Der Briefwechsel zwischen den Musikern W und D wird hier unverändert wiedergegeben. Tippfehler und sonstige Irrungen wurden bewusst nicht korrigiert, um die Texte in ihrer Einzigartigkeit nicht zu verfälschen.
Estevão Ribeiro do Espinho wurde 1973 in Rathenow geboren. Weil er es von jeher liebt, einsam seinen Blick über weite Landschaften schweifen zu lassen, wollte er immer schon Lokomotivführer werden. Dieser Berufswunsch wurde ab einem gewissen Alter von seinem Umfeld nicht mehr ernstgenommen. Notgedrungen promovierte er zum Dr. phil und veröffentlicht nun Texte.
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Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7392-9331-8
© Ribeiro do Espinho Fachmedien Berlin 2008
3. Auflage 2015
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K, W und D saßen vor ihrer frisch angemieteten Probe-Garage um den Grill herum, der ihnen gerade ihr Abendessen geliefert hatte. Es wurde langsam frisch, denn es war Mitte Oktober und die Klimaerwärmung noch nicht so fortgeschritten wie heutzutage. Das Licht und die weithin ausstrahlende Wärme der Glut lockten allerlei Insekten an.
D legte einige Äste in den Grill und schüttete etwas Benzin aus einem Kanister dazu, den der Vormieter der Garage hier zurückgelassen hatte. So entstand ein gemütliches Lagerfeuer. Motten, Käfer und anderes Getier zogen ihre Kreise und stürzten sich letztlich in die Flammen, wo sie knisternd verglühten, noch bevor der Winter ihnen den Garaus machen konnte. "Wisst ihr eigentlich, wie wir hier sitzen?", fragte K. Der Bandname, nach dem sie seit ein paar Tagen suchten, war gefunden.
Als W in Mülheim an der Ruhr erkrankte, öffnete er versehentlich den Doppelboden seines Koffers. Seit Jahren hatte er keinen Blick mehr hineingeworfen, die Zeit der illegalen Geschäfte lag lang zurück. Sein neues Standbein als freiberuflicher Amputeur entwickelte sich mit jeder Gesundheitsreform zu einer tieferen Goldgrube. So konnte W sich nun diesen kleinen Urlaub in Mülheim leisten.
Einst wurde in dem Koffer indiziertes Musikmaterial durch die düstere Welt des Telekommunikationsmonopols geschmuggelt. K, D & W waren oft gerührt beim Anblick der dankbaren Augen der wenigen Menschen, denen sie ein Exemplar davon überreichen konnten. Dann ging ihnen jemand an die Börse und das Geschäft zerbrach... Kurz gesagt: Der Koffer war nicht leer, einige Kassetten waren in die Ritzen gerutscht und wurden nun nach Jahren wiederentdeckt.
D's Anlage besaß noch ein Deck zur Wiedergabe von Bandmaterial, das wusste W. Ein letzter Spaziergang an den Ufern der Ruhr, von diesem Wasser würde er nie mehr trinken. Ihm ging's besser, also zurück nach Berlin. Er besuchte D, legte sie ein und drückte auf die Pfeiltaste. In der Kassette mit der Aufschrift ORWO AUDIO Cr Extra II_HiFi setzte sich das Band in Bewegung.
Die ersten Töne erklangen. Das waren sie! D und W probierten alle vier Kassetten durch, viermal Spectators of Suicide. Mit ihrem NEWREVOLUTIONARY-BASTARD-DEATH-ART-SOUND schrieben sie Geschichte und kreierten eine Musikrichtung, der keine damalige wie heutige Beatcombo gewachsen war.
15. November 1991: Nein, R hatte die Schnauze voll, er wollte nicht mehr, keine Radumdrehung, es ging nicht mehr weiter. Was blieb ihnen also an diesem Abend nach dem Genuss von The Fate, The Tone Dogs, Die Art & Sandow anderes übrig, als die restliche Nacht im Auto am Stadtrand von Brandenburg zu verbringen? Eine weise Entscheidung! Piep - technische Versuchssendung auf dem Sender der T... ertönte aus dem Radio.
T... wurde geboren. Das zentrale Werk der Spectators of Suicide, ein musikalisches Manifest, seiner Zeit weit voraus, für das neue Jahrtausend geschaffen. Lange haben die Spectators diese Songs unter Verschluss gehalten. In eurem Gedächtnis sollten sie leben und nur dort. Jetzt werden die Schatztruhen geöffnet.
Wir schreiben den 7. Mai 1992, den ersten Tag der legendären Bikerclub-Tour der Spectators of Suicide. Die Bandmitglieder K, W und D wachen am späten Vormittag in ihrer Probegarage auf, die sie in letzter Zeit auch immer häufiger zum Übernachten benutzen. Die Nacht war kalt und der Betonboden, auf dem sie ihre Schlafsäcke ausgebreitet hatten ist hart. Die Stimmung könnte besser sein.
E kommt vorbei und will sie vor ihrem ersten Auftritt etwas aufmuntern. D muss das Auto, mit dem sie zum Auftritt aufbrechen werden, von einem Bekannten holen, einen weißen Trabant 601 mit lindgrünem Dach. K und W sind genervt von den frühmorgendlichen Aufmunterungsversuchen E's und gehen spontan mit, angeblich weil sie unterwegs noch Kippen holen wollen. Als sie zurück zur Garage kommen, sehen sie, wie E gerade mit einer Sprühdose ihr Schlagzeug bearbeitet. "So konntet ihr einfach nicht auf Tour gehen", ruft er, als er in die entsetzten Gesichter der Spectators sieht.
E bearbeitet weiter fröhlich das Schlagzeug der Spectators und der goldene Siebzigerjahreglitter der Trommeln verschwindet unter schwarzer Sprühfarbe. Sie hatten die Schießbude einer abgewrackten Schlagercombo abgekauft und sie klang genauso dumpf, wie sie es haben wollten. Jetzt laden sie die klebrigen Trommeln in den Trabant, nur die Ständer passen in den Kofferraum, der Rest muss auf die Rückbank, auf der K mitfährt und ganz high wird von den Lösungsmitteldämpfen. Sie macht sich ein Bier auf, um das Gift aus ihrem Körper zu spülen.
Die Tour beginnt in Rathenow Nord. Dort gibt es einen Bikerclub, der "Sound’s" heißt und dessen Obermacker die Tourkontakte vermittelt hatte. Er ist ein bärtiger Typ, etwa Zweimeterzehn groß und spricht wie ein Jugendlicher, obwohl er sicher über Vierzig ist. Die Spectators gehen erst mal an die Bar, bevor sie ihren Kram aufbauen.
Soundcheck. W schließt seinen Bass an, spielt drei Töne und ist zufrieden. D fummelt noch eine Weile am Effektgerät seiner Gitarre herum, ist nicht zufrieden, geht aber trotzdem zurück an die Bar. K stellt wütend fest, dass sie in der Hektik um das frischgestrichene Schlagzeug vergessen hatten, die Fußmaschine mitzunehmen. Der Raum füllt sich langsam mit schmerbäuchigen älteren Herren, die versuchen böse auszusehen.
Der Obermacker gibt Zeichen, dass die Show beginnen solle, aber die Spectators haben Zeit. Gegenüber des Clubs befindet sich eine russische Kaserne. Die Mauer ist weiß gestrichen und einige Soldaten fegen mit Reisigbesen den Bürgersteig. Der Truppenabzug wird zwangsläufig kommen. Bald werden sie ihre Uniformen und Ausrüstung für ein paar Flaschen Wodka verhökern, für Bares auch die Waffen. Auch die Spectators werden zuschlagen.
K wird unruhig wegen der fehlenden Fußmaschine und will Gras rauchen, aber W und D haben Angst, dass sie dann einpennt und nehmen ihr die Tüte aus der Hand, worauf sie noch wütender verschwindet und die beiden gemütlich aufrauchen können. Als K nach einer Stunde noch nicht wieder da ist, wird das Publikum langsam unruhig. W und D beginnen einfach zu spielen. Der Club besteht aus einer aus großen Spanplatten zusammengenagelten Hütte, die bei jedem von W's Bassanschlägen mitvibrieren.
Ihm gefällt das und er sucht die richtige Frequenz, um die Vibration so groß wie möglich werden zu lassen. Dazu singt und brüllt er "Versuchssender der T…" ins Mikrofon. D schrammelt dazu auf der Gitarre und unterbricht seine Akkorde immer wieder durch schrille hohe Töne, um die biersaufenden Biker aufzuschrecken. Die ersten der Biker verlassen den Raum, als K wieder hereinkommt, sich ans Schlagzeug setzt und drauflostrommelt.
Wegen der fehlenden Fußmaschine tritt K einfach mit der Stahlkappe ihrer grünen Doc-Martens-Stiefel gegen das Fell der Basstrommel, bis es reißt und ihr Bein stecken bleibt. Sie zieht es heraus steht auf und trommelt sich mit den Sticks in Ekstase. Der Obermacker kommt auf die Bühne aus Gabestaplerpaletten, drückt D die Gage in die Hand und will die Band einfach durch die Hintertür hinausschieben. Zum Weiterspielen hatten sie ohnehin keine Lust mehr, das ist ihnen egal, Hauptsache die Kohle ist da.
Aber es war abgemacht, dass sie sich ohne zu bezahlen am Buffet bedienen konnten und das Freibier fließen würde. Darauf wollen sie nicht verzichten. Sie kommen durch den Haupteingang wieder rein und stellen sich an die Bar, nachdem sie sich ihre Teller mit dem klumpigen Nudelsalat vollgeladen hatten. Das Zeug schmeckt so widerlich, dass D unter die Theke kotzen muss, weil er es sowieso nicht mehr zum Klo geschafft hätte, das sich hinten auf dem Hof befand.
Wahrscheinlich hatte der Obermacker den Scheißfraß selbst zusammengerührt. Frauen schienen diese "Biker" nicht zu haben, denn es war kein weibliches Wesen zu sehen, obwohl diese normalerweise eigentlich bei solchen Partys dabeiwaren, auch wenn sie sich im Hintergrund zu halten hatten. Es wird unruhig im Raum, Rangeleien entstehen, wieder versucht man die Spectators herauszudrängen.
D verliert den Boden unter den Füßen, der Obermacker hat ihn hochgehoben und ihn sich auf den Rücken geworfen, kurz danach schmeißt er ihn in das verwahrloste Blumenbeet vor der Hütte, das noch aus der Zeit stammt, als sich hier ein "Getränkestützpunkt" befand. Den beiden anderen geht es genauso und sie werfen noch ein paar Scheiben des "Sound’s" ein, als sie mit ihrem Trabant davonfahren. D sitzt am Steuer und hat das Gefühl, die Biker würden sie verfolgen. Er hat schon einige Bier getrunken und den Orientierungssinn verloren.
Er biegt in eine Seitenstraße ein und sie landen in einem bereits geräumten Teil der russischen Kaserne. Dort gibt es kein Licht, es ist inzwischen dunkel und D hat vergessen, die Scheinwerfer einzuschalten. Als er nach dem Schalter sucht, fahren sie gegen eine Mauer, deren oberer Teil abfällt und die Motorhaube des Plastikautos unter sich begräbt. Als sie entfernte Stimmen in russischer Sprache hören, flüchten sie zu Fuß in ein gegenüberliegendes Waldstück, wo sie in einer Mulde ein paar Stunden geräuschlos liegen bleiben. Sie brauchen neue Instrumente und ein Auto. Morgen stehen die Hells Angels auf dem Programm.
Marina war immer wie eine Mutter für die Spectators. Wenn die drei im "Bei Marina" auftauchten, drückte sie sie alle gleichzeitig so fest an ihren riesigen Busen, dass ihnen fast die Luft wegblieb. Sie tranken hier fast jeden Abend das billige Flaschenbier und wenn der Geldbeutel es hergab, bestellten sie Bauernfrühstück und Marina schlug zwei Dutzend Eier zu dem braungebratenen Speck in die Pfanne, quirlte Kartoffeln darunter und servierte es ohne Umzufüllen auf dem Ecktisch, an dem die Spectators immer saßen.
Oft verbrannten sie sich die Hände am heißen Pfannenrand und nahmen das zum Anlass, am nächsten Tag nicht zu proben und gleich nachmittags wieder bei Marina einzukehren. Außer den Spectators besuchten meist nur Erwin und Adolf die Lokalität, beide etwa sechzig Jahre alt und schwere Alkoholiker. Jeden Tag schütteten sie mengenweise Schnaps zum Bier hinunter, Adolf immer Klaren, Erwin den "Braunen", eine Art Weinbrand billigster Kategorie.
Zuerst tranken Adolf und Erwin immer voll konzentriert und ohne etwas zu sagen, aber wenn sie den nötigen Alkoholpegel erreicht hatten, fingen sie an, sich gegenseitig herunterzumachen. So wie sie da saßen, mit ihren unter der Tischkante eingeklemmten Bierbäuchen, inspirierten sie die Spectators zu einer ganzen Reihe neuer Songs. Eines Tages kamen die Bandmitglieder auf die Idee, zu Marinas Geburtstag ein Überraschungskonzert in ihrer Kneipe zu geben. Es sollte eine Veranstaltung im kleinen Kreis werden, aber am Tag zuvor erzählten sie es doch irgendwo herum und es tauchten etliche der berüchtigten Spectators-Fans in der Kneipe auf.
Marina freute sich zunächst über den unerwarteten Umsatz. Die Spectators wollten gerade zu spielen beginnen, nachdem sie eine mit Kunstblut gefüllte Geburtstagstorte mittels Feuerwerkskörpern in die Luft gesprengt hatten, als Erwin und Adolf sich mit einigen der neuen Gäste anzulegen begannen. Marina war noch dermaßen von der Idee mit der Torte gerührt, dass sie gar nichts davon mitbekam.
Bald trudelte auch schon Adolf mit seinen 180 Kilo Lebendgewicht auf die Theke zu und riss sie aus der Verankerung. Das Fassbier sprudelte aus den abgerissenen Leitungen und einige Vandalen hingen sich sofort mit dem Mund daran, bis ihnen der Schaum aus Nase und Ohren spritzte. Die Spectators spielten einfach weiter, um die Situation nicht unnötig eskalieren zu lassen, aber es war zu spät.
Erwin wurde bereits herumgeschubst und zerstörte bei jedem Anecken ein weiteres Stück des fragilen Inventars. Marina warf einen nach dem anderen der Unruhestifter hinaus, aber sie konnte es nicht mehr verhindern. Der Laden war total im Eimer. Die Spectators packten lieber schnell ihre Sachen zusammen und gingen noch woanders was trinken. Aber so schön wie im "Bei Marina" wurde es nie wieder.
Spectators-Winter-Cocktail
Zutaten:
40 ml Himbeergeist
3 Esslöffel Waldhonig
60 ml Schwarzer Johannisbeersaft
Zubereitung:
1. Gießen Sie den Johannisbeersaft in einen Wasserkocher und schalten Sie ein.
2. Vermischen Sie den Himbeergeist in einem Trinkglas mit dem Waldhonig.
3. Geben Sie den nicht mehr kochenden Johannisbeersaft hinzu.
Tipps:
Im Sommer einfach den Waldhonig durch braunen Zucker ersetzen!
Verwenden Sie nur Wasserkocher, die mindestens ein Jahr lang nicht entkalkt worden sind! Die in den Johannisbeersaft übergehenden Kalkmoleküle stellen eine wichtige Geschmackskomponente dar.
Der Spectators-Winter-Cocktail entstand in der Frühphase der Band Spectators of Suicide, deren Mitglieder damals häufig in kreativen Phasen in ihrem Proberaum übernachteten, der nicht beheizbar war. Wie alle genial einfachen Ideen entstand auch dieser Cocktail aus einer Notlage heraus, da es kalt war und einfach keine außer den oben genannten Zutaten für ein Heißgetränk im Proberaum vorhanden waren.
Später schenkte die Band den Cocktail auch bei Ihren Konzerten aus (einfach die im Rezept genannten Mengenangaben mit einer beliebigen Potenz von 10 multiplizieren). Besonders in der Gothik-Szene wurde er zum "Kultgetränk" und auch von einer Cateringfirma angeboten, die ihn aufgrund seiner dunklen Farbe Black Shadow nannte. Für uns wird er immer der Spectators-Cocktail bleiben.
Der Song SCHÄDELKNOCHEN stellt eine philosophisch-musikalische Interpretation des Verhältnisses von Können und Macht dar. Die Entstehungsgeschichte ist schnell erzählt: Während der 96er Tour liegen die drei Spectators in einem ihrer Hotelzimmer auf dem Doppelbett. Sie haben alle ein eigenes Zimmer, bevorzugen es aber, die Nachmittage gemeinsam zu verbringen, um die Zeit totzuschlagen, von der sie auf ihren Touren viel zu viel haben.
Die Vorbereitungen überlassen sie vollkommen ihrem Tourmanagement. Meist erscheinen sie nicht einmal zum Soundcheck. Sie wollen ihre Musik nicht zu stark professionalisieren, wo wir auch schon wieder beim Thema wären. Im Fernsehen läuft eine Dokumentation, in der ein Forscherteam berichtet, wie bei der Untersuchung altägyptischer Mumien festgestellt wurde, dass man bereits 2000 vor dem Beginn der sogenannten christlichen Zeitrechnung am Nil in der Lage war, Gehirntumore zu entfernen, indem man zunächst ein faustgroßes Loch in die Schädeldecke des Patienten schabte.
Durch das Loch schnitt man den Krebs heraus und nähte wieder zu. Dabei wurden die betroffenen Stellen zunächst nur mit der Haut bedeckt, was aber wahrscheinlich zu Unannehmlichkeiten beim Patienten führte, weshalb man später Metallplatten zum Schutz der verbliebenen Gehirnmasse einsetzte. Diese technische Schilderung, die auch mit Bildern von Medizinmännern afrikanischer Völker unterlegt wurde, die diese Techniken immer noch anwenden, löste bei den Spectators tiefe Abscheu aus.
Der Ekel war aber nicht vom Anblick wabbeliger Gehirnmasse ausgelöst worden, sondern von der entstehenden Abhängigkeitssituation, die eine solche Operation unweigerlich schuf. Eine heiße Diskussion entbrannte, die schließlich im Song SCHÄDELKNOCHEN lyrisch und musikalisch auf den Punkt gebracht und bereits beim abendlichen Konzert das erste Mal aufgeführt wurde. Mit der Schulweisheit, dass Wissen und Können von den Pharaonen zur Machtausübung benutzt wurden, hielten sich die Spectators nicht lange auf.
Nicht umsonst hatten Macht und Können im lateinischen den selben Wortstamm: Potenz war es, die alles lenkte. War es in der Steinzeit körperliche Potenz gewesen, die die Machtstrukturen bestimmte, so war es nun zunehmend geistige Potenz, aber auch darauf aufbauend angeeignetes Wissen und Können. Ihre geistig-künstlerische Potenz konnten die Spectators nicht verleugnen, auch wenn sie sie nie in den Vordergrund stellten.
Ihr Können musste aber als Konsequenz dieser Erkenntnisse in engen Grenzen gehalten werden, wollten sie nicht von den Verlockungen der Macht korrumpiert werden, weshalb sie auch nie im klassischen Sinne probten. Eigentlich komponierten sie nur ständig neue Stücke. Musik war dabei für sie wie Sex, es musste ein bisschen wehtun.
Der Titel I FALL DOWN wendet sich mithilfe von surrealen Visionsbildern gegen die weit verbreitete pseudo-objektive Auffassung, die uns bekannten Dinge seien ein Komplex von Sinnesempfindungen. Schließlich würde dies logisch und syntaktisch erweitert bedeuten, dass jeder Satz, der eine Dingbezeichnung enthält, den gleichen Gehalt hätte wie eine Klasse von Sätzen, in denen keine Dingbezeichnungen, sondern Bezeichnungen von Sinnesempfindungen vorkommen. Solche überholten vulgärpsychologischen Vorstellungen werden deshalb vom Text dieses und denen vieler anderer Spectators-Songs ad absurdum geführt.
