Zum Thema Zen-Buddhismus ist in den letzten Jahren eine Fülle von Büchern, Artikeln, Videos und verschiedenartigen Schriften erschienen – und die Tendenz ist steigend. Ein Suchlauf zu diesem Begriff mit der Internet-Suchmaschine Google ergab im April 2010 über 1,5 Millionen Treffer! Die Angebote decken ein breites Spektrum ab: Neben authentischen Texten findet man mythische Verklärungen, ideologische Streitschriften, hysterische Überzeichnungen und populistische Medienprodukte. Sinnlose Paradoxien sollen manchmal den Eindruck von tiefgründigen Kōans erwecken, sind aber nur wirre Aussagen und ohne buddhistische Bedeutung. Die Faszination des Zen-Buddhismus scheint ungebrochen und erzeugt eine verwirrende Vielfalt von authentischen und nicht authentischen Aussagen. Aber was ist der authentische Zen-Buddhismus jenseits von mythischen Romantisierungen und ideologischen Behauptungen? Wie kann man in der Flut der Veröffentlichungen erkennen und herausfiltern, was tatsächlich von Wert ist?
Wir befinden uns heute in der glücklichen Lage, auf wirklich verlässliche und authentische Zen-Dokumente zurückgreifen zu können: Eine umfassende, tiefgründige und absolut zuverlässige Beschreibung des chinesischen und japanischen Zen-Buddhismus bieten dabei die Werke von Meister Dōgen. Diese Einschätzung ist in der Fachwelt völlig unbestritten. Hier möchte ich vor allem Dōgens Hauptwerk Shōbōgenzō, »Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges«, hervorheben. Es ist das kaum zu überschätzende Verdienst des lebenden großen Zen-Meisters und meines Lehrers Nishijima Roshi, dass er die in altjapanisch verfassten Schriften Meister Dōgens zunächst in das moderne Japanisch übertragen und dann zusammen mit westlichen Schülern in die Sprachen Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch übersetzt hat. Ich habe selbst viele Jahre an der deutschen Übersetzung des Shōbōgenzō mitarbeiten können. Über 40 Jahre lang hat Nishijima Roshi intensiv diese oft schwierig zu verstehenden Schriften Meister Dōgens studiert. Er erzählte mir einmal in einem persönlichen Gespräch, dass er »viele Meter von Kommentaren« beiseitegelegt habe, um durch das gründliche eigene Studium authentische zentrale Texte von Dōgens Lehre herauszuarbeiten. Dadurch stehen uns jetzt die originalen Schriften übersetzt zur Verfügung – ein Schatz von größtem Wert.
Nishijima Roshi hat außerdem in zwei kürzlich erschienenen Büchern seine umfassenden Kenntnisse und tiefen Erfahrungen des Zen-Buddhismus veröffentlicht: Begegnung mit dem wahren Drachen und Aus meinem Leben, Wirklichkeit und Buddhismus. Es war mir eine Freude, diese Bände ins Deutsche zu übertragen.
Das große Werk Shōbōgenzō besteht aus 95 Kapiteln, die authentisch erhalten sind und von Dōgen auch als Dharma-Reden vor Mönchen und Laien gehalten wurden. Sie beschreiben den Zen-Buddhismus, den Dōgen selbst nach seiner Ausbildung in Japan auf seiner Chinareise am Anfang des 13. Jahrhunderts, also am Ende des goldenen Zeitalters des Zen, praktisch und theoretisch erfahren hatte.
Als er aus China zurückkam, verfasste er zunächst eine Schilderung der Zazen-Praxis (Fukan zazengi), deren erste Version im Jahr 1227 entstanden ist. Diesen Text hat Dōgen vermutlich über viele Jahre hinweg immer weiter verbessert und verfeinert. Die Zazen-Praxis hatte er selbst erst in China kennengelernt, weil sie zu seiner Zeit in Japan in der Form des Shikantaza, das er selbst als »Fallenlassen von Körper und Geist« beschreibt, noch unbekannt war.
