Buch:
Das Buch ist ein Plädoyer für eine Erneuerung Europas, für einen starken, unabhängigen europäischen Staatenbund. Es ist ein Appell, sich von der Leine der USA zu lösen, um die Mängel und die Stagnation des Einigungsprozesses überwinden und Europa in der Welt ein Gesicht geben zu können.
Der Autor lässt fiktive Personen sprechen, die während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach geboren wurden. Diese haben die Hungerjahre der ersten Besatzungszeit und die Zeit des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs im westlichen Teil Deutschlands erlebt. Sie widmen sich den Ursachen der zu Weltkriegen ausgearteten Auseinandersetzungen in Europa sowie den daraus zu ziehenden Konsequenzen.
Der Verfasser hält sich an das Gebot des Historismus, der jeder geschichtlichen Erscheinung ihr eigenes Recht aus den Bedingungen ihrer Entstehung gewährt und der in der neueren Literatur inzwischen auch für die Zeit des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges an Bedeutung gewinnt (siehe z. B. Jörg Friedrich: Der Brand, Gerd Schultze-Rhonhof: 1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte, Günter Grass: Im Krebsgang).
Ihre Treffen – zweimal im Jahr – in einem der Restaurants der Hamburger Innenstadt hatten eine jahrzehntelange Tradition. Und jetzt war es fast Mitternacht, als die sieben Freunde den Franziskaner, eine Gaststätte in den Colonnaden, verließen. Zunächst hatten sie über die Politik der sich als Weltpolizisten aufspielenden USA diskutiert. Aber dann waren die Stagnation des europäischen Einigungsprozesses und die vielen in Europa bestehenden Probleme zum Hauptthema des Abends geraten. Die Köpfe rauchten. Sie hatten erschreckende Fehlentwicklungen aufgelistet und sich mit den Ursachen der zahlreichen Krisen befasst. Die gesamte Welt zu verbessern, dafür war an diesem Abend keine Zeit verblieben, auch nicht für Themen wie Reisen, Familie und Kultur.
Drei der Freunde strebten zu den S-Bahn-Stationen Dammtor und Jungfernstieg, Klaus, Wilhelm und Manfred bewegten sich in Richtung Gänsemarkt. Hermann war noch einmal in die Bierschänke eingetaucht. Die Freunde ahnten warum und lachten. Aber sie wussten, er würde sich kaum noch ändern. Für Klaus war es ein alkoholfreier Abend, denn er war mit dem Auto in die Innenstadt gefahren.
– Klaus –
Klaus, geboren im Jahre 1940, war nach seinem BWL-Studium in verschiedenen Hamburger Großunternehmen in leitender Stellung tätig und 2005 aus dem Berufsleben ausgeschieden. Seitdem widmete er sich verstärkt der Familie und hielt sich fit durch Gymnastik, Wandern, Radfahren und gerne auch durch Gartenarbeit. Seine Frau Beate war Bankkauffrau und hatte ihr Berufsleben 2006 vorzeitig beendet. Ihre zwei verheirateten Kinder lebten nicht weit entfernt von ihnen, und sie konnten sich schon seit Jahren über zwei Enkeltöchter freuen. Klaus, mittelgroß, sympathisch, war mit seinem Leben außerordentlich zufrieden, es ging ihm in jeder Hinsicht gut. Das Einzige, worunter er gelegentlich litt – nur heimlich –, war eine beachtliche Stirnglatze. Doch das, was er als Manko empfand, wurde in seiner Umgebung gar nicht wahrgenommen. Von seinen Freunden wurde er als eine ruhige und ausgeglichene Persönlichkeit mit einem ausgewogenen Urteilsvermögen gesehen. An Geschichte, Zeitgeschehen und Kultur interessiert, wusste er stets viel zu erzählen. Er betonte oft, in den Nachkriegsjahrzehnten einige der politischen Weichenstellungen heftig kritisiert zu haben. Verbindlich wie er war, hatte er diese Kritik immer mit dem Hinweis verbunden, er wünsche sich, unrecht zu haben. Diese Wünsche waren jedoch nicht in Erfüllung gegangen. Es bereitete ihm Schmerzen, nun zunehmend mit den Folgen der Politikfehler konfrontiert zu sein. Aber Klaus war Optimist, er sah auch das Auf und Ab in der Geschichte und Wellenbewegungen, die den Unrat immer wieder wegspülten. Darauf vertraute er auch für die nähere Zukunft. Und während sich einer der Freunde aus der 7er-Runde entschlossen hatte, sich aktiv am Aufbau einer Alternative zum bestehenden Parteienkartell zu beteiligen, hatte Klaus derartige Absichten schon vor langer Zeit aufgegeben.
Nach dem Treffen, dem geliebten Stammtisch, ging er zügigen Schrittes zum Parkhaus. Wilhelm und Manfred folgten im Abstand von einem Meter, hatten Mühe, zu ihm aufzuschließen. Klaus drängte es, seine Frau Beate in die Arme nehmen zu können. Auf dem Gänsemarkt streiften sie das Denkmal für den Literaten Gotthold Ephraim Lessing. Klaus stoppte seinen Schritt und erinnerte sich an dessen Metapher, die der Einzigartigkeit des Einzelnen und seiner Bedeutung für das Ganze galt. Wir sind alle Blätter an einem Baum war leicht gesagt. Wofür stand der Baum, was war das Ganze, dachte er kurz, um diese Frage dann erst einmal zu vergessen. Denn Wilhelm und Manfred waren in heiterer Stimmung und an diesem Thema im Augenblick sicher nicht interessiert.
