Julius Franzot

Kiez trifft Mafia

Ein Wirtschaftskrimi

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Inhaltsverzeichnis
Über den Autor

Julius Franzot, 1956 in Triest/ Italien als Kind einer deutsch-friaulischen Familie geboren, wuchs zweisprachig auf. Nach dem Studium der Pharmazie arbeitete er in der Pharma-Industrie als Marketing- und Export-Manager in Frankfurt (1979-1996) und als selbstständiger Unternehmensberater in Triest. Danach wechselte er als Exportleiter zu einem süditalienischen Pharma-Unternehmen (1997-2005). Parallel dazu begann er, ursprünglich für die Schublade Geschriebenes zu redigieren und zu veröffentlichen. Heute lebt Julius Franzot in Guntersblum am Rhein und ist hauptberuflich als Autor und Übersetzer tätig, außerdem als Redakteur bei Online-Zeitungen. Er ist Mitglied des P.E.N.-Club, des Freien Deutschen Autorenverbands FDA und des Europa-Literaturkreises Kapfenberg. In Italien setzt er sich für den Erhalt der kulturellen Unabhängigkeit deutschsprachiger Minderheiten ein.

Von Julius Franzot bisher erschienen:

Gefesselte Freiheit (Roman); Im Wald und vor der Sonne (Lyrik); Der Herold und die Trommlerin (Roman); Kontinent Amerika, Marokko, zwischen Atlas und Atlantik und Aktenkoffer und Seidenstrümpfe (Reiseerzählungen); Auf den Wegen des Islams (Sachbuch), NICHT MIT MIR – Im Ausverkauf von Turm & Brücke (Roman), außerdem zahlreiche Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien.

Vorwort

Kiez trifft Mafia? Na klar, weil das eine kriminelle Milieu mit dem anderen durch dreiste Geschäfte verbunden ist, oder? Zum Teil sicher richtig. Aber in diesem Fall handelt es sich um eine eher erzwungene Verbindung zwischen dem Frankfurter Rotlichtmilieu und der sizilianischen ehrenwerten Gesellschaft.

Auf dubiose Weise schnell zu viel Geld kommen wollen beide Seiten und der missglückte Drogendeal mit einem Kolumbianer sorgt dafür, dass zwei Gemeinschaften mit grundverschiedenen Strukturen aufeinander treffen, um das gefährliche Schwarzgeld möglichst gewinnbringend zu „waschen“.

Wer allerdings erwartet, dass „Zahnstocher-Charlie“ und „Gamaschen-Colombo“ die hierbei zwangsläufig entstehenden Diskrepanzen auf wilden Verfolgungsjagden mit knatternder Maschinenpistole aus der Welt schaffen, liegt falsch. Der Mafia geht es heute vor allem um wirtschaftliche Macht und politischen Einfluss, entsprechend ist das Auftreten ihrer Mitglieder eher business-like. Auf Mord und (körperlichen) Totschlag wartet man in diesem Buch daher vergebens.

Die Perspektiven der Mafia machen im Übrigen auch nicht an der Straße von Messina Halt, sondern infiltrieren die meisten Bereiche italienischer Politik und Wirtschaft. Des Weiteren streckt die ehrenwerte Gesellschaft ihre Fühler mittlerweile bis in die USA und nach Nordafrika aus.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass es sich bei „Kiez trifft Mafia“ um einen rein fiktiven Roman handelt, wenn auch die Grundmotive auf eigenen Erlebnissen und Erfahrungen des Autors vor Ort beruhen. Die Schauplätze sind der größeren Authentizität und Lebendigkeit halber real, alle Figuren und Handlungen jedoch frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die erwähnten Politiker mögen verzeihen, dass sie in der Romanhandlung eine – ebenfalls rein fiktive – Rolle zugewiesen bekommen haben.

Wie schon in seinem letzten Roman „NICHT MIT MIR! Im Ausverkauf von Turm & Brücke“ greift Julius Franzot in diesem Buch das Thema „Oligarchien“ bzw. „Kerngruppen“ ein weiteres Mal auf. Der Grad der Zugehörigkeit zum jeweiligen Ambiente spielt für die Personen in „Kiez trifft Mafia“ eine entscheidende Rolle: Bordellbetreiber Jovanovic wird weder von der Frankfurter Wirtschaftselite noch von den Drogenbossen akzeptiert, Firmenchef Knut Korting wird von den „Leuten“ seiner Frau Petra, die aus dem gleichen Milieu stammt wie Jovanovic, nicht als vollwertiges Mitglied angesehen. Auf Sizilien wird der Unternehmer Antonino Cacciapuoti von seinem Vater, dem Rechtsanwalt Don Francesco, nicht rechtzeitig in die „richtigen“ Kreise eingeführt und probt daher den gesellschaftlichen Aufstieg mit allen Mitteln (und den falschen Freundschaften) in eigener Regie…

Ein gewisses Chaos ist somit vorprogrammiert.

Neben lebendigen psychologischen und soziologischen Porträts einzelner Personen und verschiedener Gruppen bietet das Buch auch interessante Einblicke in die Möglichkeiten unternehmerischen Handelns und betrieblicher Verflechtungen vor dem Hintergrund der Internationalisierung, Globalisierung und der staatlichen Förderung von wirtschaftlichen Projekten durch die EU. Die schlitzohrige Anwendung des EU-Rechts durch einige der Protagonisten zum Beispiel ist in der Lage, beim Lesen allerlei Gefühle zu wecken – irgendwo zwischen Amüsiertheit und hilfloser Wut.

Erstaunen und Betroffenheit rufen auch die Kommentare mancher der Romanfiguren hervor, wenn sie sich in ihren Gesprächen mit der faschistischen Vergangenheit in Deutschland und Italien auseinandersetzen. Aber auch kritische Gedanken zu den Auswirkungen des in der Gegenwart praktizierten Neoliberalismus fehlen nicht.

Julius Franzot bleibt mit diesem vielschichtigen und spannenden Roman – ungeachtet vieler ernsthafter und erst zu nehmender Denkanstöße – aber weitab von jeglicher „Betroffenheitsliteratur“. und sorgt mit ironischer Feder dafür, dass das Lachen, das einem an der einen Stelle im Halse stecken bleibt, an anderer wieder voll zu seinem Recht kommt!

Ellen Balsewitsch-Oldach

Vorstandsmitglied im
Freien Deutschen Autorenverband FDA

www.fda.de

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1. Die Chance

Noch war die sauber gefaltete Zeitung auf dem Rücksitz seines Audis Toms ganz privates Geheimnis, als er auf der Suche nach einem Parkplatz um den Linsenberg kurvte.

An jenem regnerischen Donnerstagabend hatte sich seine lang gehegte Hoffnung auf den alles entscheidenden Wendepunkt seiner Karriere in Form einer Stellenanzeige in der FAZ materialisiert. Die langen Jahre als Disponent in einer Speditionsfirma in Mainz-Mombach waren wirklich nicht schlecht gewesen, er hatte sich Einiges leisten können, hatte die ersten neoliberalen Stürme auf dem Arbeitsmarkt unbeschadet überstanden und seine Vier-Zimmer-Wohnung war schon halb abbezahlt. Ihm fehlte nur das gewisse Etwas, das Salz in der Suppe, die Perspektive, eine größere Rolle in der Gesellschaft zu spielen als die eines fleißigen Sachbearbeiters. Seine Frau, Martina, hatte sich auch eine Prise Glamour verdient, es konnte nicht sein, dass sie den ganzen Tag im Hinterzimmer einer Bank hockte, abends müde nach Hause kam und nur auf den Urlaub und das Wochenende schielte, um ihr Menschsein auszuleben. Grautöne hatte sie genug in ihrer Jugend in der DDR erlebt.

Etwas Risiko, die Chance, die Gesellschaft mit zu formen, interessante Menschen kennenzulernen, die etwas zu melden hatten, nicht nur die Kolleginnen und Kollegen mit ihren netten, freundlichen, aber dennoch sehr bürgerlichen Familien, mit denen man gemütlich über die Kinder schwätzen konnte (die Martina und Tom nicht hatten), über den letzten Urlaub und die Hoffeste am Rhein.

Wie lange noch würde Tom die bürgerliche Idylle aushalten, inmitten einer Gesellschaft, die mit großen Schritten einem epochalen Wandel mit noch sehr unscharfen Konturen entgegen lief? Den Wandel mitgestalten, das wollte er. Er war sich nicht so sicher, ob auch Martina von einem ähnlichen Wunsch – mit allen seinen Ecken und Kanten – beseelt war, und so hatte er „es“ immer nur sehr vorsichtig angedeutet, hatte immer gehofft, man würde ihm die passende Chance auf einem Silbertablett präsentieren: Alles sollte in seinen Vorstellungen sauber, nachvollziehbar, planbar und gebrauchsfertig sein. Die Anzeige in der FAZ dagegen war ein verführerisch verpackter IKEA-Bausatz. Vorerst also besser noch schweigen, verheimlichen, vorsichtig sondieren.

Endlich! Vor der Uniklinik tat sich eine Parklücke auf, eine legale, offizielle, die nicht die Gefahr in sich barg, dass Tom am nächsten Morgen zwei tüchtige Politessen samt Kamera vor seinem Nummernschild erblickte.

Die Zeitung auf dem Rücksitz war noch geheime Verschlusssache und würde die Nacht also im Wagen verbringen, aber Tom konnte sich einen letzten Blick auf jene Anzeige, die ihn persönlich zu meinen schien und von der er sich die Wende versprach, nicht verkneifen. Die Straßenbeleuchtung machte es möglich.

„Pharma – Internationale Herausforderung

Aufstrebende, exportorientierte pharmazeutische Firma im Rhein-Main-Gebiet sucht zum Ausbau des Import-Export Geschäftes einen erfahrenen, durchsetzungsfähigen und kreativen Exportleiter mit kaufmännischem Hintergrund und ersten internationalen Erfahrungen. Aufgeschlossenheit, Verständnis für unterschiedliche geschäftliche Gepflogenheiten, Bereitschaft zu Reisetätigkeit im In- und Ausland sowie sicherer Umgang mit gängigen PC-Programmen werden vorausgesetzt. Verhandlungssicheres Englisch sowie gute Italienisch- und Spanischkenntnisse runden das Profil des erfolgreichen Bewerbers ab. Bei Bewährung werden eine anspruchsvolle, eigenverantwortliche Tätigkeit im internationalen Umfeld und ein interessantes erfolgsabhängiges Gehalt in Aussicht gestellt.

Na, war das nichts? Hier trafen Angebot und Nachfrage wirklich optimal zusammen, nicht einmal die übliche Altersbeschränkung für Bewerber auf höchstens fünfunddreißig Jahre trübte das verheißungsvolle Bild. Oder der heute fast obligatorische Hinweis auf abgeleistete – unbezahlte – Praktika, die bei einem angepeilten Eintrittsalter von fünfunddreißig Jahren die Möglichkeit echter Berufserfahrungen erheblich einschränkten. Zu schön, um wahr zu sein? Die Sache musste irgendwo einen Haken haben, den es galt, herauszufinden, bevor man den point of no return, die Eigenkündigung beim Spediteur, erreicht hatte. Deshalb wollte Tom nichts überstürzen, seine Frau nicht mit „ungelegten Eiern“ beunruhigen und das Ganze nochmals gut überschlafen. So blieb die Zeitung an jenem Abend auf dem Rücksitz im Auto.

Bewusst bedächtig bewegte sich Tom in Richtung Zuhause: Es musste so aussehen, als ob er einen ganz gewöhnlichen, stressfreien und nicht besonders anregenden Tag hinter seinem Schreibtisch verbracht hätte. Er wollte nicht den Eindruck entstehen lassen, ihn würde gedanklich etwas sehr beschäftigen. Wie üblich klangen seine Schritte schwer wie Blei auf der Holztreppe, der Schwere seiner müden Augenlider entsprechend, die den ganzen Tag rastlos den Bildschirm in allen Richtungen durchsucht hatten, auf der Suche nach freien Kapazitäten in Containern, die mit den eingehenden Kundenaufträgen korrespondierten. Als Tom die Tür öffnete, strahlte er die zufriedene Gelassenheit des Rechtschaffenen aus. Martina würde keinen Verdacht schöpfen.

„Na, wie war es denn heute im Büro?“

Standardfrage.

„Na ja, die Auftragslage ist nicht gerade die beste, die Kunden wollen ihre Sachen immer nur dahin verfrachten, wohin wir keine Kapazitäten frei haben. Seit Wochen ist das so, nur komische Bewegungen…“

Fast Standardantwort.

„Hör mal zu, Ulla hat angerufen, sie und Heinz gehen am Sonntag zum Domkonzert. Ob wir Lust haben mitzugehen, danach was essen und ein Glas beim 'Michel'…“

„Klaro, schön, das machen wir!“

Die kleinen Freuden des bürgerlichen Lebens im regnerischen Mainzer Oktober blieben selten aus. Vielleicht war es auch gut so, so schön vorhersehbar. Ulla und Heinz waren auch nette Leute, na ja, richtige Freunde vielleicht nicht, aber wo gab es heute noch Freunde? Leeres Wort oder Bedarf an neuen Definitionen? Immerhin, die hatten immer etwas zu erzählen, unterbrachen einen nicht beim Reden und meldeten sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Tom freute sich auf den gemeinsamen Abend und fragte sich heimlich, wie sich das Leben gestalten würde, wenn er eines Tages ständig verreist wäre. Die sozialen Bindungen daheim würden dann wohl oft vom Mobiltelefon gestört werden oder mit den Terminen von wichtigen Geschäftstreffen in der großen weiten Welt konkurrieren.