Der Stellenwert Dōgens für den ostasiatischen Buddhismus und für die gesamte Weltkultur der Gegenwart kann kaum überschätzt werden. Aber es ist nicht einfach, die schwierigen und miteinander vielfach vernetzten Kapitel und Themen des Shōbōgenzō zu »verstehen« und für sich selbst zu erarbeiten. Ich hatte das große Glück, Nishijima Roshi persönlich kennenzulernen, wurde sein Schüler und konnte mich bei der Bearbeitung der deutschen Fassung Schritt für Schritt in dieses monumentale und umfassende buddhistische Werk einarbeiten. Der gesamte Prozess der Einarbeitung dauerte etwa 15 Jahre, nachdem ich bereits mehrere Jahrzehnte den Buddhismus praktisch und theoretisch studiert hatte. Kürzlich sind die von mir verfassten drei Bände mit dem Titel ZEN Schatzkammer, Einführung in Dogens Shobogenzo erschienen, in denen ich versucht habe, alle 95 Kapitel in einer verständlichen Sprache zu beschreiben. Damit wollen Nishijima Roshi und ich das Shōbōgenzō für einen größeren Kreis von Interessierten zugänglich machen.
Mit dem hiermit vorgelegten Buch möchten wir neben dieser Einführung und den Originaltexten eine neue vertiefte Ebene für zwei ausgewählte Kapitel des Shōbōgenzō erschließen. Diese wurden in den Jahren 1231 und 1233 von Dōgen verfasst.
Ich habe mich entschlossen, das im Shōbōgenzō an dritter Stelle aufgeführte Kapitel »Das verwirklichte Leben und Universum« (Genjō-kōan) im ersten Teil des Buches darzustellen. Es enthält die wesentlichen Eckpunkte der Zen-buddhistischen Lehre und ist zweifellos die unverzichtbare Grundlage für das vertiefte Studium des gesamten Shōbōgenzō. Die zentrale Bedeutung dieses Kapitels wird auch von Nishijima Roshi immer wieder betont und ist in der Fachwelt des Zen-Buddhismus unbestritten.
Der zweite Teil ist dem Kapitel »Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit« (Bendōwa) gewidmet. Neben theoretischen Ausführungen, die das Kapitel Genjō-kōan ergänzen, zeichnet es sich durch eine umfangreiche Beschreibung und Auseinandersetzung mit der damals neuen Praxis des Zazen aus. In Form eines fiktiven Gesprächs mit einem durchaus kritisch fragenden Partner werden nicht zuletzt die Argumente gegen die neue Zazen-Praxis aufgeführt und von Dōgen fundiert beantwortet und richtiggestellt.
Nishijima Roshi hat in seinem Internet-Blog in den Jahren 2007 und 2008 mehrere Kapitel des Shōbōgenzō in Englisch und Deutsch behandelt, indem er die wesentlichen Textteile der entsprechenden Kapitel zitierte, sie auf ihre Kernaussagen zurückführte und kommentierte. Aufgrund seiner langjährigen Arbeit an diesem Werk ist er wie kein anderer berufen, die Kernpunkte des Shōbōgenzō weltweit vorzustellen. Auf diese Arbeiten habe ich gern zurückgegriffen, indem ich in diesem Buch alle von Nishijima Roshi ausgewählten Zitate aus den betreffenden Kapiteln wiedergegeben und seine aussagekräftigen Kommentare hinzugefügt habe. Zugunsten der Einheitlichkeit habe ich dabei grundsätzlich die englische Fassung des Shōbōgenzō verwendet und die jeweiligen Texte neu ins Deutsche übersetzt.
Bei den Zitaten habe ich mich hinsichtlich der Schreibweise spezieller Begriffe an der englischen Fassung des Shōbōgenzō von Nishijima und Cross orientiert und zwischen die Worte dann Bindestriche gesetzt, wenn die untrennbare Einheit der Bedeutung zweier Begriffe zum Ausdruck kommen soll, zum Beispiel: »Körper-und-Geist« für die Einheit von Körper und Geist. Damit soll möglichem dualistischem Verständnis westlich geprägter Leser eine klare Absage erteilt werden.
Für die Bearbeitung der beiden vorliegenden Kapitel wurde jeweils eine dreiteilige Form gewählt: Zunächst werden die Originalstellen aus dem Shōbōgenzō zitiert und dann die entsprechenden Erläuterungen Nishijima Roshis hinzugefügt. Meine eigenen Kommentare und Überlegungen runden die Texte ab. Soweit keine speziellen Angaben zu den Zitaten gemacht werden, handelt es sich immer um (übersetzten) Originaltext von Meister Dōgen.
