Vorwort

Diese Diplomarbeit entstand vor rund 40 Jahren. Dass wir sie jetzt im Jahre 2016 als Buch herausgeben hat mehrere Ursachen:

Nach dem Erscheinen kam es über optische Vervielfältigung zur Herausgabe einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren, die wir an Freunde, Kollegen und Bibliotheken verteilten. Trotzdem war latent der Wunsch vorhanden, die Arbeit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Unsere Diplomarbeit wurde betreut von Prof. Dr. Norbert Groeben und mit der Note 1-2 bewertet. Groeben sah Entwicklungspotential in den Ideen, die wir präsentiert hatten und ermunterte uns, weiter daran zu arbeiten, resp. einen Abstract in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Da sich unsere beruflichen Wege jedoch trennten, wurde nichts daraus.

Mit der Entwicklung immer leistungsfähigerer Software für Textverarbeitung und - erkennung wurde es möglich, die teils auf klapperigen Schreibmaschinen getippten Vorlagen zu scannen und im Word-Format zu speichern. Auch Tabellen und Grafiken ließen sich in Word nachzeichnen.

Nicht zuletzt die Möglichkeit über „Books on Demand“ ohne großes finanzielles Risiko kleinere Buchauflagen zu veröffentlichen und von den Vertriebsmöglichkeiten zu profitieren war ein gewichtiges Argument.

Jean Schoos, Robert Soisson, Claude Vandivinit, April 2016

Inhalt

0.000 Einleitung

Die theoretischen Vorarbeiten zu dieser Diplomarbeit entwickelten sich parallel zur Rezeption soziolinguistischer Fragestellungen in der Bundesrepublik. Da es dabei zu einem Paradigma-Wechsel kam, erhielt der theoretische Vorspann zu unserer Untersuchung notwendigerweise einen größeren Umfang, als es sonst üblich ist. Hinzu kam, dass die Soziolinguistik sich als ein äußerst differenziertes und vielseitiges Forschungsgebiet präsentierte, zu dem eine ganze Reihe von Einzelwissenschaften (Linguistik, Soziologie, Anthropologie, Ethnologie, Psychologie usw.) ihren Beitrag geliefert hatten. Aber das lange Jahre dauernde getrennte Vorgehen dieser Einzelwissenschaften brachte es mit sich, dass sie oft von sehr verschiedenen Konzeptionen ausgingen. Um uns hier Klarheit zu verschaffen, mussten wir am Rande auch einige Themen eher sprach philosophischer Natur behandeln (s. Kap. 1.23: "Sprache und Sozialstruktur"; 1.4: "Sprechen und Denken"; 1.5: "Zur sprachlichen Norm").

Die Funktion dieser Einleitung ist es nun, die Hauptpunkte unserer theoretischen Überlegungen aufzuzeigen, damit der Leser somit leichter den logischen Zusammenhang der einzelnen durch eine Perspektive in sich geschlossenen Kapitel erkennen möge.

Ausgangspunkt unserer theoretischen Überlegungen ist die Soziolinguistikk Bernsteins (1.12), deren Rezeption in der BRD von R. Reichwein (1967) und P.M. Roeder (1968) eingeleitet und mit U. Oevermann (1969; 1970) (1.13) ihren Höhepunkt erreichte. Da diese Theorie oftmals falsch interpretiert, missbraucht und vor allem überschätzt wurde, setzen wir uns mit ihr besonders ausführlich auseinander. Wir stellen fest, dass Bernstein und seine Schüler von einigen unbewiesenen Vorannahmen ausgingen, ohne die ihre Theorie nicht aufrechterhalten werden kann. So wird vor allem ihr sprachdeterministischer Standpunkt und ihre an Mittelschichtnormen orientierte Messung von Intelligenz und Sprachverhalten kritisiert. Unzulässigkeiten in der Begriffsbestimmung aber auch in den Untersuchungen führen uns zu dem Schluss, dass die Hypothese vom sprachlichen und kognitiven Defizit von Unterschichtsprechern bisher nicht bewiesen werden konnte.