Schnell hatten sie das Stadtzentrum verlassen. Die Straßen waren zu dieser Zeit nur noch wenig befahren, so dass er die beiden Freunde schon nach einer Dreiviertelstunde vor ihren Häusern verabschieden konnte. Als er sein Haus erreichte, sah er vom Carport aus noch Licht im Wohnzimmer und wusste, Beate hatte auf ihn gewartet. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag neben ihr. Sie hörte ihn und war gleich hellwach. Klaus zog sie an seine Brust. Sie küssten sich, wie noch immer, wenn einer der beiden für viele Stunden ausgegangen war. Beate hatte es sich an diesem Abend gemütlich gemacht und eine kuschelige Atmosphäre geschaffen. Die Kaminscheite waren zwar verglüht, aber auf dem Tisch stand eine noch fast gefüllte Flasche köstlichen Burgunderweins, von dem sie sich in der Nähe der schönen Stadt Beaune nach einer Verkostung eine größere Menge gesichert hatten. Als sie sich voneinander lösten, schaute Klaus auf den Wein, und Beate holte ein Glas für ihn, denn sie wusste, einem Schlummertrunk wäre er nicht abgeneigt. Sie ließen die Gläser klingen, und nach einem erneuten langen Kuss sagte er ihr zärtliche Worte, und die Flamme stieg lautlos, auch nach all den Jahren, und sie entkleideten sich fast hastig. Sie waren nicht mehr jung, aber voller Liebe, und ihr Lager aus Lust wurde stets ein reiner, herrlicher Himmel der Erfüllung.
Sie schliefen tief und lange. Und am kommenden Morgen bei der Lektüre der Morgenzeitung, in der gleich mehrere EU-Probleme thematisiert wurden, dachte Klaus an das Denkmal zurück. Was mochte Lessing in seiner Zeit als das GANZE gesehen haben? Sicher nicht nur den Kreis der den Einzelnen unmittelbar umgebenden Personen. Eher seinen Kleinstaat, den deutschen Teilstaat, in dem er lebte. Möglicherweise aber auch das ganze noch uneinige deutsche Vaterland. Würde er, wenn er heute lebte, Europa, vielleicht auch die ganze Welt als GANZES sehen? Klaus dachte, die Welt wohl eher nicht, er selbst sah auf dem Erdball mehrere Bäume und Baumgruppen. Jeweils einen Baum auf einem Kontinent mit einer die Bürger verbindenden Kultur und Baumgruppen auf Kontinenten mit mehreren Kulturkreisen. Auf dem europäischen Kontinent sah er einen sehr schönen Baum, gewachsen aus einer reichen Kultur und einer wechselhaften Geschichte, und er dachte an den Stier und das schöne Weib, das er sich gut als die Mutter Europas vorstellen konnte.
Dann wanderten seine Gedanken zurück zum Gespräch am Vorabend. Er legte die Zeitung zur Seite und wandte sich Beate zu, die offensichtlich schon darauf gewartet hatte, was er berichten würde. Klaus gab ihr einen Überblick über die angesprochenen Themenbereiche und wollte dann von ihr wissen, welcher Bereich sie am meisten interessiere. Beate erklärte gedehnt, sie wäre ihm dankbar, wenn er sie umfassend über die kontinuierlich anwachsenden Krisen und deren Ursachen informieren würde, darüber werde in ihrem Frauenkreis immer häufiger diskutiert. Klaus atmete tief ein und erwiderte, dann müsse er wohl sehr weit ausholen. Für ihn sei das jedoch eine gute Gelegenheit, sich selbst noch einmal mit der politischen Situation auseinanderzusetzen und die Bewertung zu vertiefen und zu festigen. Er werde daher auch Inhalte weiter zurückliegender Stammtischgespräche einbeziehen, immer die Mehrheitsmeinung im Blick behalten, aber auch über abweichende Auffassungen berichten.
Klaus wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieser Bericht der Grundstein für ein Buch werden sollte, dessen Inhalt er später auch mit Unterstützung seiner Freunde erweitern würde. Intuitiv hatte er sich jedoch entschieden, seine Ausführungen per Mikrofon aufzuzeichnen. Und weder er noch ich hatten eine Ahnung davon, dass ich die Ehre haben würde, diese Aufzeichnungen sowie seine mündlichen Ergänzungen in eine endgültige Form zu gießen. Klaus war erst nach und nach auf den Gedanken gekommen, mit seinen Ergüssen, wie er die in meinen Augen sehr überzeugend dargestellten Inhalte der Gesprächsrunden nannte, auch andere Interessenten zu beglücken. Für ein Buch hatte er sich aber erst aufgrund der Reaktionen Beates entschieden, die von Tag zu Tag gespannter auf die Fortsetzung seines mehrfach unterbrochenen Berichts gewartet hatte. Er bat mich schon wenige Tage nach seinem Entschluss darum, ihm behilflich zu sein. So saß ich schon bald vor dem Aufnahmegerät, um seine Ausführungen in eine endgültige Form zu bringen. Zunächst war nur ein Knistern und Räuspern zu hören, aber dann legte er los: