.« Die Flamme hatte ihre Wimpern und Augenbrauen versengt, sonst waren sie unverletzt. Dann sahen sie nach dem Löfel. Er lag noch zwischen den Kohlen. Timaios zog ihn heraus und warf ihn auf den Estrich; sie warteten, bis er abgekühlt war.
Der Tropfen war verschwunden und an seiner Stelle glänzte ein schimmernder Fleck, nicht größer als eine Haselnuss. Bei diesem Anblick wurde Platon von einem unheimlichen Grauen ergrifen, fasste beide Hände seines Freundes und bat ihn:
»Schwöre mir, dass du niemandem davon erzählen wirst, was hier geschehen ist!«
»Ich schwöre es!«, bekräftigte dieser, die Hände zum Isisbild erhoben.
»Hier waltet ein Geheimnis, das die Priester von Tentyris als ihren größten Schatz behüten. Ich weiß davon nur einiges aus Andeutungen und wollte nicht mehr davon wissen, weil eine solche Weisheit uns nicht ziemt. Ihre Erforschung würde mich von meinem Lebenswerk abziehen. Es soll Nacht über gewisse Dinge bleiben, bis einst Apollon das Dunkel in einem späteren Aion lüften wird.«
Timaios holte vom Kerameikos eine dicke bauchige Flasche, in die der metallische Staub hineingetan wurde. Die Öfnung wurde mit Ton verschlossen und dann mit Blei vergossen. Dann trugen sie das Ding in den Hain zurück und vergruben es tief in der Erde. Als sie mit dieser Arbeit fertig waren, fiel es Platon auf, dass sie die Flasche in der Nähe des vermutlichen Sokratesgrabes bestattet hatten. Zu Hause schloss sich Platon ein und vertiefte sich in die Schriftrollen, die er aus Abydos mitgebracht hatte.
Die Arbeiten im Akademoshain gingen allen Freunden zu langsam vonstatten. Man hätte gern eine doppelte Anzahl von Arbeitern eingestellt, denn an Geld mangelte es keinesfalls. Da trat ein Ereignis ein, das die Fortführung des begonnenen Werkes in Frage stellte. Unter den Bauleuten befand sich ein Mann aus Aphidnai, Eustratos, der zuweilen an Anfällen litt, wobei er mit schäumendem Mund Prophezeiungen und Verwünschungen ausstieß. Ein solcher Anfall packte ihn gerade, als er den Sockel für das Apollonbild mauerte. Er schlug der Länge nach auf den Boden hin und stöhnte:
»Da unten liegt der Daimon. Er rast umher und wird uns alle vernichten, weil einer von uns seinen Schatz gestohlen hat.«
Man grub die nur locker liegende Erde auf und fand das leere Grab mit dem Knochengerüst. Ein unheimlicher Schauder ging davon aus, dass alle von panischer Angst ergrifen davonliefen. In der Stadt verbreiteten sie das Gerücht, dass das Grundstück Platons am Ilissos von bösen Geistern heimgesucht werde. Sosehr sich auch Timaios bemühte, es war ihm unmöglich, neue Arbeiter anzuwerben.
»Soll durch die Dummheit der Leute das große Werk des Geistes verderben?«, klagte er.
»Es ist mehr Unwissenheit, weil sie nicht begreifen können, was der Sache als Kern zugrunde liegt. Denn über die Toten und ihre Gesetze wissen wir so gut wie nichts. Wir können nur vermuten, dass die großen Leidenschaften des Lebens im Jenseits fortbestehen. Der Begrabene war wahrscheinlich von einer solchen Besitzgier zu seinem Schatz ergrifen, dass seine Seele, erzürnt über dessen Raub, den Frieden des Hades störte. Wir müssen ihm seine Ruhe wiedergeben, indem wir sein Grab entsühnen und seinen Hort ihm wieder in die Hände legen.«
So geschah es in einer friedlichen Mondnacht. Die Flasche wurde der Leiche wieder beigestellt, wobei die Seele um Vergebung angefleht wurde. Als Ersatz für die Messerspitze entwendeten Staubes legte Timaios ein Goldstück hin.
Am anderen Tag wurde Eustratos gebeten, ein Opfer für die Seelenruhe des Unbekannten darzubringen. Mit ihm kamen alle seine Freunde, die mit den besten Teilen eines geschlachteten Stieres beteiligt wurden und auch genügend Opferwein erhielten. Doch die Auforderung, die angefangenen Arbeiten fortzusetzen, lehnten sie ab.