Das große Werk Shōbōgenzō ist ein Kosmos von tiefgründigen Aussagen. Viele Einzelaussagen in den jeweiligen Kapiteln sind eigentlich nur verständlich, wenn man die entsprechenden detaillierten Ausführungen anderer Kapitel hinzuzieht. Deshalb wird in solchen Fällen die betreffende Kapitelnummer des Shōbōgenzō als Referenz aufgeführt und darüber hinaus auf meine bereits erwähnte dreibändige Einführung verwiesen. Ich hoffe, dass der Zugang zu den zum Teil sehr komplexen Texten dadurch wesentlich erleichtert wird. Die Angabe der Kapitelnummer ermöglicht es außerdem, auch die originalen Texte in der deutschen oder englischen Fassung zu Rate zu ziehen. Dies möchte ich ausdrücklich denjenigen empfehlen, die tiefer in diese großartige buddhistische Lehre eindringen wollen.
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich nun viel Freude, wenn sie diesen Band in die Hand nehmen und sich darin vertiefen. Ich bin sicher, dass es für viele ein großer Gewinn ist, die authentischen und fundierten Texte Dōgens und Nishijima Roshis zu studieren. Ich hoffe sehr, dass dadurch die Verwirrungen und Sackgassen nachhaltig vermieden werden, die durch wenig zuverlässige Schriften zum Zen-Buddhismus entstehen können.
Mein hochverehrter Lehrer Nishijima Roshi hat zusammen mit seinen Schülern im November 2009 seinen 90. Geburtstag feiern können. Ihm danke ich zuallererst aus vollem Herzen, denn er hat mich über viele Jahre in die schwierigen Texte des Shōbōgenzō eingeführt und mit großem Geschick, pädagogischem Können und menschlicher Wärme meine vielfältigen Fragen beantwortet. Besonders glücklich bin ich darüber, dass ich mit ihm viele Wochen in seinem Apartment in Tokio an den buddhistischen Texten arbeiten konnte. Häufige Telefongespräche über viele Jahre haben dazu beigetragen, dass sich der großartige Kosmos des Shōbōgenzō für mich Schritt für Schritt eröffnet und mit Leben erfüllt hat.
Bei der Mitarbeit an der deutschen Übersetzung konnte ich einige Jahre mit Ritsunen Gabriele Linnebach zusammenarbeiten, Satz für Satz klären und auf der Grundlage ihrer Erstübersetzung ins Deutsche übertragen. Für diese gemeinsame Arbeit bin ich ihr zu großem Dank verpflichtet.
Mein Dank gilt auch den Teilnehmern der Gesprächskreise zum Shōbōgenzō in Bern/Schweiz, Frankfurt und Berlin. Die in diesen Kreisen angesprochenen Fragen haben wesentlich zur Klärung beigetragen und sind in diesem Buch in die Erläuterungen eingeflossen.
Herrn Dipl.-Theol. Eberhard Kügler danke ich für eine finale, sehr aufmerksame Durchsicht, die den Text weiter verbessert hat.
Mein besonderer Dank gilt Gabriele Ernst, die mit großer Sorgfalt und großem Einfühlungsvermögen den gesamten Text lektoriert hat. Ihr verdanke ich viele Anregungen und Verbesserungen, ohne die das Buch nicht das wäre, was es ist. Für die Bilder aus japanischen Klöstern möchte ich May und Ingo Sacher meinen Dank aussprechen. Schließlich danke ich Marion Salbach und Christine Schärff für die sorgfältigen Schreibarbeiten.
Der Meister G. W. Nishijima
Das japanische Wort genjō bedeutet »verwirklicht« und kōan ist die Abkürzung für eine Anschlagtafel im alten China, auf der man neue Gesetze verkündete, die dadurch rechtlich verbindlich wurden. Im Zen-Buddhismus erfuhr der Begriff kōan eine Verallgemeinerung und bezeichnete schließlich das Gesetz des Lebens, der Wahrheit und der Welt. Genjō-kōan bedeutet also das verwirklichte Gesetz des Universums und damit meint man den Buddha-Dharma und die Wirklichkeit selbst.
