© 2015 Bernd Lange
http://www.schreiberei-b-lange.de/schrift-stelle/
Foto Titelseite Bernd Lange
Foto Rückseite Wolf-Peter Steinheißer
Gestaltung Titelseite Nuray Gucanin
Satz Kannada MN und Minion Pro Med
Herstellung und Verlag BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7392-7132-3
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
gedankenverträumt
gedankenvertieft
gedankenvertraut
Worte
für jede Zeit,
für jede Situation
haben sie
eine andere Bedeutung,
sie sprechen jeweils neu,
entwickeln
neue Gedanken
Worte
im Espresso meiner Tasse
werden sie
zu Geschichten
Ich schaue nur kurz auf, löse meinen Blick und meine Gedanken von dem Buch, das mich gerade fesselt. Es ist wirklich ein ganz kurzer Moment, den ich Richtung Strand und Meer dem schillernden Treiben vor und hinter der Grenzlinie zwischen Sand und Wasser widme. Warum ich mich für diesen Augenblick ablenken lasse, kann ein Zufall des Unterbewusstseins sein. Es kann aber genau so gut auch auf der intuitiven Macht einer vorbestimmten Eingebung beruhen. Wie dem auch sei, ich habe ein Déjà-vu.
Da es ein sehr persönliches Erlebnis ist – Déjà-vus neigen nun mal dazu –, sollte ich ein wenig ausholen. Einen Leser, einen Zuschauer, einen Zuhörer einbinden, nennt man das im heutigen Sprachgebrauch. Ich möchte verbindlicher sein, ein wenig das Ambiente beschreiben, in dem ich mich gerade befinde.
Es ist der zurückliegende Sommer, ein Sommer, der dieses Prädikat nicht unbedingt verdient hat. Egal, ich darf aufgrund meiner beruflichen Ambitionen zwei Tage im hohen Norden Deutschlands verbringen. Für einen, der in Stuttgart lebt und für den das Mittelmeer näher zu erreichen ist als die Nord- oder Ostsee, ist das wirklich hoch. Naheliegend ist, wenn ich schon so hoch hinauf darf, noch einige Tage dranzuhängen. Die zurückliegende Tagung, obwohl sie genau so gut auch eine Nachtung, zumindest beides war, hatte ein versöhnliches Ende – die Aussicht auf sechs Tage Ostsee, Strand, Wasser, ein wenig Sonne vielleicht, auf jeden Fall Entspannen, Seelenbaumeln, Genießen. Einfach mal abschalten und aufsaugen. So, wie der pulvrige Sand an einer Welle, die sich zu weit landeinwärts wagt, lechzend das Wasser schlürft.
Jetzt sitze ich also in einem der zahlreichen Strandcafés an einem der zahlreichen Ostseestrände und genieße einen der weniger zahlreichen Sonnentage in diesem August. Der Kaffee in meiner zweiten Tasse wird langsam kalt. Wie ja schon erwähnt, habe ich mich in mein Buch vertieft, so vertieft, dass ich alles um mich herum seit einiger Zeit gar nicht mehr richtig wahrnehme. Nur die wärmende Sonne leistet mir, das bekomme ich gerade noch mit, Gesellschaft. Bis zu dem Augenblick, im wahrsten Sinne des Wortes einem Augen-Blick, der mich kurz aufschauen lässt.
Ich sehe ein Bild vor mir, das zunächst so richtig typisch für eine Strandszene an einem durchaus akzeptablen Sommertag ist. Nicht unbedingt etwas Bemerkenswertes, das mein Ablenken aus dem Buch zwingend notwendig gemacht hätte. Die etwas streng sortierte Anordnung der Strandkörbe, bis auf wenige Ausnahmen mit Kindern, mit Müttern, mit Vätern, hier und da vielleicht noch mit Großmutter und Großvater besetzt, manchmal auch nur mit bunten Handtüchern dekoriert. Dazwischen die sehr viel lockere Ansammlung von sonnen-, strand- und wasserhungrigen oder -durstigen Urlaubern. Da jemand, der im Sand liegt und seine Zeitung liest, möglich, dass es die ist, die er sich aus seinem Heimatort nachschicken lässt. Dort ein Grüppchen, das sich angeregt unterhält, über was auch immer, in Badehosen die einen, im Bikini oder Badeanzug die anderen, alle mit einer mehr oder weniger geschmackvollen Kopfbedeckung. Dann wieder eine Familie, die unter Aufbietung aller Kräfte und aller strandbewährten Hilfsmittel am Anfang einer wahrscheinlich später beim Richtfest spektakulären Sandburg steht und erste architektonische Planungen umsetzt. Auch die Teilnehmer von wellness- oder fitnessorientierten Aktivitäten haben bereits den Weg zum Strand gefunden. Linker Hand die ersten, die dem Beach-Volleyball frönen, bevor die Mittagshitze alle sportlichen Einsätze lähmt. Weiter vorne, zum Wasser hin, dort, wo der Strand schon feucht ist, spielt ein Pärchen Pelota. Auf allen nur denkbaren Flächen, wo der Strand es erlaubt, spielen Kinder im und mit dem Sand, buddeln, schaufeln, gestalten Figuren mit Förmchen, werfen mit Eimer und Schäufelchen, kreischen, nörgeln, möchten unbedingt den Ball wiederhaben, der unerwünscht auf der Wasseroberfläche weiter draußen tanzt, lutschen Eis, essen Sand, zertreten kleine Sandburgen, laufen zum Wasser und wieder zurück, um den gefüllten Eimer direkt vor den Füßen ihrer Eltern auszuschütten und dort Schlammbollen zu machen, zwei schon ältere Jungen graben ihren etwas qualvoll aussehenden Vater im Sand ein, andere Kinder wiederum, teilweise noch dicke Windelpakete um den Popo gewickelt, lachen, weinen, trotzen oder spielen selbstvergnügt und friedlich mit Murmeln, Hölzchen, Stöckchen oder Steinchen, der einen oder anderen kleinen Muschel.
Ganz weit vorne, direkt am Wasser, von meinem Blickwinkel betrachtet weiter hinten, wo der Strand aufhört und leicht lethargische Wellen den Übergang zwischen nassem zu feuchtem und dann zu trockenem Sand beschreiben, betreiben ebenfalls etliche Menschen Urlaub. Einer sitzt im nassen Sand, im Einzugsbereich der kleinen Wellen, um sich seine Füße umspülen zu lassen. Einen anderen hat der Ehrgeiz gepackt, er joggt, seine weibliche Begleitung fünf Meter hinter sich lassend, am Saum der Wellen, die Füße der beiden treffen mal das Wasser, dann wieder verfehlen sie es. Wieder andere stehen in meist gebückter Haltung und suchen nach Strandgut, Muschelreste vielleicht, kleine Glassplitter, die inzwischen glattgeschliffen sind, den Rest eines Krabbenfußes, den einen oder anderen Kiesel, der sich im Vergleich zum Sandkorn deutlich aus der Menge abhebt. Da links zwei Jugendliche, die mutig mit viel Anlauf kreischend ins Meer laufen, irgendwann den Boden unter den Füßen verlieren und kraulend ihren Weg weiter durchs Wasser pflügen. Dann wieder Mütter und Väter mit Kindern, größere Geschwister mit den kleinen, die im Schlamm, im Schlick buddeln, Gebilde bauen, die Augenblicke später schon wieder von den Wellen weggespült werden. Dort ein Zehn-, vielleicht Elf-, Zwölfjähriger in einem Pulk von Jungen und Mädchen – mag sein, dass es eine Schulklasse ist oder eine Gruppe im Ferienlager auf dem nahegelegenen Campingplatz –, der sich vor den albern kichernden Teenies beweisen will und im Handstand zwei, drei Meter vorankommt, doch stilistisch so verquer mit angewinkelten Beinen; es sieht schon sehr eigenwillig aus, mit was er angeben oder imponieren möchte.