Am 04. Juli 1993 gaben die Spectators Of Suicide einen ihrer raren Medienauftritte. Sie erklärten sich bereit, eine Session für den Hallenser Piratensender "Friedenstaube" zu spielen. Dieser Radiosender, der zu Ehren der Spectators meist auf der Frequenz 101,3 MHz ausstrahlte, wurde von SAtA(n) einem alten Freund und treuen Fan der Künstler geleitet. SAtA(n) hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen starken marxistischen Jugendverband in der Stadt zu etablieren.
Die Spectators wollte er als Zugpferd. K, D & W stimmten dem Auftritt nach kurzer Diskussion zu. Sie versprachen sich ein neues Gegengewicht zu den aktuellen Machthabern, eine neue Machtkonzentration die als weitere Kraft mit den existierenden Mächten konkurriert, somit das System destabilisiert und letztlich durch den entsprechenden Anstoß zum Einsturz bringt, gleich dem Kampf des Black Shadow mit unseren Gehirnen.
Der Piratensender war in einem alten azurblauen Barkas untergebracht, der ständig in der Hallenser Innenstadt unterwegs war, um den Fahndern die Peilung zu erschweren. Eine wirkliche Verfolgung gab es jedoch zu jener Zeit gar nicht, die Hallorenpolizei war noch zu sehr mit den Umstrukturierungen der Wende beschäftigt und bekämpfte sich selbst. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, dachte sich SAtA(n). Die Spectators mussten um Punkt 13 Uhr aus dem Hausaufgang der Triftstraße 4 rennen.
Der Barkas fuhr in diesem Moment mit verlangsamter Geschwindigkeit vorbei, die Seitentür sprang auf und die Spectators hinein. Die Tür wurde sofort wieder zugeschlagen, das kostete der langen blonden Mähne von D einige Haare. SAtA(n) fuhr das Fahrzeug in den Weinbergweg. In der Schwemme warteten bereits die Mitglieder des MJV Ortsgruppe H/Saale auf den Beginn ihrer ersten gemeinsam organisierten geschlossenen Kulturveranstaltung. Höhepunkt des Nachmittags waren die Spectators Of Suicide.
Die drei Spectators mischten sich unter die Delegierten und sahen sich das Programm bis zu ihrem Auftritt an. Am interessantesten waren hier noch die mehrstimmig gesungenen Kapitalauszüge der Gruppe Amboss & Lineal. Um 16 Uhr waren die Spectators an der Reihe. Auf der Fahrt nach H entschieden sie, NICOTINE STAIN aufzuführen. Außerdem schrieben die Spectators im Zug noch das neue Stück LEAVE THE SUNNY SIDE. SAtA(n) schnitt die Stücke für "Friedenstaube" mit und war sehr gerührt als die Spectators ihren nagelneuen Song seinem Geburtstag widmeten.
Als K, D & W sich anschließend das Band anhörten, mussten sie leider feststellen, dass die Aufnahmen übersteuert waren. Wut stieg in ihnen hoch und die Veranstaltung drohte zerstörerisch zu enden. SAtA(n) konnte die Gemüter mit dem Hinweis auf in der Triftstraße eingelagerten Himbeergeist, Schwarzen Johannisbeersaft und braunen Zucker noch einmal beruhigen. Auch T wurde noch gesungen.
Wir schrieben das Jahr 2000. Die Spectators waren frustriert und verärgert, sie konnten sich nur schwer an die neue Jahreszahl gewöhnen und der Weltuntergang hatte ohne sie stattgefunden. Ihr Manager R hatte alle Hände voll zu tun, sie bei Laune zu halten, da kam ihm eine großartige Idee. Er schlug den Spectators vor sich in Vorbereitung auf die Produktion ihres neuen Albums vierzehn Tage lang völlig von der Außenwelt abzuschneiden und in den Sumpfgebieten vom Wolzensee zu zelten.
In der Biographie der Spectators Of Suicide gilt diese Zeit als "das Schwarze Loch". Niemand von ihnen hat bis heute auch nur ein Wort über diese vierzehn Tage verloren. Sicher ist, dass sie sich verändert hatten. Noch am Tag ihrer Rückkehr in die Zivilisation gaben K, D & W unter großer Anteilnahme die Auflösung der Spectators Of Suicide zum 31. 12. 2000 bekannt. Anschließend begannen sie die Albumproduktion. Akustische Fassungen einiger Spectators-Hits sollten aufgenommen werden.
Die Spectators hatten immer ein Faible für die Wandergitarre. Ungewöhnlich bei der Produktion des neuen Albums war schon die Tatsache, dass die Spectators zwei Tage (29. & 30. 08.) zur Fertigstellung einplanten. Derart lange hatten sie sich noch nie in einem Studio aufgehalten. Die folgende Akustikfassung des Songs I FALL DOWN zeigt den totalen Persönlichkeitswandel der Spectators auf. Aalglatt und extrem lässig kamen sie plötzlich daher. Nun war für die Spectators eine ständige Veränderung ihres Sounds durchaus normal, ihre überraschenden Stilmittel machten einen Großteil ihrer Bekanntheit aus. In einem Punkt blieben sie sich jedoch treu, das Album SPECTATORS OF SUICIDE NAKED wurde nie veröffentlicht. Lediglich ein paar Kopien wurden an gute Freunde weitergeleitet.
Die Spectators spielten in Berlin, der Metropole, in die sie früher immer zu den Konzerten ihrer Idole gereist waren. Jetzt waren sie für die wendegeschädigten DDR-Jugendlichen selbst zu Idolen geworden. Die tauschten die Spectators-Kassetten, die sie heimlich bei ihren Konzerten aufgenommen hatten und tranken den Black Shadow.
Ein Freund der Spectators hatte gerade seine Lehre als Hotelfachwirt im Interhotel Neptun abgebrochen, nachdem er in seiner Stasi-Akte lesen musste, dass er offensichtlich der einzige Angestellte dieses Hotels gewesen war, der nicht zugleich für diesen Verein arbeitete. Auch ihm hatte man seinerzeit eine "Verpflichtungserklärung" angetragen, er hatte sich ein paar Tage Bedenkzeit ausgebeten und allen seinen Freunden von dem Angebot erzählt. Seitdem hatte der nette Offizier nie mehr von sich hören lassen.
Jedenfalls bot der Freund nun den Spectators an, ihre Tour zu begleiten und dabei den Black Shadow auszuschenken, den er zwar als gelernter Barkeeper ekelhaft fände, aber warum sollte man nicht ein bisschen Geld damit verdienen? Gleich beim ersten Konzert war die Nachfrage so groß, dass der Himbeergeist ausging, weshalb die leeren Flaschen einfach mit Brennspiritus und Wasser aufgefüllt wurden. Keiner merkte etwas.