Sogenannte Kōan-Geschichten haben bei Dōgen eine sehr hohe Bedeutung und werden in vielen Kapiteln des Shōbōgenzō1 zitiert und außerordentlich tiefgründig kommentiert. Sie stellen die Kernaussagen der buddhistischen Lehre dar. Dōgens Werk Shinji Shōbōgenzō umfasst insgesamt 301 Kōan-Geschichten, die Nishijima Roshi sehr eingehend und verständlich erläutert hat.2 In der Rinzai-Übertragungslinie3 des Zen erteilt der Meister den Schülern die Aufgabe, bestimmte Kōans zu bearbeiten und den unterscheidenden Verstand zu überschreiten. Sie müssen eine intuitive klare Sicht der Bedeutung des Kōans erlangen und mit einem »Salto« das herkömmliche dualistische Denken und Verständnis überspringen. Sie sollen eins mit ihm werden, damit sie von Täuschungen und Illusionen des Denkens und der Emotionen befreit werden.4
Generell geht es im Shōbōgenzō darum, wie wir das Gesetz des Universums in unserem eigenen Leben verwirklichen und dadurch von Zwängen und unnötigen Fixierungen, Vorurteilen, falschen Erwartungen, fatalen Emotionen, hysterischen Selbstdarstellungen und depressiven Stimmungen frei werden. Wenn ein Mensch das Gesetz des Universums in seinem Leben verwirklicht hat, ist er nach Dōgen erwacht und erleuchtet: »Das ist der Dharma oder das wirkliche Universum selbst.« Das Kōan als Gesetz des Universums zu verwirklichen, bedeutet also die Verwirklichung des Buddha-Dharma und die Realisierung im eigenen Leben. Dann gibt es keine Trennung mehr zwischen der buddhistischen Lehre und dem Handeln, zwischen Denken und Erleben; Theorie und Praxis sind in diesem Zustand zu einer Einheit verschmolzen.
Im Buddhismus bauen wir fest auf eine solche Wirklichkeit des Universums und des Lebens, die genau so ist, wie sie ist. Und wir sind davon überzeugt, dass diese Befreiung vom Leiden beziehungsweise die Erleuchtung grundsätzlich von allen Menschen realisiert werden kann und nicht allein Gautama Buddha und den großen alten Meistern vorbehalten ist!5 Im Shōbōgenzō erhalten wir dafür sehr genaue und differenzierte Anweisungen.
Die Verwirklichung des Dharma ist gleichzeitig die Verwirklichung des Universums selbst und deshalb gibt es keinen Unterschied zwischen dem natürlichen Gesetz und der Wirklichkeit unseres Lebens. Wie Dōgen im folgenden Kapitel Bendōwa, »Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit«6, und im Fukan zazengi (»Allgemeine Richtlinien zur Zazen-Praxis von Meister Dogen«)7, seiner zentralen Schrift zur Zazen-Praxis, deutlich macht, fällt uns aber eine solche Befreiung und Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz des Universums nicht ohne Anstrengung in den Schoß, sondern es bedarf dazu der steten Übung, vor allem der Zazen-Praxis8.
Im Kapitel Genjō-kōan erarbeitet Dōgen die fundamentalen Grundlagen des Zen-Buddhismus, die mit dem wahren Buddhismus übereinstimmen, wie Nishijima Roshi immer wieder betont. Zen-Buddhismus ist also keine spezifische chinesische oder japanische Schule, die sich von dem ursprünglichen Buddhismus, den Gautama Buddha lehrte, unterscheidet, sondern er ist identisch mit dessen großartiger Lehre. Sowohl die Aufsplitterung in einzelne Schulen innerhalb des ostasiatischen Buddhismus als auch die Abgrenzung gegenüber dem frühen Buddhismus, der häufig Hînayāna oder Theravāda genannt wird, erscheinen Dōgen unsinnig. Für ihn ist klar, dass es sich dabei nicht um den authentischen Buddhismus handelt, sondern um spätere Verformungen der ursprünglichen Lehre. Die Übereinstimmung des frühen Buddhismus mit dem Zen-Buddhismus erläutert Dōgen ausführlich in dem umfassenden Kapitel über die 37 Elemente des Erwachens9 und im Kapitel über die Ablehnung der getrennten Schulen des Zen10.
Genjō-kōan gehört zweifellos zu den wichtigsten grundlegenden Kapiteln des Shōbōgenzō. In einer früheren Fassung, die nur 75 Kapitel umfasst, steht es an erster Stelle, sodass wir daran seine hohe Bedeutung erkennen. Auch im Westen wurde es einige Male übersetzt, bearbeitet und kommentiert11. Wie Nishijima Roshi hervorhebt, gibt es allerdings letztlich kein unwichtiges Kapitel im Shōbōgenzō, das in der Ausgabe von 95 Kapiteln eine umfassende Gesamtdarstellung der Zenbuddhistischen Lehre liefert und in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden kann.
Alle Kapitel bilden ein zusammenhängendes, vernetztes Ganzes, sodass es methodisch sinnvoll ist, bei der vertieften Untersuchung einzelner Kapitel immer den Bezug zum Gesamtwerk im Auge zu behalten. Ritsunen Gabriele Linnebach formuliert dies wie folgt: »Bildlich ausgedrückt könnte man dieses komplexe Werk als einen großen Teppich der Wahrheit ansehen.«12 Eine isolierte Bearbeitung einzelner Kapitel mag aber eine Erklärung für viele ungenaue und sogar fehlerhafte Interpretationen von Teilen des Shōbōgenzō sein. Nishijima Roshi kann mit Recht als »Vater« der verlässlichen modernen, vollständigen Übersetzungen und Interpretationen des Shōbōgenzō gelten – auch und gerade bei den Ausgaben in den westlichen Sprachen Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch. Sein Verständnis und den Schlüssel zum Shōbōgenzō hat er in der Einführung ZEN Schatzkammer in dem einleitenden Kapitel »Eckpunkte des Buddhismus« niedergelegt13. Sein Ansatz der vier Lebensphilosophien, der im Folgenden eingehend erläutert wird, basiert ganz wesentlich auf Dōgens Kapitel Genjō-kōan. Nishijima Roshi betont, dass die Vier Edlen Wahrheiten von Gautama Buddha14 sowie Nāgārjunas »Gesang des tiefgründigen Mittleren Weges«15 ebenfalls diese vier grundlegenden Lebensphilosophien enthalten16. Im Kapitel Genjō-kōan sind sie jedoch besonders prägnant dargestellt.
Dōgen beginnt das Kapitel mit vier fundamentalen Aussagen, die in den folgenden Abschnitten jeweils untersucht und kommentiert werden sollen.
»Wenn alle Dharmas (Dinge und Phänomene) als (die Lehre) des Buddha-Dharma (verstanden) werden, gibt es Täuschung und Verwirklichung, gibt es Praxis, gibt es Leben und gibt es Tod und es gibt Buddhas und gewöhnliche Wesen.«
Nach Nishijima Roshis Verständnis kennzeichnet dieser Satz die Lehre und Theorie des Buddhismus17, die er verallgemeinernd die Lebensphilosophie des Idealismus nennt. Die Lehre ist nicht identisch mit der gelebten Praxis, sondern muss deutlich von ihr unterschieden werden.
Nishijima Roshi führt aus: »Die vier (buddhistischen) Lebensphilosophien stehen am Anfang dieses Kapitels. Darin werden diese vier Sichtweisen genau erläutert. Sie wurden von Gautama Buddha zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit durch seine erste Dharma-Rede (nach dem vollständigen Erwachen) erklärt.«18 Er bedauert, dass die umfassende und tiefgründige Bedeutung dieser vier Lebensphilosophien vor etwa 2.500 Jahren von den Zeitgenossen Buddhas allerdings nicht richtig erfasst worden sei. Meister Dōgen aber habe dann die wahre Bedeutung der vier Lebensphilosophien am Anfang des 13. Jahrhunderts in Japan verstanden und im Shōbōgenzō beschrieben. Leider konnten damals die Menschen dieser Lehre jedoch ebenfalls nicht folgen. Das Shōbōgenzō galt bis in die Neuzeit als weitgehend unverständlich. Laut Nishijima Roshi erkannte man seine wahre Bedeutung erstmals im 20. Jahrhundert und verstand das Werk umfassend und detailliert. Wir befinden uns darum heute in einer sehr guten Ausgangslage.