Im Wasser dann, an den Stellen, wo man noch gut stehen kann, kämpfen kleine Kinder mit Schwimmflügeln an den Oberärmchen, üben sich in ersten Schwimmversuchen, eines heult herzzerreißend, vermutlich hat es eine kräftigere Welle Salzwasser schlucken müssen. Erwachsene wiederum stehen bis zu den Kniekehlen, wenige bis zum Bauchansatz im Meer, die Arme verschränkt, unterhalten sich oder schauen sehnsüchtig Richtung Horizont, wo das hellere Blau des Wassers eine unscharfe Trennungslinie mit dem dunkleren Blau des Himmels zieht. Sie sind in der Minderzahl, das Wasser scheint wirklich noch nicht die richtige Badetemperatur zu haben, die Unentwegten, die Mutigen, die Sichbeweisenwollenden, die Vornichtszurückschreckenden. Sie alle schwimmen, planschen, paddeln, rudern, tauchen, kraulen, fühlen sich anscheinend wohl in ihrem Element. Weniger Ehrgeizige wieder bedienen sich eines Schlauchbootes, einer Luftmatratze, einen Schwimmreifens, um auf dem Wasser zu dümpeln und am Abend dann ihren höchstwahrscheinlich spürbar einsetzenden Sonnenbrand auszubrüten.
Ein farbenfrohes Bild, das sich vor meinen Augen aufbaut. Bestehend aus zig kleinen Einzelbildern, jedes für sich schon einen Blick wert, wahrgenommen zu werden. Und für einen etwas längeren Moment als bei allen anderen sehe ich – wie aus heiterem Himmel – ein Bild vor mir, das ich schon einmal gesehen habe. Genau der gleiche Ausschnitt, genau die gleiche Szene, genau die gleichen Personen. Ein etwa vierjähriger Junge schüttet mit einer Schaufel Sand in sein Eimerchen, sein Vater sitzt neben ihm im Sand, seine Mutter steht hinter ihrem Mann, leicht nach vorne gebeugt, und stützt sich auf seinen Schultern ab. Beide schauen lachend dem kleinen Jungen zu, der konzentriert seiner Tätigkeit nachgeht. Eine banale Szene, eine typische Szene für eine Strandaufnahme. Und dennoch, dieses Bild hat sich in meinem Kopf festgesetzt, sozusagen eingebrannt ...
Wenige Tage später fahre ich wieder nach Hause, mit dem Bild, das ich nicht mehr losgeworden bin, gut verwahrt im Reisegepäck. Ich kann es kaum erwarten, daheim zu sein. Ich schlage das Fotoalbum auf, jenes mit den ersten Aufnahmen von mir, das meine Eltern gemacht haben. Da ist es, das gleiche Bild, das ich im Kopf habe, auf Fotopapier mit gezackten Rändern. In Schwarz-Weiß. Darunter handschriftlich die Zeile „Ostsee – August 1953“.
Zweiundfünfzig Jahre später bin ich mir an gleicher Stelle selbst begegnet.
(2005)
Zum Ende hin ist er ganz schön in die Breite gegangen. Und träge ist er auch geworden ... der Fluss.
Auf der gegenüberliegenden Seite, ziemlich nah am Ufer, macht sich ein kleines Baggerschiff zu schaffen. Der Fluss zeichnet hier eine leichte Linksbiegung, gut möglich, dass sich der Kies am Grund zu sehr staute, sodass er wieder weggebaggert werden muss. Freie Fahrt oder besser, freier Fluss für den Fluss!? Flach und weit, brackig und dunkel, sehr wenig Ansehnliches verliert sich auf der nur leicht aufgerauten Wasseroberfläche, die sich sogar weigert, das Sonnenlicht zu reflektieren. Die letzten, vielleicht einhundert Kilometer ist der Fluss auf seinem Weg ins offene Meer wirklich breit und träge geworden; bestimmt langweilig für ihn.