Erst als Eustratos ein Traumgesicht hatte, das sich ihm freundlich zeigte, nahm man die Arbeit wieder auf. Er erzählte: Ein dunkelhäutiger Mann sei ihm erschienen, in einer Höhle, wo angeschmiedete Sklaven in einer Esse arbeiteten. Der Fremde habe ihn in seine Schatzkammer geführt, die mit goldenen Stangen bis zur Decke angefüllt war. In einer ofenen Truhe lagen faustgroße Edelsteine, in einer anderen Perlen von der Größe einer Haselnuss. Eustratos konnte die Sprache des Mannes nicht verstehen, aber soviel erriet er aus dem Tonfall seiner Worte, dass dieser sich überheblich seines Reichtums brüstete. Dann führte er ihn in einen Zwinger, wo Löwen hinter vergoldeten Stäben fauchten und dann in einen Saal, wo drei überaus schöne Frauen ihn willkommen hießen.
»Wie deutest du diesen Traum?«, fragte Timaios seinen Lehrer.
»Der Tote war ein Mächtiger der Erde, kein Weiser. Die Moira wollte nicht, dass die Ausstrahlung, die von ihm ausgeht, unsere stillen Gedankenkreise störe und uns mit Gedanken der Gewalt vergifte. Deshalb ließ sie uns sein Grab entdecken. Bevor ich noch wusste, dass es sich so verhielt, habe ich es aus dem heiligen Bezirk entfernen lassen. Dort jenseits des Flusses droht uns von ihm keine Gefahr mehr. – Dieses Erlebnis ist gleichzeitig für mich eine Auforderung, nun endlich auch den Grundstein für die eigene Lehre zu legen, die Lehre von der unsterblichen Seele.«
Weil die von Timaios überwachten Arbeiten nun rasch in Gang kamen und alles den Plänen entsprechend richtig ausgeführt wurde, konnte sich Platon in Muße der eigenen Gedankenarbeit widmen. Es sollte den Freunden etwas ganz Neues gezeigt werden, doch so, dass es sich als selbstverständliche Folgerung des bisher Festgelegten ergab. Und gleichzeitig sollte es eine Programmschrift der Akademia sein.
Menon, dem vornehmsten Adel Thessaliens entsprossen, ist nach Athenai gekommen, um von Sokrates Belehrung zu erhalten. Er schneidet gleich am ersten Tag die im ›Protagoras‹ aufgeworfenen drei Fragen an: Was ist Tugend? Ist sie Erkenntnis? Ist sie lehrbar? – In der Dialexis mit ihm erhält er das verlangte Wissen. Das heißt, er muss sein bisheriges Nichtwissen eingestehen und er erfährt, was man ihm bisher erzählt hat: Sokrates selber ist ratlos und macht auch die anderen ratlos. Er vergleicht ihn mit einem Zitterrochen, der durch seinen elektrischen Schlag den lähmt, der ihn berührt.
»An Seele und Mund bin ich gelähmt und habe nicht, was ich antworten könnte. Ich habe schon tausendmal über die Tugend viele Gedanken ausgesprochen, aber jetzt vermag ich überhaupt nicht zu sagen, was sie ist. Sokrates möge Athenai nur ja nicht verlassen, denn anderswo, wo man ihn nicht kennt, würde man ihn für einen Zauberer halten.«
Ein neuer Mensch soll geschafen werden, daher ist es notwendig, alles Frühere, was ihn schlecht gemacht hat, von sich zu werfen. Die Seele muss ihre bisherigen Wahnvorstellungen ablegen und aus der eigenen Tiefe das Heil der richtigen Erkenntnis hervorsteigen lassen.
»Denn sie selbst weiß alles, nicht durch Belehrung durch diesen oder jenen, sondern aus eigener Kraft – weil sie ihr Wissen aus früheren Leben in ihr jetziges Erdendasein mitgebracht hat.«
Dieser Satz ist so wichtig, dass er nicht eine leere Behauptung bleiben darf. Er muss mit zwingender Notwendigkeit bewiesen werden, dass sich niemand seinem Wahrheitsgehalt entziehen kann.