Wenn wir im Westen das Shōbōgenzō in seiner ganzen Tiefe und Vielfalt erkennen wollen, sollten wir nach Nishijima Roshi unbedingt die Hauptströmungen der westlichen Philosophie und damit unseres Denkens einbeziehen. Obgleich Meister Dōgen diese natürlich überhaupt nicht kannte und nicht studieren konnte, analysierte er mit seinem scharfen Verstand die tiefgründigen Lehren, die bereits von den alten buddhistischen Philosophen und Denkern in Indien entwickelt worden waren und die Gautama Buddha sehr genau kannte. So kommt Nishijima Roshi zu dem Schluss: »Wenn wir nun heute, im 21. Jahrhundert, die wahre Bedeutung der vier buddhistischen Lebensphilosophien begreifen wollen, verwenden wir daher am besten eine Methode, die auf der westlichen Philosophie basiert.« Seiner Ansicht nach ist gegenwärtig die euro-amerikanische Kultur in der Welt am weitesten entwickelt, sodass es fruchtbar sei, die wahre Bedeutung des Buddhismus auch an der westlichen Philosophie zu spiegeln. Dabei müssen wir selbstverständlich sorgfältig darauf achten, dass wir den wahren Buddhismus nicht »westlich« verfälschen, denn dadurch ginge die für uns neue Wahrheit des Buddhismus verloren und die notwendige Befruchtung für unsere westliche Kultur, also für unser eigenes Leben in der Lehre und Praxis, wäre verspielt.
Mit dem im obigen Zitat angesprochenen Buddha-Dharma ist die Lehre des Buddhismus gemeint, in der es wesentlich um Täuschung und Verwirklichung, Praxis, Leben und Tod geht. Das gelehrte Ideal der wahren Buddhas steht dabei sicherlich zunächst im Gegensatz zum Leben der gewöhnlichen Menschen. Die Dharmas der Welt, also die Vielfalt der Dinge und Phänomene, werden hier im Sinne dieser buddhistischen Lehre verstanden und interpretiert. Damit ist zunächst noch wenig über die Wirklichkeit selbst ausgesagt, sondern es geht um die Lehre und Theorie des Buddhismus. Die Lehre entspricht dabei dem »Finger, der auf den Mond zeigt«. Diese Aussage betont die wichtige Erkenntnis, dass der Finger eben nicht der Mond selbst ist, sondern lediglich auf ihn hin deutet. Im Hinblick auf die buddhistische Lehre heißt das, dass sie zwar ein umfassendes und sehr nützliches Lehrgebäude ist, aber ohne die Verwirklichung in der Praxis unseres Lebens bleibt sie reine Theorie. Allerdings darf diese nach Dōgens Meinung keineswegs gering geschätzt werden. Denn wie sollen wir den Buddhismus erlernen, wenn keine ausgearbeitete und bewährte Theorie und Lehre vorhanden wäre?19 Im Gegensatz dazu gab und gibt es im Zen-Buddhismus immer wieder Strömungen, die jede Theorie und Lehre grundsätzlich ablehnen, weil sie die Menschen angeblich in die Irre führen und von der Wirklichkeit ablenken würden. Dōgen hält zwar ebenfalls vor allem die Praxis des Zazen und des alltäglichen Handelns für unerlässlich für den Buddha-Weg, aber genauso unerlässlich sei es, dass ein wahrer Lehrer die authentische buddhistische Lehre übermittelt und damit zum Leben erweckt. So könnten die notwendigen existenziellen Lernprozesse gesteuert und gelenkt werden.
Nach Nishijima Roshi geht es in diesem gesamten Kapitel wesentlich um die Lösung des unvereinbaren Widerspruchs zwischen Idealismus und Materialismus und er führt dazu aus: »Wir Menschen haben in unserer Kultur seit Tausenden von Jahren und vor allem seit der antiken griechisch-römischen Zeit zwei hervorragende philosophische Hauptströmungen entwickelt und gepflegt, den Idealismus und Materialismus. Diese beiden sind ganz ausgezeichnete hoch entwickelte philosophische Systeme. Die humanistische Kultur in Europa hat deren Grundlagen seit Tausenden von Jahren immer weiterentwickelt.« Durch diese Entwicklung seien die menschliche Kultur und Zivilisation außerordentlich befruchtet worden. Gleichzeitig müssten wir jedoch klar erkennen, dass diese beiden Philosophien vollständig gegensätzliche und unvereinbare Ansätze haben. Dadurch würde die euro-amerikanische Kultur immer wieder in eine tiefe innere Zerrissenheit verfallen, die bereits extreme und katastrophale Unsicherheiten in Bezug auf kulturelle und materielle Werte zur Folge hatte.
Obgleich sich die Kontroverse zwischen Materialismus und Idealismus in der Neuzeit eigentlich schon totgelaufen habe, gebe es bisher noch keine wirklich fundierte Lösung für dieses Problem. Deshalb schlägt Nishijima Roshi mit großer Entschiedenheit vor, die Methoden des Buddhismus heranzuziehen, die der geniale Gautama Buddha schon im antiken Indien entwickelt habe und die bis heute authentisch übermittelt worden seien.