Ein total besoffener Spectators-Fan stand an der Theke und bei der letzten Silbe seiner Bestellung – natürlich ein Black Shadow - kotzte er dem Freund der Spectators quer über den Tresen eine stinkende schwarze Suppe auf das T-Shirt. Der Freund sprang darauf über die Theke und schleifte den Besoffenen unter den Armen gepackt zum Ausgang. Dabei rief er immer wieder: "Typ, Du kotzt mich an!". Bei den Spectators, die diese Szene von der Bühne aus beobachteten, sorgte das für große Belustigung und spontan improvisierten sie den Song Black Shadow.
Ihren letzten Bandtag zelebrierten die Spectators mit einem Konzert auf der zentralen Ampelkreuzung ihrer Heimatstadt Rathenow. Die Stadt stellte ihnen als viel zu späte Anerkennung und Entschuldigung eine Rundbühne in der Mitte der Kreuzung zur Verfügung. Die Show startete um 18 Uhr, sie mussten sichergehen, vor Mitternacht zu verschwinden. Auf der über die Bühne gespannten Leinwand erstrahlten chronologisch geordnete Fotos der SOS-Ära.
Die Spectators landeten inmitten der Fans und boxten sich zu ihren Instrumenten durch. Sie begannen den Abend mit AUS, während die Fotos auf der Leinwand verbrannten. Es folgten fünf Stunden Show mit spektakulären Tanzeinlagen. Nachdem mit T die letzte Zugabe beendet war, betrat R mit einer selbstgefertigten Kanone die Bühne. Er begann mit monotonem Schritt am Rand der Bühne entlang zu laufen. Mit der eigens für diesen Anlass konstruierten Waffe schoss er CDs ins Publikum. Die Tonträger mit der Aufschrift SPECTATORS OF SUICIDE - DIE STILLE RILLE gelten als erstes und letztes Spectators-Album.
Die Spectators erfüllten sich damit den lang gehegten Wunsch, ihr Debüt-Album noch einmal als CD mit absoluter Stille zu veröffentlichen. Das einzige Stück dieses Albums DIE STILLE RILLE ist mit 79 Minuten und 23 Sekunden der längste Spectators-Song überhaupt, abgesehen von den Improvisationen anderer Stücke, die sich auf den Konzerten der Spectators schon einmal über mehr als zwei Stunden hinziehen konnten. Während R also das tobende Publikum mit nagelneuem Material verwöhnte, zogen die Spectators lange Leitern unter der Bühne hervor und begannen den Mast zu erklimmen.
Nach und nach hängten sie dort alle ihre Instrumente an den Nagel. Die Spectators wurden ausgeflogen, das war’s. Jetzt brachen alle Dämme. Die Fans stürmten die Bühne und versuchten Teile der Instrumente zu erhaschen. R brachte sich in Sicherheit und ein riesiger Tumult brach aus. Läden wueden geplündert. Die Ordnungshüter griffen hart durch. In die Geschichte ging dieser Tag als Rathenower Silvesteraufstand ein.
Den Spectators wurde unterstellt, sie hätten die Massen aufgewiegelt und versucht, die Stadt im Chaos zu versenken. Ein Untersuchungsausschuss stellte schnell die Unschuld der Musiker fest, das Ergebnis wurde der Öffentlichkeit allerdings vorenthalten. Die Stadt nutzte die Krawalle, um den geplanten Eintrag der drei ins Goldene Buch abzusagen. Bis heute wurden die Spectators nicht rehabilitiert und legen wohl auch keinen Wert darauf. Was aus den Mitgliedern der Band nach 2000 wurde, darüber ist wenig bekannt.
Sicher ist nur, dass sie ihre 1996 in São Paulo gemeinsam gegründete Sambaschule noch bis 2004 weiter betrieben. Auf ihrer Brasilientour 1995 war ihnen aufgefallen, dass viele Brasilianer die zum Tanzen auf die Spectators-Stücke notwendige Hüftspannung vermissen ließen. K, D und W leiteten deshalb persönlich die entsprechenden Kurse. Sie machten aber immer deutlich, dass es sich bei der Schule nicht um ein Kunstprojekt handelte und sie somit nichts mit den Spectators Of Suicide zu tun hatte.
Die Angebote kamen ungebeten. R hatte zentnerweise daumendicke Verträge für die Spectators durchgeackert und sagte nur: Alles Scheiße. Punkt. Und normalerweise war er ein ziemlich gesprächiger Zeitgenosse, eine regelrechte Quasselstrippe, wenn man es genau nahm. Die Spectators hatten ohnehin keinen Bock, sich der Musikindustrie anzubiedern, die sie knebeln, mit einigen Almosen abspeisen und sie letztlich zertreten würde wie einen räudigen Feuerkäfer.
Immer hatten sie ihre Musik verschenkt, umsonst Konzerte gegeben und ihre Tapes zum Leerkassettenpreis weiterverkauft. Warum sollten sie es mit ihrer neuen DVD anders machen? Schnell ließen sie in Mazedonien die Spectators-Story auf importierte Markenrohlinge pressen und von 0001 bis 5101 individuell durchnummerieren, wobei die Pressung Nummer 0001 auf einem mathematischen Missverständnis beruhte und sicher ein besonderes Sammlerstück werden wird.
Die Spectators holten die fertigen DVDs mit einem azurblauen Barkas ab, den sie sich vor mehreren Jahren von einem Hallenser Bekannten ausgeliehen hatten. Die Spectators waren überrascht und ein wenig enttäuscht, dass sämtliche DVDs in zwei Umzugskartons Platz fanden. Aber schließlich hatten sie sie ohne Hüllen bestellt und so konnten sie wenigstens weiter im Barkas übernachten. Trotz der geringen Größe fielen die DVD-Kartons bei jeder Zollkontrolle auf und die Spectators mussten einige Male eine andere als die geplante Route einschlagen.
Beim Grenzübertritt wurde jedes Mal ein saftiges Bakschisch fällig. Diese Summen hatten die Spectators nicht einkalkuliert, auch nicht die zweiundzwanzig Liter Kraftstoff und anderthalb Liter Öl, die der Barkas je hundert Kilometer Fahrt verbrauchte. Das Frontscheibenputzen an albanischen Straßenkreuzungen erwies sich als nicht sehr einträglich, auch gab es Ärger mit konkurrierenden nordafrikanischen Punkkapellen, so dass sich die Rückkehr der Spectators aus Treibstoffmangel um mehrere Monate verzögerte.
Trotz der horrend gestiegenen Kosten verschenkten die Spectators die DVDs einfach wie geplant an ihre Fans! Inzwischen gibt es nur noch wenige Restexemplare, die die Spectators nur herausgeben, wenn sie per E-Mail eine einleuchtende Begründung erhalten, warum sie die DVD gerade an den Schreiber verschenken sollten. Aber wer weiß schon, was für die Spectators ein einleuchtender Grund ist?