Sokrates ruft den Sklaven des Menon herbei, nimmt ein Stäbchen und zeichnet in den Sand ein Quadrat von zwei Fuß Länge. Dann gibt er ihm die Aufgabe, das Quadrat zu verdoppeln. Der Sklave hält dies für leicht und schlägt ein Quadrat von vier Fuß Seitenlänge vor, erkennt aber gleich, dass das neue Quadrat jetzt viermal so groß ist. Er hält dann drei Fuß für das Richtige, kommt aber gleich darauf, dass dem nicht so sein kann. Sokrates erklärt ihm nun an der Figur den Begrif der Diagonalen, zeigt das Quadrat über ihr, und sogleich erkennt der Sklave in ihm das gesuchte Quadrat. Damit hat Sokrates in dem ungebildeten Knaben eine Erkenntnis hervorgerufen, von der dieser gar nicht wusste, dass er sie seit jeher in sich hatte. Von selber kam er nicht darauf, er benötigte eine richtige Führung.
Lehren besteht also nicht darin, dass man Weisheit sozusagen in ein leeres Gefäß schüttet, sondern darin, dass ein Erfahrener das aus der Seele des anderen hervorholt, was dort schlummert, ihm selber unbewusst. Der Lehrer kann nur die angeborenen Vorstellungen hervorholen. In wem diese wie bei Menons Sklaven erwacht sind, der hat die richtige Vorstellung, Doxa. Aber wahre Erkenntnis, Episteme, erringt er erst dann, wenn er sie durch Wiederholung und Übung sichert.
Doxa genügt zum richtigen Handeln, Episteme ist aber für die Erfassung eines Weltbildes notwendig. Wer eine richtige Vorstellung vom Weg nach Larisa hat, vermag so gut zu führen wie der, der den Weg schon gegangen ist, der wirklich Wissende. Doxa und Episteme sind nicht voneinander durch Logik getrennt, sondern durch die einfachen Tatsachen des Lebens. Die Doxai gleichen den Bildwerken des Daidalos: Erweckt fliegen sie davon, wenn man sie nicht zuvor festbindet. Das Binden der Vorstellungen geschieht durch Gründe; und eben durch diese Bindung wird die Doxa zur Episteme. Wissen ist der sinnvolle Zusammenhang richtiger Vorstellungen. Das Wissen eines Weges besteht darin, dass man ihn wirklich gegangen ist; die bloß richtige Vorstellung genügt aber auch, wenn man nichts anderes bezweckt, als an ein gewünschtes Ziel zu gelangen.
Wenn nun die Akademia der Weg zum Wissen sein soll, zur Erkenntnis des Ganzen, aus dem heraus ein Staatsmann einen neuen Staat aufbauen will, so muss der Weg zu einer neuen Philosophie führen. Die Voraussetzung dafür ist eine klare Vorstellung und nicht logische Abstraktion.
Die Akademia hat zur Aufgabe, mittels der Vorstellungen den Geist zur allgemeinen Lebensnorm, zum Eidos zu erheben, um daraus die wahre Erkenntnis, die Episteme, zu erlangen. Eidos ist aber kein leerer Begrif, sondern eine formende Kraft, ein Teil der Weltenschöpfung. Um diese Gedankengänge zu erhärten, bringt Platon ein zweites Beispiel:
»Wenn Mann und Frau stark sind, so sind sie es durch das gleiche Eidos und die gleiche Stärke. Für die Stärke als solche macht es keinen Unterschied, ob sie im Mann oder im Weib ist.«
Des Eidos Kraft ist also die Kraft als eine seit Ewigkeit wirkende Substanz. Dadurch wird auch die Tugendlehre des Sokrates klar. Tugend ist die Kraft, welche die Menschheit durchflutet, wobei sie in jedem Menschen eine andere subjektive Erscheinungsform annimmt. Sie allein verleiht der Welt ihre Einheit, den Logos, die Schönheit und die Wirklichkeit. Die Mathematik kann daher nur eine Vorstufe zur Gewinnung richtiger Vorstellungen sein. Überzeugt werden wir nur von wahren Erkenntnissen, die die Seele aus ihren früheren Leben mitgebracht hat. Alles Lernen ist Wiedererinnern, Anamnesis. Platon weiß, dass er mit der Unsterblichkeit der Seele siegt oder fällt. Von Priestern und Dichtern hat er die Lehre vernommen:
»Unsterblich ist die Seele und niemals wird sie zunichte. Weil sie schon oft wiedergeboren wurde, hat sie alles erfahren und braucht daran nur erinnert zu werden. Denn weil die ganze Natur verwandt ist und die Seele alles gelernt hat, so geschieht es, dass, wer nur an eines erinnert wird, was die Menschen lernen müssen, von selbst alles Weitere findet, wenn er nur tapfer ist und nimmer müde im Suchen.«
Das nunmehr gesicherte Ergebnis lautet: Weil man in der Seele mathematische Einsicht findet, darf man glauben, dass in ihr auch die Erkenntnis des Eidos, der Lebensnorm, vorhanden ist. Den Beweis dafür findet Platon in der Lehre von der Seelenwanderung. Schon sieht er das eigentliche Ziel seines Lebens vor Augen: die Menschen zu königlichen Philosophen heranzuziehen. Nur in Andeutungen wagt er von dem zu sprechen, was ihn zutiefst bewegt, nicht mit eigenen Worten, sondern in Versen des göttlichen Pindaros:
»Welchen Menschen Persephoneia die Buße uralten Leides
Abnimmt, deren Seelen gibt sie wieder im neunten Jahre
Zurück der oberen Sonne.
Aus ihnen entstehen dann neu
Herrliche Fürsten und Männer, gewaltig an Kraft,
Groß an Weisheit. Und in der Zukunft
Werden sie heil’ge Heroen genannt bei den Menschen.«
König und Philosophen! Wiedergeburt und Wiedererinnerung!
Der Grundstein der Lehre ist gelegt, das Ziel falkenäugig erkannt, und nichts kann mehr den Blick davon ablenken. Der Held, der nur stark und tapfer ist, Kallikles oder Herakles, wie ihn der Komödienschreiber Platon gezeichnet hat, ist ein verächtlicher Rohling. Erst die Weihe des Geistes verleiht ihm seine wahre Größe. Aufgrund dieser Einsicht geht Platon mit den früheren Staatsmännern nicht mehr so streng ins Gericht. Zwar hatten sie keine richtige Erkenntnis des Ganzen, des Eidos vom Staat, aber in den Tagen der Bedrängnis wurden in ihnen die richtigen Vorstellungen wach, durch die ihnen die rettende Tat gelang. Woher ihnen rechtzeitig der glückliche Gedanke kam, ist schwer zu ergründen; am wahrscheinlichsten ist, durch göttliche Eingebung.
Leider blieb in den letzten Jahrzehnten diese göttliche Eingebung aus, und das Unheil wurde immer ärger trotz vereinzelter Siege. Es muss bei den Menschen etwas in Unordnung geraten sein, dass sich die göttlichen Kräfte nicht auswirken konnten. Wieder ein Grund, zuerst seine Seele in Ordnung zu bringen, wie es Sokrates verlangt hat. Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass aufgrund der seelischen Harmonie aller ein richtiger Staat aufgebaut werden kann.
Der frühere Einwand gegen die großen Staatsmänner bleibt bestehen, dass sie keine Söhne zu Nachfolgern ihrer Tugend erzogen haben. Sie haben ja den Weg nach Larisa weder durch eine richtige Vorstellung, noch durch Wissen, sondern nur durch eine göttliche Eingebung gefunden. Sie gleichen den alten Orakelpriestern, aus denen eine Gottheit spricht. Aber jetzt ist ihre Zeit vorüber: Die Weltgeschichte gehört von nun an den königlichen Weisen, den Philosophenkönigen.
Sokrates bedauert, dass es Lehrer dieser königlichen Weisheit noch nicht gibt. So ist die Tugend doch nicht lehrbar? In welche neue Aporia bist du da geraten? Doch sie ist nicht das letzte Wort, das der Meister zu sagen hat. Wenn es dennoch unter uns einen Staatsmann gäbe, der durch sein Wissen andere zu Staatsmännern erziehen könnte, so wäre er unter den Lebenden wie Teiresias unter den Toten; denn er allein im Hades hat Besinnung, die anderen sind nur schwirrende Schatten. So vergleicht sich Platon selbst mit dem mythischen Seher, der die Könige warnt und rügt. Denn jetzt hat er erkannt, welche einzigartige Aufgabe ihm durch göttlichen Auftrag zuteil geworden ist und dass von dessen Verwirklichung das Heil der künftigen Menschheit abhängt. Eines durchwaltet das Andere: die Lehre von der Wiederkehr der Seelen, die vom Eidos und das Bewusstwerden seiner besonderen Sendung. Dadurch ist die dreifache Frage, mit der das Gespräch begann, beantwortet: Tugend muss durch die Natur als Urbesitz der Seele ihr mitgegeben sein; zweitens muss sie durch Anschauung und Lehre geweckt werden und drittens muss sie durch Wiederholung und tätige Bewährung geübt und weiterentwickelt werden.