Nichts mehr ist übrig geblieben von seinem munteren Plätschern, mal glucksend, mal gurgelnd, über Waldboden und Moos, kurz hinter der Quelle. Über Stein und Fels, bevor er das erste kleine Dorf erreicht, durch das er kraftvoll und fröhlich seinen Weg gebahnt hat. Durch Wiesen, in denen er mäandrisch weiter geflossen ist, durch Auen, in denen er verwunschen rauschte. Und so weiter, bis es von alleine gelaufen ist, er sich zu einem schmalen Flüsschen ergossen hat, dann rinnend, wogend, wallend, strömend. Immer wieder auf seinem Weg wurde er begleitet von Menschen, die sich mit ihm freuten, die mit ihm lachten, die Spaß an ihm hatten.
Das letzte Stück, seine letzten vierundzwanzig Stunden, bleibt er allein. Fast unsichtbar in einem leicht erhöhten Damm gebettet, damit er auch ja nicht ausbricht, sich ausbreitet und auf dumme Gedanken kommt. Dahinter Ödland, leeres Land, so weit das Auge reicht. Dann folgen Wiesen, Felder, Äcker, die in der Ferne verschwinden, von denen der Fluss nichts mehr mitbekommt. Bis auf die länglichen Baumkronen der Pappeln, die links und rechts Spalier stehen. Sie wedeln ihm im Wind, der bereits den Salzgeruch des nahen Meeres heranbringt, winken ihm zurückhaltend zu. Gestaffelt in Reihen stehen sie, die schmalen Bäume, in diagonalen Linien parallel zum Damm. Genauso wie die Masten der Hochspannungsleitungen, deren Drähte leicht durchhängen und die Symmetrie ein wenig durcheinander bringen. Irgendwie sieht das nach langweiliger Raumordnung aus.
Leere auch auf der stählernen Eisenbahnbrücke, die sich rostfarben weit über den Fluss spannt. Kein Ächzen in den Gelenken ist hörbar, die Gleise sind längst stillgelegt. Kein Winken aus irgendeinem Leben heraus, keine Bewegung. Festgefügtes Metall in Stein, an beidem nagt der Zahn der Zeit. Spuren, die keinen mehr interessieren. Ohne Unterbrechung zieht der Fluss weiter. Wegen dieser Ruhe müsste er froh sein, dass er hier sein darf, dass er noch nicht am Ziel ist. Doch diese Ruhe ist fast tödlich, sie kann verrückt machen. Vereinzelte Gebäude, von denen er manchmal noch gerade das Dach erkennen kann, nehmen Stellung. Verlassene, verwitterte Backsteine, zerbrochene Fensterscheiben, eingesackte Dachziegel – schimmliges Gemäuer zieht sich vom Boden hoch. Lebensraum für ein paar Raben, die auf irgendetwas warten. Keiner will wissen, auf was. Totenstille.
Der Fluss sollte sich glücklich schätzen, dass er das alles nicht mit ansehen muss. Rohrstutzen von Gasleitungen ersetzen die Pappeln. In gleicher Anordnung, in metergenauen Abständen in den Boden gerammt, so wie die Bäume lange Jahre zuvor, vor Jahrzehnten gepflanzt wurden.
Überall bläulicher Dunst am Himmel über ihm, an dem Stück Himmel, das der Fluss noch sehen darf. Dunst, der sich bis zu allen Horizonten fortsetzt. Entfernungen verlieren sich im Nichts. Und doch trennen sich mehr und mehr Licht und Schatten, scharf geschnitten von trostlosen Flächen und Körpern. Ziegelsteinmauern, Asphaltbänder, Betonklötze trennen die Tiefe des Raumes, versperren den Blick ins Unendliche, lassen erahnen, dass es noch eine andere Form der unbeweglichen Geschäftigkeit gibt. Reihenweise stehen ausrangierte Tanks, Raffinerietürme, Fabrikschlote, Stahlgerüste, Ventilschleusen im Weg, spiralförmig ragen Skelette in die jetzt leicht gelblich gefärbte Luft.