Beim Abendessen versuchte Tom so zu wirken, wie er seit fünf Jahren wirkte: etwas gelangweilt, gesunde Müdigkeit in den Knochen, freundliche Anteilnahme am Berufsleben seiner Frau. Er selbst empfand sich an jenem Abend als unauffällig, aber Martina kamen viele seiner Bemerkungen so vor, als ob es sich um eine erzwungene Fassade handelte, ein Paar Brocken Gespräch, während er gedanklich ganz woanders war. Aber wo? Eine genaue Frage wollte und konnte sie nicht stellen, weil sie fürchtete, ihr Mann würde ihre Fragen als Bezichtigung auffassen. Männer ahnten ja selten, worauf eine Frau hinaus wollte, gingen gleich in die Defensive, spielten einen – womöglich gar nicht vorhandenen – Sturm im Wasserglas hoch. Nein, vielleicht hatte er nur ein Knöllchen verpasst bekommen oder Streit mit einem Kollegen gehabt und wollte nicht darüber reden. Ja, sehr wahrscheinlich ist es so etwas, dachte Martina, ich habe mich auch den ganzen Tag im Büro über diese Zicke von Chefin geärgert, aber das brauche ich ihm nicht unbedingt zu erzählen, denn er kann mir dabei beim besten Willen nicht helfen. Also – ihn nicht unnötig belasten, um selbst nicht unnötig belastet zu werden.

Anne Will rettete das Paar schließlich vor der Entscheidung über eine Aussprache. Will gegen Merkel, genau das richtige Spannungsverhältnis für den Abend. Martina hatte für die Kanzlerin nie etwas übrig gehabt, betrachtete sie als ideenlos und nur an Macht interessiert, während Tom sich dazu eher neutral verhielt und meinte, es sei besser, keine eigenen Ideen zu haben und auf den Partner in der Großen Koalition zu hören, als aus Überzeugung und Eigenliebe irgendwelche eigenen Spinnereien in die Tat umsetzen zu wollen.

Beim Zubettgehen dachte Tom insgeheim, dass Martina auf Angela vielleicht neidisch war, weil sich die Kanzlerin in einer Umgebung befand, in der sich Martina selbst gerne gesehen hätte. Mit ihm, Tom, war es ja auch nicht viel anders. Man musste ja nicht gleich Professor Sauer sein, aber ein paar Stufen höher als der nette Sachbearbeiter von nebenan wäre nicht schlecht gewesen. Martina würde eine künftige „große Entscheidung“ seinerseits sicher verstehen, immer vorausgesetzt, er würde vorher nicht doch noch einen bösen Haken an der Geschichte finden.

Um halb elf lag er im Bett, noch nicht schläfrig genug, um gleich weg zu dämmern, gerade noch ausreichend wach, um die in der Anzeige beschriebene Aufgabe von dem geistigen Auge einzublenden und sie auf mögliche Tücken abzuklopfen. Bis die Sandmännchen kamen.

Am Freitag schien wieder die Sonne, und als Tom frühmorgens ins Auto stieg, waren die Leute der Stadtwerke schon damit beschäftigt, das nasse Laub von der Fahrbahn zu kehren. Stau gleich vor dem Bahnhof, die FAZ lag noch immer sauber gefaltet auf dem Rücksitz und Tom las erneut den Text der Anzeige, die er inzwischen auswendig kannte und die er vor dem Einschlafen schließlich als harmlos eingestuft hatte. Eine echte Chance bekommt man selten geboten – wer zu spät kommt, den bestraft das Leben… Mist, aber auch nicht ein winziger Schönheitsfehler, nichts, was ihn veranlassen könnte, sich noch das Wochenende als Bedenkzeit zu nehmen. Jetzt bohrte die Anzeige, wie der Lauf eines Gewehres, ein Loch in seinen Rücken und sprach klar und deutlich zu ihm: „Siehst du, ich bin immer noch da, du hast ausgerechnet gestern die FAZ gekauft, wo du doch sonst immer die Rundschau liest. Ich bin immer noch da, habe die ganze Nacht auf dem Rücksitz deines biederen und veralteten Autos auf dich gewartet. Ich will dich vor Eintönigkeit, Langeweile und Kleinbürgertum bewahren. Die Mittelschicht wird verschwinden, entweder schnellst du jetzt gleich nach oben, oder du wirst eines Tages bei Hartz IV landen. Ich bin nicht die einzige dieser Anzeigen, wir Stellenanzeigen sind wie Personalberater: Wir suchen uns einen bestimmten Kreis von geeigneten Personen und flattern am richtigen Tag auf ihre Tische. Wenn du dich heute nicht meldest, dann tut es ein Anderer. Und dann ist deine Chance für immer verpufft!“ Der Druck in Toms Rücken ließ nach. Beim Bremsen fiel ein nasser Regenschirm auf die wortgewandte Zeitung. Tom hielt an einer Bushaltestelle an, holte das Blatt vom Rücksitz und legte es ins Trockene, auf den Beifahrerplatz. Ja, das war das Zeichen!

Zum Glück, zu seinem ganz persönlichen Glück, war sein Chef an jenem Freitag aus aktuellem Anlass verreist und die Auftragslage war besonders dünn. Vielleicht hatte die sprechende Anzeige doch recht gehabt und die Mittelschicht war eine bedrohte Tierart. Also entweder schnell nach oben oder – ab in den Abgrund!

Tom suchte seine Bewerbungsunterlagen heraus und stellte in aller Ruhe die typisch deutsche „Bewerbungsmappe“ für die internationale Herausforderung zusammen. Er war ganz sicher, dass es sich um die Chance seines Lebens handelte, zweifelte nur an seiner Ausbildung. Sein Lebenslauf entsprach zwar allen Anforderungen aus der Anzeige, aber was wäre gewesen, wenn sich jemand bewarb, der nicht nur Industriekaufmann, sondern auch Betriebswirt war? Und, wo es doch um Medikamente ging, wieso war es nicht erforderlich, dass man etwas davon verstand? Um Medikamente in der Apotheke zu verkaufen, brauchte man ein entsprechendes Studium, aber um den Weltmarkt mit denselben Medikamenten zu überfluten, reichte es dagegen, wenn man Kaufmann war? Anderseits, sinnierte Tom weiter, es wird wohl kaum so viele Bewerber geben, die fließend und verhandlungssicher nicht nur Englisch, sondern auch Italienisch und Spanisch beherrschen. In Wort und Schrift. Internationale Herausforderung hieß, dass man Fremdsprachen nicht nur bei einem Schnellkurs auf der VHS gelernt hatte. Da würden nicht viele mithalten können. Und was genau sollte „durchsetzungsfähig“ heißen? Na klar, jemand, der überzeugend argumentieren konnte. Oder eher „Blender“? Nö, einen Blender konnte man nicht einfach so auf Ärzte und Apotheker loslassen, die merkten sicher gleich, wessen Geistes Kind jemand war.