Während Platon diese Gedanken festhielt, kam seine Seele nicht von dem Toten los, dem sein Kleinod geraubt worden war und der nun nach Jahrhunderten im Hades plötzlich in die Gegenwart eingrif. Ist nicht die ganze Welt voll Daimonen und Gespenstern gleich ihm? Sie sind die Stärkeren. Weh uns, wenn wir, gewollt oder ungewollt, an ihre Rechte rühren! Der ganze Dialog geriet in die Nähe des Gespenstigen; während des ganzen Gespräches hat neben Sokrates Anytos gesessen, der Mann, der später zum Mörder an ihm geworden ist. Neben dem Stuhl des Weisen sitzt das Totengespenst, der Neid, der Hass der Ohnmacht. Das, was Anytos vorbringt, ist belanglos. Nicht seine Worte, seine bloße Anwesenheit ist tödlich. Sokrates könnte ihn leicht als ungebetenen Zuhörer fortweisen, aber er lässt ihn neben sich mit der Ergebung eines Opfertieres, das durch das Messer des Schlächters gebannt ist.
Platon wusste, dass er in diesem Dialog an Geheimnissen der Seele gerührt hat, an die sich bisher noch niemand herangewagt hatte. Doch dieses Werk sollte nicht wie ›Hippias‹ einfach heruntergelesen werden, sondern man sollte es gleichsam als Schlüssel zum Verständnis einer neuen Philosophie betrachten. Mit einer Erklärung hatte die Akademia für Jahre hinaus Arbeit, bevor sie seine letzte Tiefe ausgeschöpft hatte.
Beim Durchfeilen der Schrift fand Platon, dass er dem Anytos eine so unbedeutende Rolle nicht geben dürfe, sonst würde das Gespenstige dieser Erscheinung zu dunkle Schatten über das sonst sonnige Gespräch werfen. Er lässt ihn über die Sophisten reden, ohne dass er sie versteht, so wie er einst gegen Sokrates losziehen wird, ohne ihn zu begreifen. Seine eigene Tugendlehre zeigt den Anytos als hämischen Neidling, der den Sokrates wegen seiner höheren Einsicht bis auf den Tod hasst. Durch diese Szene werden indirekt die Gefahren der Erkenntnis aufgezeigt. Diese ist als Geschenk Apollons wohl sonnenhaft und rein, aber wenn sie in ein trübes Gefäß fällt, so verunreinigt sich der Sonnenstrahl, weil er die Hässlichkeit entlarvt, die sich bisher im Dunklen verstecken konnte. Wie es eine göttliche Eingebung gibt, die die Seele nach oben reißt, so gibt es auch unberechenbare daimonische Einflüsse, die ein Erreichen der Episteme böswillig verhindern.
Das darf aber die Lernbegierigen nicht daran hindern, sich der Akademia als der Schule der Weisheit anzuschließen. Im Gegenteil, der Dialog soll eine Werbeschrift für sie sein. Wer den Sinn des ›Menon‹ richtig erfasst hat, hat die niederen Weihen der platonischen Philosophie erhalten, der ist aus sich selbst heraus ihr Mitglied geworden, wenn auch sein Leib fern von Athenai weilt. Denn nicht wie bei den Pythagoreern soll ein Vorgesetzter über die Aufnahme eines Bewerbers entscheiden, sondern ein jeder hat nach gewissenhafter Prüfung das Recht, sich für reif zu halten. Platon ruft nur solche Jünger zu sich, die über Selbsttäuschung erhaben sind. Wenn sie diese bewiesen haben, sind sie würdig, das Ziel eines Philosophenkönigs ins Auge zu fassen. Davon sind Machtbesessene wie Kritias und Alkibiades ausgeschlossen, ebenso daimonische Dummköpfe wie Anytos. Man kann nicht König im Reich des Geistes werden, sondern man ist es von Geburt an durch göttliche Eingebung.
Platon gestattete, dass seine Jünger für die erste Vorlesung des ›Menon‹ ein besonderes Fest vorbereiteten. An diesem Tag ruhten alle Arbeiten. Das Lehrhaus stand im Rohbau schon da, aber noch fehlte das Dach. Daher wählte Platon als Kathedra den Sockel, auf dem sich bald die Statue des Apollon erheben sollte.