Das Chaos erfasste die Zentrale des Offenen Kanals in der Berliner Voltastraße. Hunderte Anrufe und E-Mails gingen während der ersten Ausstrahlung der Spectators-Story im Mai 2008 im Studio ein. Wie immer spalteten die Spectators die Nation, so wie ein frisch gewetztes Hackebeil sprödes Feuerholz in tausend Teile zerspringen lässt. Ausrufe der Begeisterung und üble Beschimpfungen mussten die entnervten Mitarbeiter des OKB während der 50minütigen Sendezeit über sich ergehen lassen.
Am besten gefiel den Spectators an der OKB-Resonanz, dass auch etliche besorgte Bürger nachfragten, ob der Offene Kanal eine technische Störung habe, weil minutenlang ein "Testbild" eingeblendet gewesen sei. Die Irritation war perfekt und genau so hatten die Spectators es gewollt. Das sogenannte Testbild war natürlich eine Anspielung auf die Geschichte der T-Songs und sprengte gleichzeitig den Rahmen von Raum und Zeit, wie es kein Regisseur zuvor auch nur annähernd zustande gebracht hatte.
Die Spectators waren mit diesem Verlauf vollauf zufrieden, auch wenn sie die Sendung nur per Internet-Übertragung in ihrem brasilianischen Exil verfolgen konnten. Sie luden uns als Produzenten der Spectators-Story spontan zu einer Haus-Story ein, bei der das Material für diesen dritten Teil der Filmreihe gesammelt werden konnte. Wir steckten also unser Diktiergerät in den Koffer und verließen das Land gen Westen.
Im zweiten Teil der Spectators-Story erwähnten wir bereits die Samba-Schule der Spectators-Mitglieder in São Paulo. Zur Zeit der Fertigstellung von Teils Zwei war über diese Schule noch wenig bekannt. Inzwischen haben unsere Recherchen neue Informationen zutage gefördert. Tatsächlich schirmten die Ex-Spectators ihre Schule lange Zeit hermetisch von den Medien ab. Sie wollten damit sowohl ihre Schüler als auch sich selbst vor der Presse schützen, die sich auf jedes Detail aus ihrem Privatleben stürzte wie eine Schar ausgehungerter Prekariats-Kinder auf den täglichen Eimer Spaghetti mit Ketschup-Soße.
Nun würden wir endlich exklusive Einblicke in das brasilianische Exil der Spectators erhalten. Wir erwarteten braungebrannte Aussteigergestalten, die uns abgeklärt mit einem Glas Caipirinha in der Hand durch ihr Strandhaus führen und ihre Lebensgeschichte mit einem Augenzwinkern erzählenwürden. Und genauso war es dann auch. Nur dass in der Caipirinha Eis und Zucker fehlten. Wie die Spectators uns erklärten, ist das die in Brasilien übliche Zubereitungsmethode und alles andere eine Erfindung des deutschen Gaststättengewerbes, um einen Ersatz für den Black Shadow zu schaffen, der nach der erfolgreichen Klage der Spectators nicht mehr vermarktet werden durfte.
Wir waren begeistert, alles war so wie wir es uns vorgestellt hatten. Nur trafen wir uns nicht in einem Strandhaus. Wie die Spectators uns erklärten, gab es in São Paulo gar keinen Strand und sie hatten sich die Stadt gerade deshalb für ihr Exil ausgewählt, weil sie jegliche Art von Strand hassten, seit sie seinerzeit am Wolzensee die Bandauflösung beschlossen hatten. Das erklärte auch, warum die drei nicht braungebrannt waren, sondern ihren bekannten weißen Teint beibehalten hatten, der so oft als perfekter Kontrast zum Black Shadow beschrieben worden war.
"Schwarz wie Ebenholz, weiß wie Schnee", hatte ein "Journalist" einmal in einem Artikel über die Spectators gedichtet, natürlich war das nicht so bewundernd gemeint, wie es klang, sondern enthielt eine sarkastische Anspielung auf die Drogengerüchte, die sich in dieser Zeit um die Band rankten. Aber zurück zum Interview. Es war also fast alles so, wie wir es uns vorgestellt hatten, außer dass die Spectators nicht über ihre Lebensgeschichte mit uns sprechen wollten, sondern ausschließlich über ihre Zukunftspläne.
Wir fragten die Drei also, wie denn ihre Zukunftspläne aussähen. Es folgte minutenlanges Schweigen. Unsere Nachfrage, was sie sich in nächster Zeit an Aktivitäten vorstellen könnten, beantwortete W mit der Gegenfrage, was wir uns denn in dieser Hinsicht vorstellen könnten. Wieder herrschte einige Zeit lang das Schweigen, bis wir uns trauten, mögliche Szenarien eines Comebacks der Spectators anzusprechen. Die Drei ermutigten uns mit Kopfnicken und interessierten Nachfragen zu immer neuen Phantasien.
Während des gesamten Interviews machten sich die Bandmitglieder eifrig Notizen. Erst beim späteren Abhören des Bandes in unserem Diktiergerät stellten wir fest, dass wir gar kein Interview geführt hatten. Einen Moment lang hatten wir das Gefühl, dass die Spectators mit unserer Hilfe ausloten wollten, wie ein Comeback der Band tatsächlich aussehen könnte. Aber obwohl wir diesen Gedanken begeistert aufgenommen und ausgewalzt hatten, gibt es bis heute keine Anzeichen für eine Wiedervereinigung.
In jedem Fall hatte sich der Besuch bei den Spectators gelohnt. Auch wenn er etwas anders verlaufen war, als wir es uns vorgestellt hatten. Aber genau dafür lieben wir die Band schließlich: Dass sie uns immer wieder überraschen, auch wenn es ein bisschen wehtut. Und wenn wir auch kein Interview bekommen haben, das wir hier wiedergeben könnten, so fiel uns doch sensationelles Material in die Hände. Wir lasen heimlich das Manuskript eines phantastischen Romans mit dem Titel "Die Grimpler", an dem die Spectators offensichtlich arbeiten und drehten ebenso konspirativ in der Spectators-Sambaschule.
Der Ausschnitt in der im Internet zugänglichen Video-Version der Spectators-Story Brazil zeigt, wie K (links) einer jungen Brasilianerin die Abschlussprüfung der Sambaschule abnimmt. Es ist kaum zu glauben, aber das Video wird hier in realer Geschwindigkeit wiedergegeben, die Musik der Spectators wird während der Prüfung allerdings um das Dreifache beschleunigt. Die junge Frau, die sie gleich sehen werden, hat übrigens knapp bestanden. Mit dem begehrten Zertifikat steht dem ehemaligen Straßenkind nun die Welt des Showbusiness weit offen.