Auf dem Fluss kommt Leben auf, totes Leben. Blechbüchsen, Styroporplatten, aufgeweichte Pappkartons, ungehobelte Holzplatten, Kistenreste, zerfetzte Autoreifen, Gewirr von Holzwolle, eine Plastiktasche, Einkaufstüten, ein durchnässter Overall, Flaschen, deren Hälse sich schaukelnd über Wasser halten, dümpeln im Brackwasser, das sich seitlich am Ufer leicht aufgeschäumt fortwährend im Kreis dreht.
Gleichgültig bleibt der Fluss, zieht weiter, er will sich nicht anmerken lassen, was ihm hier aufgebürdet wird, was ihm aufgeladen worden ist, was er mit sich rumschleppen muss. Und doch kann er’s nicht verbergen.
Der Himmel erstickt, dem Fluss dürfte das Atmen ebenfalls schwer fallen. Rechteckige Lagerhallen, ein Elektrizitätswerk, in dem alle Fäden der Hochspannungsdrähte zusammenkommen, eine baufällige Barackensiedlung, unzählige Wohnwagen daneben. Einzig die Wäsche, die an gespannten Leinen zwischen den Wagen aufgehängt ist, zeigt im hier zugigen Wind Bewegung. Bis auf die unangenehm zischenden Geräusche einer weiteren Raffinerie, aus deren stählernen Schornsteinen gespenstige Feuerfackeln speien, scheint alles stillzustehen, sogar der Fluss zaudert. Obwohl ihm zuzutrauen ist, dass er sein ausgeschachtetes Bett, schnurgerade von riesigen Betonwänden eingefasst, schnell wieder verlassen möchte.
Dann ohrenbetäubender Lärm, Geschrei, das bis ins Mark durchdringt. Tausende von Möwen auf und über einem riesigen Müllberg. Sie schwirren und trippeln kreischend am Auswurf der Zivilisation. Ihr Tisch ist reich gedeckt.
Der Hafen! Willkommen am Ziel? Eingesperrt wird der Fluss in eine bedrohliche Kaimauer. Ihm muss übel sein, seinem Geruch nach. Verzweigungen von Kanälen, Wasserarmen nach allen Seiten, bunt schillernd ziehen Schlieren von Öl und Benzin auf seiner Wasseroberfläche, die sich mit den Kohlenhalden gleich dahinter um die Gunst eines noch tieferen Schwarz misst. Im Bilgenausschuss, kaltes Schwitzwasser und schillerndes Schmutzwasser, strudeln immer wieder verklumpte Teerbrocken. Nicht einmal das Ausweichen in die Hafenbecken, die links und rechts mit neuen Perspektiven locken, reizt ihn mehr. Mit diesem faulen Wasser will der Fluss nichts zu tun haben. Ein Wasser, das keine Heimat hat, nicht mehr weiß, wie es aus einer Quelle sprudelte, und auch noch nichts von den Gefühlen spürt, was es heißt, auf dem großen weiten Ozean zu schwimmen.
Der Hafen ... den Fluss geht er nichts mehr an, vorbei. Nur schnell vorbei. Die Lastkähne, die Schlepper, die Frachter, die Schiffe; ihm ist alles gleichgültig, was er auf seinem gebeutelten Rücken noch trägt. Die wuchtigen Klötze von Lagerhallen, die sich wie Krakenarme ausbreiten und hinter deren fensterlosen Mauern ein ständiges Hin und Her schnaubt und faucht und poltert, die skelettartigen Kräne, die wie Polypen ihre hebenden und senkenden Fangarme nach allen Richtungen ausstrecken, der Fluss will von diesem Leben um ihn herum überhaupt nichts mehr mitbekommen. Der Hafen ist für ihn kein Hafen.
Kein Hafen, der ihn auffängt, an dem er vor Anker geht, in dem er nach langer Reise seine wohlverdiente Ruhe finden möchte. Keine Pause, kein Zurücklehnen, kein Aufatmen, kein Auftanken, nichts wie weg von hier. Hinaus aufs Meer, hinaus in die unendliche Weite, dort zieht es den Fluss hin.
Sein letzter Blick zeigt ihm eine Welt aus Steinen und Teer, aus groben, verdreckten Felsquadern, aus Haufen von verrostetem und verrottetem Schrott. Und auf seinem letzten Weg zu neuen Ufern, auf den letzten Metern in eine neu gewonnene Freiheit kommt ihm nochmals ein letztes Hindernis entgegen, um ihm die Vergänglichkeit seines Lebenslaufes zu verdeutlichen. Ein Bollwerk fauliger Algen empfängt ihn. Doch auch das geht vorbei, am Ende seiner langen Reise, die für ihn so fröhlich und munter begonnen hat. Jetzt ist er angekommen, erschöpft und müde, der Fluss. An seinem lang ersehnten Meeressaum, an seiner Schwelle zum Aufatmen.
Endlich frei.
(2010)
Suzanna steht ganz vorne auf der Landungsbrücke. Ihr schlanker Körper ist wie ein gespannter Bogen an das hölzerne Geländer gedrückt, ihre Augen sind starr auf den winzigen dunklen Punkt weit hinten auf den Wellen gerichtet. Die Fähre vom Festland ist heute später dran als sonst. Gerade heute, denkt Suzanna. Neben ihr wartet eine alte Frau, in ihrer typischen schwarzen Kleidung der alten Frauen auf der Insel. Fröstelnd hält sie ihren dünnen Mantel zusammen, der wie eine Küchenschürze anmutet, ihre Schultern sind hochgezogen. Stumm, allein mit ihren Gedanken, schauen die beiden Frauen dem sich nur langsam nähernden Schiff entgegen.
Noch immer grollt das Gewitter in der Ferne. Den Bewohnern der Insel hat es vor gut zwei Stunden die seit Wochen erhoffte Abkühlung, den seit Monaten erwarteten Regen gebracht. Jetzt, mit Ankunft der einzigen Fähre am Tag, die morgens vom Festland ablegt und erst am Abend auf der Insel ankommt, ist die untergehende Sonne nicht mehr imstande, die frische Luft aufzuwärmen.
Die junge Frau dreht ganz langsam ihren Kopf zur Seite. Der Wind zerzaust ihre halblangen, kastanienbraunen Haare, immer wieder fliegen Strähnen vor ihre Augen. Sie schaut die neben ihr stehende alte Frau an, sieht in das zerfurchte Gesicht, betrachtet die streng nach hinten zu einem Dutt zusammengefassten grauen Haare. Demütig und dennoch stolz steht sie, die Hände gefaltet, an der Anlegestelle. Suzanna fragt sich, auf wen sie wohl wartet. Auf ihren Mann? Nein. Eventuell auf ihre Schwester? Vielleicht. Oder auf ihren Sohn? Ja, schon eher. Genau, denkt sie, ihr Sohn besucht sie nach ewigen Zeiten wieder auf der Insel. Wo die Mutter in ihrem kleinen Häuschen, weit weg von dem Hafenort, zu Fuß meist bergauf über zwei Stunden entfernt, umgeben von Macchia und vertrockneten Feldern, am Rande eines kleinen Pinienwaldes von Geburt an lebt. Suzanna ist überzeugt, nur so kann es sein, wie sie lebt und was sie jetzt hier macht.