Den älteren Schülern war es überlassen, die Auswahl der übrigen Zuhörer vorzunehmen. Um Störungen durch Unberufene zu verhindern, war das Fest beim Archon Hiereus als Thiasos zu Ehren Apollons angemeldet worden. Der Thiasos zählte jetzt ungefähr dreihundert Mitglieder, durchweg Männer, die bewiesen hatten, dass es ihnen Ernst mit dem Streben nach Weisheit war; aber auch zwei Frauen gehörten ihm an, Lastheneia aus Phleius und Axiothea aus Mantinea.
Es war ein warmer Herbstnachmittag. Die Sonne blinzelte nur mit halber Kraft durch das Blätterdach der Platanen. Phaidon, die Priesterbinde über die Stirn, entzündete das Rauchopfer und sprach die vorgeschriebene Anrufung des Gottes. Dann ging er zum Opferstein des Hakedamos und verbrannte auf ihm, dem Flurgott zu Ehren, ein Büschel Ähren und besprenge den Stein mit Milch und Honig. Die beiden Schülerinnen setzten dem Meister einen Ölkranz auf das Haupt, als ob er jetzt in der Volksversammlung sprechen wollte, und beugten ihre Nacken, über die herauf er auf den Sockel stieg. Die anderen schlossen um ihn herum einen Halbkreis und ließen sich auf dem Boden nieder.
Platon gab seine Arbeit als ein Ganzes, ohne wie früher sie auf mehrere Tage zu verteilen, mutete also den Zuhörern recht viel zu. Er sprach langsam und eindringlich, zumal im zweiten Teil, wo er die Lehre von der Wiedererinnerung aufstellte. Wie jeder Redner fühlte er, wie ihm von den Zuhörern ein geistiger Strom entgegenfloss, zuerst ein zages Tasten nach dem Thema, mit Unsicherheit gemischt; aber als dann an Menons Sklaven die geometrische Frage gestellt wurde, kam ein frischer Wind auf, der alle Unklarheit verblies.
Als es zu dem kurzen Zwischenspiel mit Anytos kam und Platons Stimme die Hintergründigkeit dieser Gestalt andeutete, die heimtückisch auf ihr Opfer lauerte, fiel sein Blick zufällig auf die beiden Mädchen, die unten am Sockel in halb liegender Stellung kauerten. Wie, Axiothea schläft, während Lastheneia wie geistesabwesend vor sich starrt und mit ofenem Mund schwer atmet. Ein schwaches Lächeln flog über Platons Züge, doch gleichzeitig wurde ihm das Herz schwer. Da wurden erstmalig Gedanken vorgetragen, die über das jetzige Erdenleben hinaus in die vorgeburtliche Welt der Seele vorstießen, zwingend und klar, dass ein Zweifel darüber unmöglich war – die Welt müsste den Atem anhalten, um zuhören zu dürfen – und das Mädchen ihm zu Füßen ließ sich von seinen Worten wie von einem Wiegenlied in den Schlaf einsingen. Doch auch dies war schön. Ist nicht Elysion nah, wenn es Weisheit und Unweisheit nicht mehr gibt? Seliges Menschenkind, wie könnte ich dir böse sein! Der Glückliche ist jenseits aller Philosophie. Seine Seele ist bei Gott und benötigt weiter nichts.
Gegen Ende der Vorlesung schlug Axiothea die Augen auf und richtete sie mit großem Staunen auf Platon gleich einem Kind, das in seiner Wiege erwacht ist. Eine jähe Beschämung färbte ihre Wangen rot, und hastig strich sie sich ihre Kleider zurecht. Lastheneia warf ihr zürnende Blicke zu, dass es eine Schande für das ganze weibliche Geschlecht sei, bei den Worten des Meisters einzuschlafen. Axiothea schien darüber so bestürzt, dass sie in die Erde zu versinken wünschte.
Platon machte Miene, vom Sockel zu steigen und gab den Mädchen ein Zeichen, ihm dabei behilflich zu sein. Die beiden schnellten auf, reichten ihm ihre Hände empor. Platon fasste sie und sprang behände herab. Dann klopfte er Axiothea begütigend auf die Wange und sagte:
»Auch ich habe geträumt.«
Schon während der Vorlesung hatte sein Auge in der Menge der Zuhörer ein teures Gesicht entdeckt, Chairephon, der nun mit glühenden Wangen auf ihn zuflog und ihn stürmisch umarmte.
»Du Treuer, Guter, Einziger!«, stammelte Chairephon. »Nun hat mein Leben wieder einen Sinn, wenn ich dich wiedersehe!« Neben ihm stand sein Sohn Euterpon, auf den er mit Stolz hinwies.
Um sich nicht vorzudrängen – es ging jetzt um wichtigere Dinge – trat er bescheiden zurück, denn er sah, wie die Schüler danach lechzten, sich über das Gehörte auszusprechen. Die Lehre von dem vorgeburtlichen Dasein der Seele, durch die Grundsätze der Geometrie bewiesen, war von allen als Entdeckung von ungeheurer Tragweise erkannt worden. Der Beweis war so zwingend, dass es darüber keinen Zweifel gab. Was die Pythagoreer mit ähnlichen Worten lehrten, war ein frommes Märchen, aber hier stand man auf dem Boden einer selbst erlebten Tatsache.
Die Seele als selbstständiges geistiges Prinzip, das über den Körper hinausreicht in vergangene Zeiten und Aione – welch eine Fülle von Folgerungen ergaben sich daraus! Ihr Weiterleben nach dem Tod war die wichtigste davon. Dieser Gedanke sollte später besonders behandelt werden. Platon bat die ihn bedrängenden Freunde, sich heute nur auf das Gehörte zu beschränken. Hat die Seele außer den mathematischen Grundvorstellungen nicht noch andere Begrife in ihr jetziges Leben mitgebracht? Vielleicht besondere Begabungen und Fähigkeiten? Sind die Künste nicht ein deutlicher Beweis dafür? Warum lernt der eine die Kithara leicht? Er nimmt sie nur in die Hand und die Töne quellen von selber unter seinen Fingern hervor. Ein anderer plagt sich jahrelang vergebens und bringt es nur zu einem stümperhaften Geklimper.
Und kommst du in ein fremdes Land, siehst einen Berg, einen Fluss – und plötzlich hast du den Eindruck: Das habe ich schon einmal gesehen, hier muss ich schon einmal gewesen sein. Tauchen im Traum nicht zuweilen Bilder auf, die nur aus einem früheren Dasein der Seele stammen können? Warum hast du zu einem Menschen, den du zum ersten Mal siehst, eine unerklärliche Zuneigung, und von einem anderen fühlst du dich ohne ersichtlichen Grund abgestoßen?
Immer mehr Beweise und Wahrscheinlichkeiten für die These des ›Menon‹ wurden vorgebracht. Das Gespräch glich bald durch die verschiedensten Erzählungen einem bunten Teppich, in dem sich Traum und Wirklichkeit ineinander verwoben, bis Platon zu einem anderen Thema hinüberführte:
»Sind nicht die allgemeinen Begrife der stärkste Beweis für das Dasein Gottes? Und gleichzeitig des Guten, Schönen und Wahren? Denn wäre unser Leben nur zwischen Geburt und Tod beschlossen, so würden wir wohl einzelne Dinge schön nennen können, gelangten aber niemals zu dem allgemeinen Begrif des Schönen.«
Diese Lehre vom Eidos bedurfte einer gründlichen Erklärung. Platon ließ zuerst die Schüler ihre Meinung darüber äußern, die weitgehend auseinander liefen. Dem einen war Eidos nur eine Form, dem anderen ein logisches Gesetz, dem dritten eine Allegorie von bloß dichterischem Wert.
»Vielleicht werdet ihr klarer sehen, wenn ich das Wort Eidos durch das deutlichere Idea ersetze«, schlug der Meister vor.
»Idea ist also das Urbild«, versuchte Phaidon zu erklären, »an dem das einzelne Ding mehr oder weniger Anteil hat.«
»Ganz richtig, mein Guter!«, lobte ihn Platon, »aber darüber hinaus ist die Idea noch etwas. Du hast sie nur von der einen Seite erfasst, von der, die von unten nach oben hinzielt.«
Er hätte gern diesen Gedanken weiter ausgeführt, durfte aber der Fassungskraft der Schüler nicht zuviel auf einmal zumuten. Er versprach, die Lehre von der Idea in einem eigenen Dialog darzustellen und lenkte das Gespräch auf den dritten Punkt hin, auf die Erkenntnis der entscheidenden Weltstunde, die mit der Erkenntnis der Seele angebrochen war. Sie, die bisher nur eine Begleiterin des Körpers war, die man nach Belieben beiseite schieben konnte, wenn sie den Begierden lästig wurde, erhob von nun an den Anspruch, seine Herrscherin zu sein. Damit war ein neues Aion angebrochen. Der Geist, der bisher nur am Rande der Weltgeschichte seine Blüten treiben durfte, wurde jetzt zum Mittelpunkt der Welt. Was dies für die weitere Entwicklung der Menschheit bedeutete, war einem jeden klar.