Bereits wenige Wochen nach der Ausstrahlung tauchten auf MTV und VIVA Musikvideos auf, die sichtlich vom ersten Teil der Spectators-Story inspiriert waren. Rapper Roger tanzte durch das Spectators-Testbild, andere versuchten sich an der Darstellung von Zeit ohne Raum, ohne dabei die künstlerische Prägnanz der Spectators-Story zu erreichen. "Billige Plagiate" schimpfte R und bot den Spectators an, Millionen an Schadenersatz einzuklagen. Die Drei winkten nur jovial ab. Sie waren es gewohnt, anderen als Idole und Kopiervorlage zu dienen.
Die Nektarine im Pfirsichspelz
Niedertracht reifte in ihr.
Aalglatt geworden.
Des Überflusses überdrüssig.
Den fauligen Odem
des eigenen Verderbens
im Nacken spürend.
Kaum mehr begehrt
wie zuvor.
Kein Vorwurf ist möglich,
wer sollte es wagen?
Zu speien
den ersten Stein.
Sommer
Wärme,
gleißendes Licht,
reizender Staub,
Ferien und Kugeleis,
erwacht die Welt der Insekten.
Das einzig Tröstliche daran
der Tomaten Frische.
Guten Tag lieber W!
Meine herzlichsten Glückwünsche zum Geburtstag! Ich kann leider nicht nach H kommen. Habe hier irgendwie total den Überblick verloren, mich in letzter Zeit ziemlich hängen lassen, jetzt weiß ich gar nicht, wo ich mit dem Aufholen anfangen soll. Zu allem Überfluß haben mich auch noch diverse Handwerker gequält. Die Kellerfenster sind seit ich eingezogen bin kaputt und die Wohnungsbaugesellschaft wollte Geld sparen, wozu braucht man auch Kellerfenster? Jetzt waren die Leitungen bis unters Dach zugefroren. Die Sanitär - Kumpels haben zwei volle Arbeitstage gebraucht, um das zu reparieren. Bei der Gelegenheit haben sie auch alles auseinandergenommen, was es in meiner bescheidenen Küche auseinanderzunehmen gibt. Aber über so etwas rege ich mich gar nicht mehr auf. Da habe ich mit der Telekom schlimmeres erlebt. Jetzt waren sie allerdings da und haben den Anschluß gelegt. Silvester habe ich auf einer ruhigen Party verbracht. War ganz angenehm. Aber irgendwie muß jetzt mal wieder die Normalität in Sachen Nikotin- und Alkoholgenuß und Schlafrhythmus einkehren. Ich weiß auch noch gar nicht, ob ich zu Bs Einweihung fahre, das werde ich wohl spontan entscheiden. Die kommende Woche jedenfalls wird von gemütlichen Skat - und Leseabenden ohne Aufregung und Exzesse bestimmt sein. Das habe ich mir jedenfalls fest vorgenommen. Nichts desto trotz wünsche ich Dir natürlich eine berauschende Party. Ich schicke Dir ein Buch mit Geschichten wie aus R, H und B und eine Artwork - Kassette. Ich hoffe, Du kannst was damit anfangen. Coupland ist ein exzellenter Beobachter, auch wenn man Vorurteile gegen Bücher hat, in deren Rezensionen irgendwas von Kultbüchern gefaselt wird. Grüß A und sag ihr, die Badesalz - Ergänzungskassetten bringe ich bei der nächsten Gelegenheit mit. Allerdings bestehe ich nach wie vor auf der Aushändigung des Boney M. - Tapes.
Nochmals viele liebe Grüße und feiert schön, Euer D
Einen wunderschönen Guten Tag dem Neobrasilianer D!!
Die taz titelt heute: "Ab August: Trenne nun s-t, tut doch nicht mehr weh". Diese Entscheidung ist für mich eine Katastrophe, vernichtet sie doch meine Altersvorsorge. Mein neuer Duden wird nun nur einer von vielen sein. Stichtag für den Reformstart ist der erste August. Eine kleine Chance in 60 Jahren an mein wohlverdientes Geld zu kommen besteht allerdings noch. In Schleswig-Holstein findet am 27. September ein Volksentscheid über die Rechtschreibreform statt (gemeinsam mit der Bundestagswahl). Ich weiß allerdings nicht, ob ich dann nach Schleswig-Holstein ziehen muß.
Die neue Shadow Project - CD ist genial. Ein paar Texte gefällig?
HALL OF MIRRORS
Woke from this dream without the pain. Perhaps a second look will bring me round again. I looked for you, I turned, but you where gone. Oh I wish that you had come along. I wish you were here. I wish you where there. Oh how I wish that you where anywhere at all. Here comes the son and I hope that you can see. The light does not poor out of me. You filled me up with cheap perfume, cheaper pornography. I am not a servant to your royal master’s plea. Walk down this hall of mirrors. Reflect what you see, walk down this hall of mirrors. Now all your angels have wings but they don’t deliver anything. Rekindling flames of the fiery ring. Hell on earth is all they bring. Walk down this hall of mirrors. Now all those wild cards they won’t turn your water into wine. Those bitter grapes die rotting, rotting on the wine. (Rozz)
BY GOD
By God I found him, by light I saw him, by love he opened the door. He just came in. I let him to saveme. I just love him, and what he’s made me. By God I found him, by light I saw him, by love he opened the door. I just love him. He’s the first one on my list. He made me feel real love. I’m part of his body his wife. (Eva)
BITTER MAN
He will hold you in arms. He will touch you from afar. He will take you, take you in. He will take you like heroin. He’s a bitter man. He will lift you to the clouds. He’ll say he loves you without his mouth. No one’s better, he took you in. No one’s better than his deadly sin. Your neck is throbbing, your body aches. Oh please Lord take this away. He’s abitter man. You came to me like a hero. Your red carpet rolled out, all doors flew open. It was so beautiful. Until I found out your angry world, your angry world. She might have hurt you, it’s no fault of love. You think burning me or burning others will heal your wounds, no, no. You just got to learn to forgive. My father says, I don’t need this, this lie, this pain you give. Acting on a bitter heart, a bitter life, hey bitter man. You think I’ve got it wrong. Wake up bitter man. You’re so bitter, your bitter touch, your bitter world. You’re a bitter man. He will walk away as he drops you down. He will crown you his crying clown. He prides himself, he doesn’t know the pain he gives helps it grow. With his bitter life, he has no start. Can’t forgive without a heart. He’s a bitter man. (Eva)
HOUNDS UPON THE HARE
Why did you go why did you turn from me? When all the world it seemed to sing? Why oh why did you have to go? Come away into my waiting arms, into a dream that you bring magically to life, outside the circle of relentless cold dead eyes. Rise above their world of lies. I hear the whirl of wings about you, while Lords in red float just above you. Grasp theseason of a million shining stars and recognize the gift you are. Don’t let it all come crashing down like hounds upon the hare. Now we can walk humble along the outer edge. Far from a prelude to fatigued. Awake the child lost in his slumber. Introduce love to another. How can a heart that’s filled with love began to cry. When all the world seemed so right. How can we let our love die like hounds upon the hare? Don’t let it all come crashing down like hounds upon the hare. Don’t push me down, don’t push me down like hounds upon the hare. Come away into my waiting arms like hounds upon the hare. (Rozz)
Für Rozz ist das ja nun eine völlig neue Art, Texte zu schreiben. Dazu kommen noch Akustikversionen alter Klassiker mit leicht veränderten Texten. Ein Album für den Musikolymp!