In seinem Buch Begegnung mit dem wahren Drachen20 erläutert Nishijima Roshi zum ersten Mal in einer westlichen Sprache, dass nach seinem Verständnis die tradierte Interpretation der Vier Edlen Wahrheiten von Gautama Buddha zu eng gelehrt würde. Er ist fest davon überzeugt, dass damit genau die vier umfassenden Lebensphilosophien gemeint sind, die auch von Dōgen gelehrt und besonders ausführlich im Kapitel Genjō-kōan behandelt wurden. Das bislang überlieferte Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten erfasse nur bestimmte Teilbereiche der gesamten Lehre. Nishijima Roshi gibt eine sehr interessante Erläuterung zur Auflösung des Widerspruchs zwischen Idealismus und Materialismus21. Als die vier Lebensphilosophien nennt er die folgenden:
»Idealismus, Materialismus, die Lebensphilosophie des Handelns und schließlich die umfassende Wirklichkeit selbst. Die Begriffe in Sanskrit sind: Duhkha-satya, Samudaya-satya, Nirodha-satya und Marga-satya.«
Den Sanskrit-Begriff Duhkha-satya wendet er auf das zu Beginn dieses Abschnitts aufgeführte Zitat an und erläutert, dass Duhkha Leiden bedeute und die wörtliche Übersetzung die »Lehre des Leidens« laute. Nishijima Roshi begründet das folgendermaßen: »Der Grund, warum die idealistische Philosophie auch die Lehre vom Leiden genannt wird, liegt darin, dass dabei immer ein extrem hochstehendes Ideal verfolgt wird, das durch absolute Vollkommenheit und Perfektion gekennzeichnet ist.« Der Idealismus sei im Kern also immer das Streben nach einer unerreichbaren Perfektion. Aber die wirkliche Welt, in der wir leben, sei bekanntlich niemals vollkommen und überhaupt nicht so ideal, wie es der Idealismus fordert oder behauptet. Idealisten würden daher stets unter dem Gegensatz der vollkommenen Schönheit von Ideen und Idealen einerseits und der unvollkommenen, »schlechten« Wirklichkeit und den realen Lebensbedingungen andererseits leiden.
Dabei kann es nicht ausbleiben, dass tatsächliche oder angebliche »Bösewichte« für das Elend und die Dramen in der Welt verantwortlich gemacht werden. Häufig ist dies mit einer großen Empörung verbunden. Gleichzeitig wird die eigene Ohnmacht beklagt, sodass aus psychologischer Sicht die eigene moralische Überlegenheit durch die Abwertung anderer gesichert wird. In der Tiefenpsychologie wird dies häufig als verdeckter Neid interpretiert22. Zweifellos kommt es dabei zu einer unbewussten Spaltung von Idealen und dem idealisierten Ich einerseits und der Wirklichkeit des Handelns andererseits. Wenn dabei sogar die theatralische Selbstinszenierung im Vordergrund steht, spricht der Tiefenpsychologe Mentzos von Hysterie, also einer psychischen Krankheit.23 Da die grundlegenden Probleme bisher im Westen nicht ausreichend und auch nicht differenziert genug analysiert werden, lassen sich mit einer solchen idealistischen Lebensphilosophie selbstverständlich keine angemessenen und möglichen Problemlösungen erreichen. Das Klagen verhindert oftmals zudem das eigene entschlossene Handeln und verstärkt die Spirale des Leidens.
Auch das antike Indien zu Buddhas Zeiten hatte unter in sich widersprüchlichen Lebensentwürfen und Philosophien des Idealismus und Materialismus zu leiden. Etwa seit dem 12. und 13. Jahrhundert vor der Zeitenwende entwickelte dort die sehr spirituelle brahmanische Religion24 für viele Jahrhunderte eine große kulturelle Kraft. Sie hatte ihren Ursprung in der Religion der Eroberer, also der Indo-Europäer, die in Indien eindrangen.
Einige Zeit vor Gautama Buddha verbreiteten sich in Indien daneben verschiedene materialistische Philosophien, die von den sogenannten sechs nicht-buddhistischen Denkern vertreten wurden25. Schließlich kam es zu einem fundamentalen weltanschaulichen Kampf zwischen der alten spirituellen Religion des Brahmanismus