Vor der Mittagspause hatte Tom alle Unterlagen sauber zusammengestellt und zusammen mit Lebenslauf und Anschreiben eingetütet. Das Anschreiben hatte Tom nicht per Hand geschrieben, weil er seine Schrift nicht möglichen Grafologen zum Fraß vorwerfen wollte. Seine Ausdrucksweise hatte er absichtlich low profile gehalten, damit man nicht den Eindruck gewinnen sollte, er habe aus einem der unzähligen Ratgeber für Bewerber abgeschrieben. Er wollte sich also nicht „einer neuen Herausforderung in einem stimulierenden Wirkungskreis stellen“, sondern schlicht und ergreifend „eine berufliche Verbesserung herbeiführen und sich die Chance eröffnen, im internationalen Geschäft tätig zu sein“. Es war doch so, oder?

Die Anzeige in der FAZ wurde liebevoll ausgeschnitten und mehrfach fotokopiert, während Tom in Druckschrift die Adresse der Firma auf das Couvert schrieb:„Interpharma GmbH, Sandweg 18, 60316 Frankfurt/Main“.

Herrlich, im Falle einer Einstellung würde er nicht einmal umziehen müssen und Martina könnte bei ihrer Bank bleiben. Es sei denn, auch auf ihren Schreibtisch flatterte eines Tages die freundliche Stellenanzeige einer internationalen Großbank…

Als Tom zur Straßenbahnhaltestelle hasten wollte, um die Bewerbung rechtzeitig bei der Post aufzugeben, kam ihm Kollege Schlotte entgegen und begrüßte ihn aufs Herzlichste.

Mist, der hält mich jetzt auf, fluchte Tom im Stillen, und ich darf keine Zeit vertrödeln. Wenn die Bewerbung nicht mit der 14-Uhr-Post raus geht, dann macht ein Anderer das Rennen! Kaufleute gibt es wie Sand am Meer. Die werden die ersten fünf einladen und der Rest kriegt die Standardabsage!

Schlotte zeigte sein Sonntagsgesicht.

„Na, Herr Hausfeld! Kaum was zu tun heute und Sie den ganzen Tag fleißig hinterm Schreibtisch?“

Arschloch, der machte vielleicht Witze! Nur Haltung bewahren, nicht darauf eingehen…

„Ich habe die relative Ruhe genutzt, um den Schreibtisch aufzuräumen und etwas Ablage zu machen. Wenn Sie es gelegentlich auch tun würden, dann würde es bei Ihnen nicht wie auf dem Schlachtfeld aussehen“, grollte Tom.

Achselzucken.

„Mit Ordnung kann jeder klarkommen, nur ein Genie beherrscht das Chaos! Mahlzeit!“ Schlotte schlurfte weiter.

Tom drehte sich um und stellte fest, dass zwischen den Hosensäumen von Schlottes Jeans und seinen Slippern abwechselnd eine schwarze und eine blaue Socke hervorblitzten. Ein Genie, dieser Schlotte, wirklich wahr.

Tom stand allein an der Haltestelle. Die Straßenbahn ließ auf sich warten und Tom fasste noch einmal das Original der Anzeige in seiner Westentasche an, hielt es hoch, las es nochmals und flüsterte sich selbst zu: „Wenn ich die Stelle im internationalen Geschäft kriege, dann ist die Jeans nur fürs Wochenende – und immer schwarze Socken! Einer wie Schlotte hätte da keine Chance, ausgeschlossen!“

Als Tom auf der Post in der Schlange stand, klingelte sein Handy. Es war Martina, die vergessen hatte, ihm zu sagen, dass ihre Chefin – die „Zicke“ – an diesem Freitag Geburtstag hatte; die ganze Abteilung werde nach der Arbeit zum „Extrablatt“ am Schillerplatz gehen, um dort gemeinsam zu feiern. Es werde deshalb etwas später werden, bei solchen Feierlichkeiten wisse man nie so genau, wann man gehen dürfe. Im Klartext: „Denk selbst an dein Abendessen, ich kann für nichts garantieren!“

Tom, der sein Einschreiben inzwischen aufgegeben hatte, fand es gar nicht schlecht, den Abend frei zu haben, um die Nachricht der eingeleiteten „Wende“ so hübsch zu verpacken, dass sich auch seine Frau darüber freuen würde. Er musste es ihr letztendlich spätestens am Wochenende sagen, denn vielleicht konnte gleich am Montag ein Anruf von Interpharma mit einem Terminvorschlag kommen und er wollte nichts unter Zeitdruck erklären müssen. Besser alles im Vorfeld klären und sich am „Abend davor“ voll auf das kommende Gespräch – oder auf Anne Will – konzentrieren. Dann wirkte man beim Bewerbungsgespräch „gelassen und souverän“.

Auf dem Rückweg ins Büro dachte Tom, dass es doch nicht so gut wäre, den Abend allein zu verbringen – und ohne mindestens eine Person in sein Projekt einzuweihen. Die Wahl fiel auf seine Mutter, ein konservativer, auf Sicherheit bedachter Mensch. Sie hatte bis zur Pensionierung im gesicherten Beruf einer Lehrerin gearbeitet und betrachtete „Selbstständige“, die nicht bestimmten, traditionell freiberuflichen Berufsgruppen wie Ärzten, Ingenieuren oder Anwälten angehörten, mit äußerstem Misstrauen. Für Toms Mutter hatte eine „GmbH“ etwas Anrüchiges, die „beschränkte Haftung“ verstand sie als Weigerung einer solchen Firma, den eigenen Verbindlichkeiten nachzukommen. Bei Aktiengesellschaften empfand sie die Sache immerhin schon als etwas transparenter, da diese Unternehmen ihre Bilanzen offenlegen mussten und von Behörden, Presse und Aktionären mit Argusaugen beobachtet wurden. Tom überlegte sich, ob er seiner Mutter wirklich eröffnen wollte, dass er sich bei einer dieser berüchtigten GmbHs beworben hatte. Er hatte allerdings sonst keine große Auswahl an Menschen, denen er sein intimstes Geheimnis ohne Vorwarnung hätte anvertrauen können. Auf jeden Fall nahm er sich schon einmal fest vor, seinen Weg zu gehen, egal, was Mutter dazu sagen würde. Nur seine Frau hatte das Ve-to-Recht und seine Mutter sollte ihm eigentlich nur helfen, die Sache so zu präsentieren, dass Martina von diesem Recht keinen Gebrauch machte.