"Bayern fordert Sippenhaft": In Bayern will man mehrfach straffällig gewordene ausländische Jugendliche, die auch nach staatlichen erzieherischen Maßnahmen ihre Karriere nicht beenden, abschieben. Allerdings sollen diese nicht allein in ein für sie neues Leben gehen, nein, die Eltern sollen mit. Natürlich gibt es auch einen konkreten Fall als Anlaß für diese Gesetzesinitiative, ich werde darauf nicht weiter eingehen. Ich möchte nur noch meinen Glückwunsch an die bayrische Regierung richten und rufe laut: DANKE BAYERN, WEITER SO!
Fußball: Der Ball rollt noch, auch wenn in der BRD fast jeder behauptet, die WM sei bereits zu ende. Das Finale steht nun fest, und ich bin für Frankreich, schon allein um einem Volksaufstand in Brasilien vorzubeugen. Wer nun glaubt Bundesberti würde Konsequenzen ziehen sieht sich bisher enttäuscht. Berti macht sogar den Schiedsrichter für das Ausscheiden verantwortlich. Das ist lächerlich, ich habe das Spiel gesehen (übrigens mit großem Vergnügen) und wage zu behaupten, daß der Schiedsrichter eine solide Leistung erbracht hat. Im übrigen scheint Berti nicht mitbekommen zu haben, daß 3:0 also keineswegs knapp verloren wurde. Da wäre Schiedsrichterbetrug der Weltöffentlichkeit wohl aufgefallen.
Der Bund der Vertriebenen hat es wieder mal geschafft, das deutsch-polnische Verhältnis schwer zu belasten. Man forderte Wiedergutmachung für Menschenrechtsverletzungen während der Vertreibung. Das polnische Kabinett verabschiedete daraufhin eine Resolution in der das Verhalten des Bundes der Vertriebenen scharf verurteilt wurde. Die Polen befürchten Ansprüche auf polnische Immobilien. Die Präsidentin des BdV hält Polen nun nicht für reif, in die EU einzutreten.
Was ist los in B?
Was ist das für eine Rundreise zum Jahreswechsel und wie lange dauert sie?
Wer hat JFK ermordet?
Wer war Paul Keres?
Wie geht es Dir?
Ich fordere eine Antwort auf diese und andere Fragen.
Ach ja, ich stehe voll im Alltag, der da heißt: Praktikum. Die Graspreise in H sind nach wie vor zu hoch.
Die Wohnung nimmt langsam Konturen an.
Beste Grüße W
Bom dia, mein bester W,
danke für Deinen Brief, der mich sehr erfreut hat. Zum Neo - Brasilianer bin ich noch nicht geworden und werde es wohl auch nicht werden. Im Gegenteil merke ich hier jeden Tag, was ich eigentlich für ein Neo - Preuße bin. Dabei lerne ich allerdings auch die Vorzüge der deutschen Gründlichkeit, Pünktlichkeit und was man ihnen noch alles so nachsagt, kennen. Zum Beispiel ist es doch ganz nett, wenn man auf seine Post an Universität, Behörden usw. eine Antwort bekommt, was hier leider nicht der Fall ist. Außerdem ist das Chaos im Straßenverkehr eine Katastrophe und im höchsten Maße lebensgefährlich. Auch die andren Deutschen, die ich hier getroffen habe und die teilweise schon seit zwanzig Jahren hier leben, sind nicht zu Brasilianern geworden. Sie sind alle komische Käutze mit Vollbärten, die irgendwelche verrückten Projekte machen und ihr Brot selber backen (hier gibt es nur Weißbrot).
Auch in B streiken die Universitäten, aber hier sind es nicht die Studenten, sondern die Lehrenden. Trotzdem weist die Situation interessante Parallelen mit der deutschen auf.
Die brasilianische Studienstruktur ist der US-amerikanischen nachempfunden. In der Graduação (Bachelor) werden die Massen für die mittleren administrativ-technischen Berufe ausgebildet, im Mestrado (Master) erhält die Elite die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Fortbildung. An den Bundesuniversitäten in ganz B wird die Graduação seit fast drei Monaten bestreikt. Von den Professoren. Der Auslöser dieses Streiks war die sich verschlechternde materielle Situation an den Universitäten. Die Dozenten hatten seit vier Jahren keine Lohnerhöhung mehr und in der Ausstattung mit Materialien und an den Gebäuden macht sich das Sparprogramm der brasilianischen Regierung bemerkbar. Auch die geplanten Strukturveränderungen der Universität hin zu stärkerer Betonung der Lehre und Auslagerung der Forschung in private Institute sollten bekämpft werden. Also eine ähnliche Ausgangssituation wie die der deutschen Studentenstreiks im letzten Semester. Und auch hier verselbständigte sich die "Streikbewegung". Die materiellen Forderungen traten in den Hintergrund; der Streit um die Strukturreform wurde polarisiert. Das nationale Streikkomitee verbündete sich mit der parlamentarischen Opposition, um die Einführung einer Evaluation von Lehre und Forschung zu verhindern. Die radikalen Professoren bestimmten die Streikversammlungen, die plötzlich Ausgangspunkt einer Umwälzung der Gesellschaft werden sollten. Und die schweigende Mehrheit kapitulierte vor der Macht der Organisation. Wie im Wintersemester in D hat auch das hiesige Bildungsministerium MEC kein Interesse an der Schlichtung dieser Situation und läßt die Universitäten in aller Breite ihre eigene Überflüssigkeit demonstrieren. Hier gibt es allerdings einen Unterschied zu D: Nicht alle Universitätsangehörigen fahren einmütig in den Urlaub. In R und S protestieren die Studenten gegen den Streik, weil sie keine Prüfungen ablegen können und sich deshalb ihr Studium unnötig verlängert.
Ich besuche die Veranstaltungen der Economia und verstehe recht wenig, was glaube ich hauptsächlich der Tatsache geschuldet ist, das die Leute hier eine fremde Sprache sprechen. Die Professoren sind alle urige Marxisten, die a lot like Che Guevara aussehen und während der Seminare qualmen. Leider sind sie auch noch unzuverlässiger als die deutschen Professoren, man braucht also nicht damit rechnen, sie zum verabredeten Termin anzutreffen. Sie träumen von der Weltrevolution, sind aber ganz froh, daß sie nicht kommt, weil sie danach auch nicht weiterwüßten und wahrscheinlich schlechter gestellt wären als jetzt.
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