Die Alte erinnert sie an Erzählungen aus ihrer Kindheit daheim. An die vergilbten Bilder im Fotoalbum, als sie auf dem Schoß ihrer Großmutter saß und mit großen Augen ihren Geschichten lauschte. Wie die Großmutter auf dem kleinen Bahnhof des Dorfes, in dem sie groß geworden ist, stundenlang gewartet hat. Bis ihr einziger Sohn, Suzannas Vater, endlich auf Fronturlaub nach Hause kam. Es ist die gleiche, kaum spürbare Unruhe. Die gleiche, leicht gebückte Haltung. Der gleiche, erwartungsvolle Blick. Damals führte er die Gleise entlang, bis sie zu einem winzigen Punkt verschmolzen. Heute geht er über das heftig bewegte, schaumgekrönte Wellenmeer, das vom Horizont verschluckt wird.
Suzanna ist sich sicher, die Frau neben ihr am Kai wartet auf den Sohn. Der nach fast fünfjährigem Auslandsaufenthalt, dort, wo er Arbeit und seinen Lebensunterhalt gefunden hat, an die Stätte seiner Geburt, in seine Heimat zurückkehrt. Im Gesicht der alten Frau stehen sie geschrieben, die Fragen. Wie sieht der Sohn heute aus? Wie wird er mich begrüßen? Was wird er als erstes sagen?
Die Fähre, die inzwischen den grünen Leuchtturm am Anfang des Hafenbereichs vom Hauptinselort erreicht hat, drosselt ihre Geschwindigkeit. Noch etwa elf, zehn Minuten, und sie wird angelegt haben.
Die alte Frau spürt, dass sie beobachtet wird von der jungen, die neben ihr steht. Bedächtig bewegt sie ihren Kopf und schaut das Mädchen aus dem Augenwinkel an. Fragt sich, wie alt sie wohl sein mag. Vielleicht fünfundzwanzig? Hübsch sieht sie aus, mit ihren dunklen Haaren, dem dunkelblauen Seemannspullover, der Jeans, den weißen Segelschuhen. Erwartungsvoll blickt Suzanna auf die langsam drehende Fähre in der aufschäumenden Gischt, leicht aufgeregt klopft sie mit ihren Fingern auf das Geländer am Kai.
Auf wen wartet wohl die junge Frau? Die Alte überlegt. Sind es die Eltern, die sie in ihren Ferien auf der Insel besuchen? Nein. Ist es ihre Freundin, die übers Wochenende kommt? Vielleicht. Oder ist es ihr Ehemann, der nun endlich nachgereist kommt, um gemeinsam mit ihr hier den Urlaub zu verbringen? Ja, schon eher. Vor drei Monaten haben die beiden geheiratet, nun wollen sie die längst fälligen Flitterwochen nachholen. Ihr Mann wollte unbedingt auf diese Insel, vielleicht hat er schöne Erinnerungen daran und möchte seiner jungen Frau nun ebenfalls das traumhaft Schöne zeigen. Jetzt ist seine Arbeit in der Fremde erledigt, und er kann endlich zu ihr kommen.
Das Mädchen erinnert die alte Frau an ihre Jugendzeit. An ihre erste Liebe. An die verbotenen Begegnungen mit ihrem ersten Freund im Pinienwäldchen an der Grenze des elterlichen Grundstücks zu dem der Nachbarn. Die ebenfalls nichts davon wissen durften. Sie erinnert sich an die heimliche Verlobung, zig Rosenkränze hat sie damals gebetet für diese Sünde. Dann an die überstürzte Heirat, als beide plötzlich erfahren sollten, dass er in den Krieg muss. Und an die wenigen Urlaube, wenn ihr junger Ehemann müde, abgekämpft und ausgemergelt mit dem Boot, das einmal wöchentlich übersetzte, auf die Insel kam. Es war der gleiche, zehrende Blick auf das Meer, auf den Horizont. Das gleiche, nervöse Bewegen der Hände vor der Ankunft. Die gleiche gekrümmte Haltung, die das bebende Zittern des Herzens zeigt, wenn das Boot endlich angelegt hatte und alle Menschen ausstiegen. In den Augen der jungen Frau leuchten sehnsuchtsvolle Fragen. Kommt er freudestrahlend auf mich zu? Nimmt er mich wirbelnd in die Arme? Liebt er mich noch wie am ersten Tag?
Ja, die alte Frau ist sich nun gewiss, dass es so ist. Das junge Mädchen gleich neben ihr am Kai, das inzwischen unruhig hin und her läuft, wartet auf ihren frisch verheirateten Mann. Der eine Woche später nun endlich seine junge Frau wiedersieht, um mit ihr den ersten gemeinsamen Urlaub, den Hochzeitsurlaub, hier auf dieser Insel zu verbringen.
Die Fähre hat angelegt, die ersten Fahrgäste verlassen das kleine Schiff. Ein junger Mann, siebenundzwanzig, achtundzwanzig Jahre, geht freudestrahlend an Land und zielstrebig auf die beiden wartenden Frauen zu. Nimmt zuerst die alte Frau in die Arme, drückt sie mit Tränen in den Augen fest an sich. Greift mit seiner linken Hand Suzannas Hand, umarmt sie gleichzeitig, küsst sie mit Tränen in den Augen fest auf den Mund.
Es dauert eine Unendlichkeit, bis er seine ersten Worte findet. Sie wären nicht nötig gewesen. Zu Suzanna gewandt, sagt er: meine Mutter. Zu seiner Mutter gebeugt: meine Frau.
(2005)
Der Caffè in meiner Tasse ist kalt, das Mineralwasser im Glas wird durch die Sonnenstrahlen, die die Tische und Stühle der kleinen Bar auf der Piazza jetzt ins Licht rücken, immer wärmer. Auf den Blättern der jungen Platanen, die um die Mittagszeit in den heißen Luftbewegungen, einer nur leichten Brise, sanft zittern, leuchtet Junisonne. Eine Sonne, deren Hitze aus einem wolkenlosen Himmel fällt. In dem Glas mit dem Wasser vor mir herrscht ein reges Treiben. Unentwegt, unermüdlich finden kleine Luftbläschen den Weg nach oben. Oben angekommen, findet die Lebendigkeit ein jähes Ende, um von unten oder rundum seitlich gleich wieder neue Luft zu schöpfen.
Ich nehme das Glas in die Hand und lasse das Wasser darin kreisen. Die Luftblasen fangen an zu strudeln, zu quirlen und verdichten sich auf ihrem inneren Drang nach oben zu einer Pirouette. Ein wildes Aufbrausen, ein Wirbel entsteht, farbenprächtig untermalt durch den Lichteinfall der Sonne, ein irisierendes Spektrum wie bei einem Regenbogen. Doch es ist sehr viel greller, mein Blick ist geblendet von der Fülle der Farben.
Die Piazza, fast menschenleer, nur in den Schatten bewegt sich noch ein wenig Leben, verflüchtigt sich vor meinen Augen. Sie verschwimmt zu einer Palette von Farben, zu einer Sinfonie von Tönen. Die alte Kirche mit dem leicht schiefen Turm, deren Uhr schon seit Jahren die Zeit zu vergessen scheint, die schmalen, eng geduckten Häuser mit ihren fröhlichen Blumenkästen an den Fenstern und den Pflanzenkübeln neben den Türen, der Marktstand mit der grün-weiß gestreiften Markise, darunter im Schatten das leuchtend bunte Obst und Gemüse, die Bänke mit den schmiedeeisernen Armlehnen und Füßen, die unter den wenig schattenspendenden Bäumen Spalier stehen, alles verdichtet sich zu einer einzigen Spirale, die meine Gedanken wegträgt. Immer höher, immer weiter. Fort von der Piazza, fort von dem kleinen Ort auf dem Hügel über dem Meer, fort aus der brütenden Mittagsglut einer gnadenlosen, einer unbarmherzigen Sonne.