Um Chairephon Gelegenheit zu geben, sich mit seinem Freund Platon auszusprechen, wurde eine Pause eingeschaltet. Es bildeten sich abseits von ihnen Gruppen, die die verschiedenen im ›Menon‹ aufgeworfenen Fragen besprachen. Platon zog sich mit Chairephon in das Haselnusswäldchen am Ilissos zurück. Und der Heimgekehrte erzählte: »Dein Ruhm, Platon, ist bis nach Ephesos gedrungen. Sophisten tragen deine Lehre vor und erklären sie unter großem Zulauf von Wissensdurstigen. Als man erfuhr, dass ich mit dir gut bekannt wäre, bat man mich, über dich öfentliche Vorträge zu halten. Man wollte über dich alle Einzelheiten wissen, wie du lebst, wie du dich kleidest, mit wem du verkehrst. Verzeih mir, dass ich abgelehnt habe, denn meine Zunge ist schwer. Es wäre nichts herausgekommen, das deiner würdig wäre.«
»Du hast Recht getan, du Guter.«
»Aber einmal konnte ich mich den Bitten eines Mächtigen nicht entziehen. Der Satrap lud mich in seinen Palast ein, und da ergab es sich im zwanglosen Gespräch, dass ich schwatzhaft wurde und ins Erzählen geriet. Unter den Zuhörern befand sich auch die Nichte des Satrapen, Agma, aus dem Königsgeschlecht von Paphlagonien. Sie besaß den ›Protagoras‹ und ›Gorgias‹ und verehrte dich, wie man einen Halbgott anbetet. Dabei ist sie schön wie eine Charis. Als sie erfuhr, dass du ehelos lebst.... «
»Genug, mein Lieber! – Oder bist du von ihr beauftragt, den Liebesboten zu machen?«
»Wo denkst du hin?«, wehrte Chairephon ab, den heiße Schamröte übergoss.
»Doch könnte es dich nicht verlocken, einmal die Städte Ioniens aufzusuchen? Der Westen hat sich undankbar gegen dich bewiesen. Vielleicht will es die Moira, dass du im Osten den Staat des Geistes begründen sollst.«
»Du bringst neue Verwirrung zu mir. Ich kann die Akademia nicht allein lassen. Alles ist erst im Aufbau.«
Die Anregung, die Chairephon in seine Seele geworfen hatte, beunruhigte Platon so stark, dass er die Versammelten, die auf weitere Gespräche neugierig waren, um Entschuldigung bat. Er fühle sich jetzt außerstande dazu. Die Schüler bemerkten einen leidvollen Zug in seinem Antlitz, von dem eine solche Hoheit ausging, dass niemand es wagte, ihn um eine Erklärung zu bitten. Es dämmerte bereits. Platon erbat sich Chairephons Wanderstab und schritt davon. Man sah, dass er die Richtung zum Hymettos einschlug.
»Dion, Dion!«, keuchte seine Seele. »Du königlicher Jüngling, den ich so schnell verlassen musste! Eros treibt mich zu dir, doch nun will man dich von meinem Herzen reißen. Aber ich will das Reich des Geistes für dich aufbauen, durch dich soll die Menschheit ihre neue Weihe erhalten.«
Mit diesem Anruf an den fernen Geliebten war alles weggelöscht, was ihn von ihm fernhalten konnte. Auch ein Ehebund könnte dich nicht von mir scheiden. Ihr schönen Frauen! Lastheneia, Diotima! Und jetzt eine Frau aus königlichem Blut! Du fieberst. Einen Sohn als Erben deines Geistes solltest du haben! Dion, hilf!
Der Hymettos ist noch fern. An einer Wegkreuzung machte der Ruhelose Halt und setzte sich auf einen Feldstein. Zu seinen Füßen wärmte sich eine grüne Eidechse auf einem noch heißen Felsen. Die Sonne ertrank braunrot im Dunst des Westens.