„Hallo, Mutti! Martina hat heute Abend eine Betriebsfeier und ich hatte noch kein Abendbrot. Wollen wir zusammen was essen?“

Natürlich wollte sie. Es war die unverhoffte Chance, ihren Sohn einmal außerplanmäßig ganz für sich zu haben. Toms Mutter war mit ihren zweiundsiebzig Jahren noch sehr fit, völlig selbstständig und lebensbejahend, so dass sie abends auch gerne ausging. Da der älteren Dame exotische Lokale ebenso suspekt waren wie nicht haftende Gesellschafter, war der „Augustinerkeller“ die denkbar beste Wahl. Tom parkte das Auto in der Tiefgarage am Schillerplatz und ging ganz beiläufig am „Extrablatt“ vorbei. Nicht, dass er Martina nicht vertraute, aber er war neugierig zu sehen, wie ihre Kollegenschaft, die Martinas Erzählungen nach zwar innerlich zerstritten, aber äußerlich mit einem geheuchelten Dauerlächeln maskiert war, sich bei einer fast privaten Fete auf neutralem Gebiet verhielt. Tom öffnete die Tür des Lokals einen Spalt weit und sah seine Frau inmitten von liebenswürdigen Kollegen und überfreundlichen Chefs und Chefinnen, wovon eine unübersehbar das Geburtstagskind war. „Zum Geburtstag viel Glück!“, tönte es mit tiefer Inbrunst. Martina stand in der ersten Reihe und gab mit ihrer hellen Stimme den Ton an. Die Inszenierung war perfekt, überzeugend. Nachdenklich schloss Tom die Tür. Es schien also sehr wichtig zu sein, dass er beim entscheidenden Gespräch gleich einfließen ließ, dass man trotz Stellenwechsel in Mainz wohnen bliebe (was später vielleicht passierte, stand in den Sternen, und es wäre unklug, gleich die Pferde scheu zu machen).

Die letzten Vertreter der arbeitenden Bevölkerung liefen hastig durch die Augustinerstraße, während das jugendliche Volk des Freitagabends bereits die Fußgängerzone für sich in Anspruch nahm. Zwei Burschen trugen einen Kasten Bier quer über die Straße in eine Seitengasse, aus der man deutlich die ersten Anzeichen einer Party vernehmen konnte. Der Kasten würde für die Zeit bis zu den frühen Morgenstunden nicht ausreichen, davon war Tom fest überzeugt. Der abendliche Nieselregen störte nur die, die schleunigst nach Hause wollten, während das fröhliche Völkchen, das eine noch junge, feuchtfröhliche Nacht vor sich hatte, kaum Notiz davon nahm und nicht im Entferntesten daran dachte, wegen der paar Tropfen Trübsal zu blasen. Man würde unter Kumpeln in einer geschlossenen Wohnung feiern und erst zu später Stunde die Fenster zum Lüften öffnen.

Mutti saß schon an einem der kleinen Tische in der Diele des Wirtshauses und hatte ihren Mantel noch an, denn sie war zu Fuß in den Regen gekommen und wollte sich nicht erkälten. Noch hatte sie nichts bestellt, wohl wissend, dass sie wie üblich zu früh angekommen war, während sie vom Sohnemann eine solche Überpünktlichkeit nicht zu erwarten hatte. Er war schließlich ein vielbeschäftigter Mann und konnte keine kostbare Zeit vertrödeln. Sein größtes Geschenk war schon die Bereitschaft gewesen, mit ihr ausgerechnet am Freitag essen zu gehen.

Mit entspanntem Gesicht betrat Tom das Lokal und sah sofort, dass seine Mutter, wie er es vermutet hatte, bereits auf ihn wartete. Sie bestellten und schon während der kurzen Wartezeit ließ Tom die Katze aus dem Sack.

„Du hast es sicher nicht geahnt, aber mit der Zeit ist es mir in meiner Firma zu eng geworden. Kaum Aussicht auf Beförderung, die Arbeit, am Anfang ganz interessant, ist jetzt recht eintönig geworden, die Auftragslage seit Monaten rückläufig…“

Mutti runzelte die Stirn und schaute ihm skeptisch in die Augen.

„Willst du damit sagen, dass die Firma gefährdet ist?“

„Ach, so direkt würde ich es nicht sagen, aber man hört schon Einiges über Traditionsfirmen, die von diesen Globalisierern in die Pleite getrieben werden…“

Mutti lehnte sich triumphierend zurück und setzte ihre Lesebrille auf.

„Hättest du auf mich und auf deinen Vater selig gehört, dann wärst du in den öffentlichen Dienst gegangen oder Arzt geworden. Verstehst du, der Staat, den wird es immer geben, und Ärzte wird man auch immer brauchen. Die Bevölkerung wird immer älter! Wenn ich mal zum Facharzt muss, dann kriege erst in drei Wochen einen Termin… Mangelberuf, so sagt man heute, nicht wahr? Und du in dieser kleinen Klitsche, von den Launen irgendwelcher Ganoven abhängig… Ja, ja, heute kann sich jeder Unternehmer nennen, nimmt Kredite, macht irgendeinen Laden auf, Pleite, drei Finger hoch, dann über einen Bekannten eine neue Firma – und die Belegschaft bleibt auf der Strecke!“ Das Gespräch hatte eine gefährliche Wendung genommen. Ein Boomerang hatte sich im Mund der Mutter materialisiert.

Die beiden Hirschsteaks mit Klößen und Rotkohl und die Karaffe mit einem halben Liter Spätburgunder kamen auf den Tisch. Verschnaufpause. Prost!

„Mutti, im Prinzip hast du recht, aber wir müssen mit dem leben, was wir haben. Jammern bringt mich nicht weiter. Deshalb hatte ich gedacht, wenn das Konzept eines traditionellen Logistikunternehmens nicht mehr so aktuell ist, wenn wir von den neuen, global agierenden Firmen abhängig sind, wäre es dann nicht besser, sich auf die Seite der Erneuerer zu schlagen – aktiv statt passiv, selbst bestimmen und nicht warten, dass andere Leute über unsere Zukunft verfügen?“

„Konkret heißt das?“

„Ich habe mich bei einer Firma in Frankfurt beworben. Import-Export und Vertrieb von Medikamenten. Irgendwie hattet ihr schon recht, Vater und du, die Medizin ist eine sichere Sache, überall in Europa werden die älteren Menschen immer mehr.“

„Und was willst du dort machen? Und wie groß sind die eigentlich? Und der Name der Firma wäre?“

Frau Lehrerin prüfte ihren Zögling mit erhobenem Zeigefinger und bohrte erbarmungslos in den Wunden einer noch unzureichenden Kenntnis der Sachlage.

„Die Firma heißt Interpharma, klar, Import und Export, könnte auch für Internationalität stehen, ist relativ neu und will expandieren. Gesucht wird ein Exportleiter.“

„'Inter' erinnert mich an Intershop, kein gutes Vorzeichen, bestenfalls ein Mangel an Fantasie. 'Relativ neu' ist ein schwammiger Begriff, wann wurden die gegründet? Hast du auch eine Vorstellung von ihren Produkten und vom Umfang des Geschäftes? Sind es Millionen, Milliarden oder, na, Pfennige oder, schlimmer, nur Schuldscheine? Bevor man das Alte verlässt, sollte man über das Neue bestens im Bild sein. Recherchier doch Interpharma mal auf Google und frage bei der Handelskammer nach. Machen, nicht nur träumen!“

Toms Mutter trank das halb volle Weinglas auf ex, wünschte ihrem Sohn „Mahlzeit“ und fing zu essen an.

Ja, Mutti hatte ihn da auf gute Ideen gebracht, die er in seiner Begeisterung völlig vernachlässigt hatte. Unbedingt nachholen! Am Wochenende würde Martina bestimmt einkaufen gehen und dann konnte er sich die Zeit nehmen, um unauffällig „Interpharma“ zu googeln.

„Mutti, ich habe die Bewerbung erst heute abgeschickt und bin nach wie vor beim Logistiker angestellt. Ist doch noch nichts passiert! Ich hatte sowieso vor, mich zu erkundigen, bevor ich, wenn Gott will, zum Vorstellungsgespräch eingeladen werde. Ich hatte übrigens noch vergessen dir zu sagen, dass die jemanden suchen, der fließend Italienisch und Spanisch kann. Mit meinen acht Jahren in Italien habe ich einen Riesenvorsprung, und es war schon richtig von euch, darauf zu drängen, dass ich ordentlich Spanisch lerne, nicht nur den Fachjargon für die Logistik.“

Mutti hörte jetzt kaum noch zu, weil sie mit einem Stückchen Fleisch zwischen den Zähnen beschäftigt war, das sie krampfhaft versuchte, mit der Zunge aus seiner Gefangenschaft zu befreien. Es war ja schon ganz gut, dass sie sich nicht gleich gegen das ganze Vorhaben gewehrt hatte. Wer fragt, der zeigt auch Interesse, genau so wie es in den vielen Zeitungsartikeln über die erfolgreichen Bewerbungsstrategien stand: Sich vorbereiten, genaue Fragen stellen, Interesse für die Firma zeigen. Mutti plus Zeitungen konnten sich nicht irren.

Mutti hatte inzwischen verstanden, dass ihr Sohn sie schon in einem sehr frühen Stadium in sein Projekt einweihen wollte und fühlte sich von diesem unerwarteten Vertrauensbeweis geschmeichelt. Im Prinzip war der Unterschied zwischen der alten und der neuen Firma nicht sehr groß. Es ging nur um Kündigungsschutz und Probezeit. Beide Firmen waren GmbHs, beide privat, eine davon war angeblich von der Konjunktur gefährdet, von der anderen wusste man noch nichts, aber allein die Tatsache, dass man Personal einstellen wollte, war ein Zeichen, dass sie nicht unmittelbar vor dem Konkurs stand.

„Tom, mach, was du willst, aber pass ja nur auf dich auf! Frage, frage und nochmals: frage! Auch auf die Gefahr hin, penetrant zu wirken. Wir reden wieder darüber, wenn du mehr weißt, wenn du dir angeschaut hast, ob der Laden eine Bruchbude oder ein anständiges Büro ist.“

Es war doch kein Fehler gewesen, Mutti als Erste in das neue Projekt einzuweihen. Mit sich selbst zufrieden und voller Tatendrang winkte Tom seiner Mutter zu, als sie in den Bus nach Weisenau eingestiegen war, und ging im Nieselregen zur Tiefgarage. Beim „Extrablatt“ war es dunkel, die Feier war offensichtlich beendet und Martina würde zu Hause auf ihn warten.

„Die Zicke! Die halte ich nicht mehr aus, die kann mich mal!“

Soweit Martinas Wort zum Samstag.

„Wir waren alle freundlich zu ihr, haben ihr zum Geburtstag gratuliert, im Chor für sie gesungen – und dann kam das dicke Ende. Ich soll in Zukunft abends länger bleiben, wenn ich das Pensum nicht schaffe, Ulla soll nicht so oft privat telefonieren, Frankie soll sich endlich die Hemden sauber bügeln lassen und etwas mehr Körperpflege wäre auch kein Fehler. Wenn nicht alles sofort geschieht, dann meldet sie der Personalabteilung, dass wir ein Sauhaufen sind, und dann werden wir die Konsequenzen hautnah zu spüren kriegen. Blödes Geschäft, diese Bank, eintönig bis zum Geht-nicht-mehr und obendrein dieser Psychopathin ausgeliefert. Nur weil sie es mit dem Jungen im Vorstand treibt, glaubt sie, in anderen Dimensionen zu schweben. Fünfzig ist sie und er keine Vierzig, verheiratet, zwei Kinder. Dass seine Frau nicht merkt, dass die 'Zicke' ständig um ihren Mann herum ist, dass sie Geschäftsreisen zu zweit erfinden, um sich ein paar schöne Tage zu machen? Ist das Allerletzte, Geschäftsreisen für eine kleine Bankfiliale! Aber die blöde Kuh von Ehefrau schluckt alles und er lässt die 'Zicke' gewähren! Ja, Wechseljahre, die schlagen bei der aber ganz ordentlich zu!“

Tom war sprachlos, beim frühabendlichen Blick ins „Extrablatt“ hatte er nur Frieden, Freude, Eierkuchen gesehen. Schauspielern konnten die, aber prächtig! Jetzt fragte er sich, wie er zu später Stunde noch eine schlaflose und unruhige Nacht abwenden konnte. Alkohol und / oder Tabletten konnte er Martina nicht verpassen, in ihrem gegenwärtigen Zustand hätte die Chemie für eine böse Überraschung sorgen können, sofern sie das Zeug überhaupt genommen hätte. Wohl wissend, dass aufgeregte Frauen keine guten Gesprächspartner abgeben, versuchte er den Weg der verbalen Beschwichtigung.

„Das tut mir aber wirklich Leid! Die 'Zicke' wird wohl einen besonders schlechten Tag gehabt haben, du hattest dich lange nicht mehr über sie beschwert…“

„Ach, sei doch still, du Klugscheißer! Was weißt du denn von meinem Alltag im Büro? Sie ist allein in ihrem Zimmer, ich gehe rein – und nichts, sie behandelt mich wie Luft. Was soll ich da groß klagen? Alles nicht greifbar, dicke Luft, dann freundliches Lächeln. Und ausgerechnet dir soll ich von Atmosphären, von Gefühlen, von inneren Verletzungen was erzählen? Sei bloß ruhig, ich habe jetzt noch zu tun!“

Um Mitternacht holte Martina den dicken Staubsauger aus dem Schrank und machte sich hektisch ans Werk. Dabei ließ sie keine Zurufe, keine Einwände gelten, sie saugte den Staub auf und stellte sich dabei vor, sie würde mit dem ganzen Dreck die „Zicke“ aufsaugen. Die „Zicke“, die wie ein Damoklesschwert über dem ansonsten glücklichen Paar schwebte, weil sie jederzeit in der Lage war, Pläne zu zerschlagen und für Unruhe zu sorgen. Tom hatte mit der Zeit gelernt, dass in solchen Lebenslagen sachliche – zumindest für ihn sachliche – Diskussionen so ziemlich das Letzte waren, was eine positive Wende herbeiführen konnte, und ließ Martina daher in aller Ruhe staubsaugen. Ihm dämmerte nur, dass eine solche Stimmung nicht das Wahre war, um am Sonntag ein ernsthaftes Gespräch über Zukunftspläne zu führen.

Tatsächlich führte die nächtliche körperliche Arbeit bei Martina zu einer gewissen Entspannung, sie hatte sich richtig abreagiert und war müde. Zu müde, um andere Kriegsschauplätze zu suchen. Die Nacht zum Wochenende konnte in einer erträglichen Stimmung beginnen.

Am Sonnabend wachte Martina munter und voller Tatendrang auf, verfasste ihren Einkaufszettel, stieg ins Auto und fuhr zu „Real“, um den Bedarf für die kommende Woche einzukaufen. Tom, den schon beim Aufwachen schlimme Kopfschmerzen plagten, gab sich einen Ruck, denn er begriff, dass er die Gunst der einsamen Stunde nutzen musste, ging an den PC und googelte fleißig „Interpharma“.

O Wunder! Der Firmenname war alles andere als originell, sogar der schweizerische Verband der pharmazeutischen Industrie hieß so, wie auch eine Vielzahl von anderen, auf der ganzen Welt verstreuten Firmen. Nur jegliche Eintragung über eine „Interpharma“ in Frankfurt fehlte. Tom versuchte, sich selbst einzureden, dass es sich wahrscheinlich um eine neue Firma handelte, die andere Prioritäten setzte als das Pflegen von Internet-Beziehungen. Ja, schon möglich, aber nicht gerade logisch, wenn man gerade dabei war, ein internationales Handelsnetz auf die Beine zu stellen. Sollte man ihn zum Vorstellungsgespräch einladen, dann würde er unvorbereitet antanzen. Aber nicht nur er, auch seine Mitbewerber würden keine Möglichkeit der vorherigen Auskunft haben. Vor Google waren alle Menschen gleich.

Da Martina immer noch gut gelaunt war, als sie vom Einkaufen zurückkam, wartete Tom, bis sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, und sprach sein Projekt dann direkt an. Als Einstieg benutzte er die Unsicherheit seines bisherigen Arbeitsplatzes beim Spediteur, die anhand des aktuellen Auftragsrückgangs greifbar geworden war. Er stieß auf offene Ohren, auch Martina war reif für eine Veränderung. Nach dem schlimmen Erlebnis des Vorabends war sie nicht einmal wählerisch in dieser Hinsicht. Bloß weg, eine Wende, ein neuer Anfang!

Das Wochenende war gerettet. Außerdem stand der Konzertbesuch mit anschließendem Schoppen mit Ulla und Heinz zusammen an. Beide freuten sich darauf. Tom hoffte, dass Ulla, eine Arbeitskollegin Martinas, die auf der Betriebsfeier ebenfalls von der „Zicke“ angeschnauzt worden war, auch schon die nötige Distanz zum Ausklang der Feier gewonnen hatte.

Am Sonntagnachmittag glich die Ludwigsstraße der Hauptstraße einer Geisterstadt. Um vier Uhr dämmerte es schon und der Nieselregen hatte die Unternehmungslust all derer gedämpft, die noch nichts Festes geplant hatten. Man konnte fast mit Sicherheit davon ausgehen, dass die wenigen Passanten alle zum Domkonzert wollten. Ulla und Heinz warteten schon vor dem Dom unter ihrem Regenschirm, schauten sich die Auslagen der Dom-Buchhandlung an und erfreuten sich an der Ansicht sonnendurchfluteter Landschaften im Süden. An einem regnerischen Nachmittag im rheinischen Oktober eine erbauende Beschäftigung, der sich Martina und Tom gleich anschlossen. Dabei liebäugelte Tom mit bunten Bildbändern über Italien und Spanien. Augenzwinkernd flüsterte er Martina zu: „Wenn Gott will, bin ich auch bald oft dort!“ Sie hatten sich entschlossen, kein Wort über den angedachten Firmenwechsel verlauten zu lassen, man wusste schließlich nie, wie weit sich ein Gerücht verbreiten konnte, und der Ausgang der Aktion war noch in höchstem Maße ungewiss. Martina nickte.

Sie betraten den Dom und nahmen Platz. Es wurde Mozarts Requiem gespielt. Dabei dachte Tom ununterbrochen an seine Chancen, zum entscheidenden Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Er würde mit der Gelassenheit des Erfolgsverwöhnten hingehen, jetzt, nachdem er sich der uneingeschränkten Unterstützung seiner Frau sicher wusste. Sein privates Geheimnis war reibungslos zum gemeinsamen Geheimnis avanciert, zu einer höheren Stufe der Realisierbarkeit. Martina und Ulla ließ ihre körperliche Nähe zueinander ständig an die „Zicke“ und deren versteckte Drohungen denken, während Heinz der einzige war, der der Musik aufmerksam zuhörte und sich gelegentlich über die für ihn unerklärlichen Zuckungen in den Gesichtern der beiden Damen wunderte. Er deutete es Tom mit kleinen, fragenden Handbewegungen an. Ob er mehr wusste?

Ulla hatte nichts von der misslungenen Betriebsfeier erzählt, um Heinz am Wochenende nicht unnötig mit Kram zu belasten, bei dem er ihr mit Sicherheit nicht helfen konnte. Die Zeit würde die Wogen schon glätten, hatte sie gedacht.

Endlich zogen die tiefen Töne des Dies Irae die ganze Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich und vereinnahmten die abschweifenden Gemüter vollends, bis das Konzert zuende war. Viele der Dombesucher hatten sich die Weinlokale in der Altstadt als Ziel gesetzt, um anschließend das graue Wochenende mit einem schmackhaften Gericht und einem guten Wein ausklingen zu lassen. Hätten die vier bei „Michel“ nicht einen Tisch im Voraus reserviert, sie hätten keinen Platz gefunden.

Worüber konnte man an einem verregneten Herbstsonntag reden, um die miese Stimmung einer trostlos grauen Stadt zu vertreiben? Der nächste Urlaub bot sich als Gesprächsthema geradezu an.

Ulla und Heinz wollten unbedingt in die Sonne, in den Süden, zu der wunderbar legeren Lebensart der Mittelmeer-Anwohner. Heinz hatte in den Katalogen eine hübsche, preisgünstige Pension in Giardini Naxos bei Taormina auf Sizilien entdeckt, während Ulla gerne wieder nach Ibiza geflogen wäre, wo sie den letzten Urlaub verbracht hatten, der beiden noch in guter Erinnerung war. Ein Hauch von Absage an das biedere Bürgertum, sich als späte Hippies mit zerfransten Jeans in einer internationalen Menge durch das Gedränge der engen Gassen treiben und sich wie in der Studentenzeit bis in die frühen Morgenstunden von bestialisch lauter Musik im Pacha beschallen lassen. Dann der Schönheitsschlaf und das Langschläferfrühstück. Das Kind konnte im Club währenddessen sicher und vergnüglich geparkt werden.

„Ulla, das hatten wir schon mal… Ich würde mir lieber was Neues anschauen. Sizilien soll wunderschön sein. Mit einem Mietwagen zwischen Orangenhainen und Kaktusfeigen gemütlich herum kurven, am Abend vor der roten Sonne ein Sprung ins Meer…“

„Auf Sizilien gibt es die Mafia und wir haben ein Kind…“, warf Ulla vorsichtig ein. „Ja, Ulla, und auf Capri gibt es die Capri-Fischer und in Rom die Gladiatoren!“

Tom, der sich in Italien gut auskannte und die Hoffnung hegte, seine diesbezüglichen Erfahrungen in naher Zukunft zu intensivieren, fühlte sich verpflichtet, die Sachlage zu klären:

„Heinz hat recht, die Mafia bekommt ihr als Touristen nicht zu Gesicht. Da die ehrenwerte Gesellschaft erhebliche Summen in Hotelanlagen investiert hat, ist es nicht in ihrem Interesse, dass Touristen etwas zustößt. Das 'Spiegel'-Bild mit Spaghetti und Pistole hat die Mafia ganz und gar nicht gemocht. Die Urlauber sollen kommen, ihr Geld brav in den Hotelburgen lassen und von Taschendieben und Räubern verschont bleiben. Sonst spricht sich gleich herum, dass Sizilien ein gefährliches Pflaster ist, und die Mafia-Hotels bleiben leer. Die Mafia ist dort besser als die Polizei!“

Jetzt standen Sizilien und Ibiza 1:1. Eckstoß für Sizilien seitens Ulla, die jetzt richtig neugierig auf die Mafia geworden war:

„Sag mal, und wenn jemand die Mafia wirklich sehen will, erleben meine ich, wo soll er dann hingehen?“

„Im Normalfall erlebt ein Tourist gar nichts. Die Mafia lebt vom großen Geschäft, von öffentlichen Aufträgen, Bauvorhaben, Geldwäsche, Parteispenden, vermutlich auch Waffenhandel, Drogen und Prostitution.“

„Ja, schon, aber dann kommt der Privatmann nie mit ihr in Berührung?“

„Die Mafia schaltet sich sofort ein, wenn jemand eine nicht zu kleine gewerbliche Tätigkeit aufnimmt. Wenn du schnell was von denen sehen willst, dann solltest du eine Baugenehmigung beantragen. Dann merkst du gleich, wie die Aasgeier völlig unverdächtig hinter dem Schreibtisch einer Behörde sitzen, sich zum Kaffee in eine Bar einladen lassen und dort auf gewisse kodierte Fragen warten, um sie ebenso kodiert zu beantworten. Wenn du ihre Geheimsprache nicht verstehst, dann hast du gleich schlechte Karten. Würdest du mit jemandem pokern, der die Spielregeln nicht kennt?“

Die erste Halbzeit hatte sich zu Gunsten des Urlaubs auf Sizilien entschieden, Ullas Neugierde war nicht mehr zu zähmen. Nachdem man die Urlaubspläne der einen Familie besprochen hatte, kamen Martinas und Toms Ferien an die Reihe. Inzwischen waren die „Hausplatte“ und eine Flasche Riesling auf dem Tisch gelandet. Die Hausplatte wurde sorgfältig aufgeteilt, während Heinz die Gläser füllte und gleich bemerkte, dass es bei der einen Flasche nicht bleiben werde. „Blut- und Leberwurst müssen schwimmen und nicht als trockene Brocken im Halse stecken bleiben!“

In sehr kurzer Zeit hatten sich Martina und Tom innerlich auf das bevorstehende Abenteuer mit der neuen Firma eingestellt und dabei den Boden der Realität fast verlassen. Interpharma, das weltweite Geschäft, das viele Geld und nicht zuletzt auch die Palmen im Süden waren nicht mehr nur eine Chance, all das war in ihren Vorstellungen bereits Wirklichkeit geworden, eine Wirklichkeit, mit der man sich auseinandersetzen musste, an die ihre gesamte Zukunftsplanung angepasst wurde. Unter solchen Umständen waren Urlaubspläne in weite Ferne gerückt. Für Martina gab es im nächsten Jahr einen einzigen Fixpunkt: Sie würde ihre Eltern im thüringischen Altenburg wieder einmal besuchen. Eine Woche, zur Not auch allein, war bestimmt drin, selbst bei einem Firmenwechsel.

„Fürs nächste Jahr haben wir noch nichts Bestimmtes vor. Wir hatten nur schon lange meinen Eltern einen Besuch in Thüringen versprochen, dabei bleibt es auf alle Fälle.“

„Und wo wollt ihr dann Sonne tanken?“, fragte ein fassungsloser Heinz.

Die Antwort hätten Martina und Tom schon parat gehabt, und zwar unisono, aber die Abmachung, die ungelegten Eier als Verschlusssache zu behandeln, galt. Man würde sich das mit der Sonne später überlegen, meinte Tom, last minute sei oft gut und preiswert.

Das Grüppchen zahlte und verließ das Gasthaus. Es regnete nicht mehr und die letzten Reste des Wochenendes lagen auf dem nassen Pflaster herum.

2. Ein Ruf aus der Ferne

Dr. Knut Korting konnte im Bett keine Ruhe finden. Obwohl die erste Nacht des Sommers noch frühlingshaft frisch war, hatte er die ganze Nacht geschwitzt, war mehrmals aufgestanden, hatte eine Flasche Selters geleert, sich wieder hingelegt und im Bett hin und her gewälzt. Um fünf stand er endgültig auf. Draußen war es schon hell. Er zog seinen Morgenrock an und ging auf den Balkon, von wo aus er die Einfahrt zur Doppelgarage seines Hauses am Waldrand von Falkenstein sehen konnte. Er versuchte, sich am Anblick seines Anwesens zu erfreuen, sich als stolzer Besitzer jenes gediegenen Hauses mit dem großen Garten in bester Taunus-Lage zu fühlen, als ihm erneut einfiel, dass die Liegenschaft, in der auch seine GmbH ihren Geschäftssitz hatte, größtenteils der Bank gehörte. Die Raten waren hoch und er hätte sie niemals ohne die erdrückende Hilfe seiner willensstarken Ehefrau Petra bezahlen können. Der Gedanke, dass Petra die ganze Nacht geschäftlich unterwegs gewesen war, Geschäfte betrieben hatte, über die sie ihn nur andeutungsweise informierte, und schließlich, wie es nicht allzu selten vorkam, frühmorgens noch nicht zu Hause war, hatte ihn die ganze Nacht belastet und konnte nicht einmal vom taufrischen Duft der Blumen im Garten übertönt werden.

Vor zwei Jahren, schon Ende Fünfzig, war er auf den Vorschlag der damals fünfunddreißigjährigen, bildhübschen Petra eingegangen, seine sichere Karriere in der klinischen Forschung bei einer pharmazeutischen Firma im Rheinland aufzugeben, um mit ihr eine neue, gemeinsame Existenz als Selbstständiger in der Nähe von Frankfurt aufzubauen. Er hatte sich nicht im Entferntesten vorgestellt, dass er dabei nicht nur das Bundesland und den gewohnten Arbeitsablauf wechseln würde, sondern auch den gesamten Lebensstil und den gesellschaftlichen Umgang, was ihn ungleich stärker belastete als das Ausbleiben eines gesicherten Monatsgehalts.