Der sogenannten "Defizit-Theorie" Bernsteinscher Prägung stellen wir die Theorien nordamerikanischer Soziolinguisten gegenüber, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie möglichst wenig unbewiesene Vorannahmen in ihre Konzeptionen einfließen lassen. Diese sogenannte "Differenz-Theorie" (1.200) ist wissenschaftlich fundierter und wurzelt tiefer in der Tradition sprachwissenschaftlicher und soziologischer Fragestellungen. In der BRD fand sie erst Einzug, nachdem die Kritik an Bernstein schon begonnen hatte, chronologisch ist sie dessen Soziolinguistik jedoch vorzuordnen. Besonders wichtig an dieser Konzeption ist, dass Sprache nicht normativ bewertet wird, sondern alle Sprachvarietäten (seien es nun Standardsprachen, Dialekte, Soziolekte, Idiolekte o.a.) als funktionell äquivalente, eigenständige Sprachsysteme beschrieben und untersucht werden. Qualitative Bewertungen einer Sprache und der Bezug zur Kognition bleiben ausgeklammert. Dieser Auffassung zufolge ist es unzulässig, eine Sprachvarietät mit Kriterien einer anderen zu beurteilen, wie es lange in der deutschen Mundartforschung (1.300) hinsichtlich des Verhältnisses Dialekt-Hochsprache getan wurde, und wie es Bernsteins Anhänger hinsichtlich des Verhältnisses von restringierter und elaborierter Sprechweise immer noch tun. Während viele deutsche Dialektologen diesen Standpunkt inzwischen aufgegeben haben (Jäger u.a.), wird dies bei Bernstein dadurch erschwert, dass er die schichten-spezifischen Sprachvarianten auf die Aktivität von psychischen Planungsmechanismen, den sprachlichen Codes, zurückführt, die sich einer objektiven Betrachtung weitgehend entziehen. Ob es diese Codes in England gibt, können wir nicht beurteilen; wir bezweifeln allerdings, dass sie, begriffen als schichten-spezifische Sprachvarianten, in Deutschland etwas grundlegend anderes darstellen als Dialekt bzw. Hochsprache. Zu diesem Problem nehmen wir ausführlich Stellung in einem Kapitel über die Mundartforschung. Eines jedenfalls ist offensichtlich: Sowohl der Dialektsprecher als auch der Sprecher des "restringierten Codes" neigt dazu in typischer Weise gegen die in der Schule geforderte hochsprachliche Norm zu verstoßen. Wann man diese Abweichungen dem Einfluss des Dialekts, oder aber der Aktivität eines restringierten Codes zuschreibt, ist schwer zu entscheiden, da sich die Kriterien nach denen die Fehler beurteilt werden weitgehend entsprechen. Stellt man nun aber die Prozesse über die es in beiden Fällen zu Abweichungen kommt ins Zentrum des Interesses, so stellt sich die Frage, ob diese prinzipiell verschieden sind. Unsere Überlegungen führten uns zum Schluss, dass es sich in beiden Fällen um einen gleichartigen Mechanismus handeln muss, wenn man von der Erscheinungsform eines oder mehrerer Sprachsysteme absieht und Sprachvarietäten als funktionell äquivalente Systeme begreift. In der amerikanischen Soziolinguistik und besonders in der Bilingualismus Forschung (2.000) wurde dieser Mechanismus übereinstimmend als Interferenz definiert, die wir als den Prozess bezeichnen möchten, der über bestimmte psychische Mechanismen (Transfer, homogene Hemmung,...) und abhängig von der linguistischen Struktur zweier oder mehrerer Sprachsysteme zu Umsetzungsschwierigkeiten zwischen diesen Systemen führen kann. Es wird allgemein angenommen, dass dieser Prozess auch durch außersprachliche Faktoren beeinflusst werden könnte: Einstellung, Motivation, Intelligenz, soziale Herkunft usw. Die Vielfalt der Sprachvarietäten in den USA und das Zweisprachensystem in Kanada, die Bestrebungen der US-Regierung, ethnisch, rassisch und kulturell bedingte Unterschiede teilweise über die Verbreitung der amerikanischen Einheitssprache auszubügeln machten allgemeinere Konzepte notwendig, mit denen nicht nur spezielle, sondern möglichst alle Prozesse sprachlicher Interaktion erfasst werden konnten. In den Arbeiten Weinreichs und Fishmans war deshalb der Begriff der Interferenz geeignet, die verschiedenen, in Sprachkontaktsituationen auftauchenden Phänomene (Sprachwandel und Sprachenvermischung) besser zu begreifen.

Ähnliche Gründe für ein übergreifendes Begriffsinstrumentarium liegen unserer Meinung nach auch in der BRD und in Luxemburg vor. Die Allgegenwärtigkeit des Dialekteinflusses bei der sprachlichen Produktion in diesen Ländern ist hinreichend bekannt. Wird er in Untersuchungen zum sprachlichen Code (z.B. bei Oevermann) nicht berücksichtigt, so muss man an der Gültigkeit solcher Untersuchungsergebnisse zweifeln. Bezieht man die Relation Dialekt-Hochsprache in solche Untersuchungen mit ein, so steht man vor der Schwierigkeit, dass das, der Theorie der linguistischen Codes immanente Begriffsinstrumentarium nicht mehr ausreicht, da es nicht auf andere Sprachkontaktsituationen übertragbar ist. Darin liegt denn auch der zwingende Grund, der uns veranlasste, den Paradigmenwechsel vorzunehmen und nur noch mit dem allgemeineren Begriff der Interferenz zu arbeiten.

In einem eigenen Kapitel über die Bilingualismus Forschung stellen wir die theoretischen Implikationen dieser neuen Perspektive dar. Dabei zeigt sich, dass die heutigen Vertreter dieses Forschungsgebietes nicht mehr von den konkreten Bedingungen der zu untersuchenden Sprachsituation abstrahieren, sondern immer mehr die Wichtigkeit einer ausführlichen Beschreibung der Sprachsituation (2.300), unter Berücksichtigung ihrer historischen und gesellschaftlichen Grundlagen, betonen. Dem schließen wir uns an, indem wir die Abhandlungen und Untersuchungen Luxemburger und einiger ausländischer Autoren zusammenfassen und entsprechend den Kriterien eines Modells von Fishman (2.200) zusammenstellen.

Als Grundlage für unsere Hypothesenbildung dient uns ein Interdependenzmodell, das W. Mackey (2.400) ausgearbeitet hat, und in dem alle bekannten Variablen, die möglicherweise in Relation zum Bilingualismus stehen, berücksichtigt werden. Wir stellen dieses Modell vor und gehen dabei ausführlich ein auf den Begriff der Interferenz (2.440) und die diesen Prozess möglicherweise beeinflussenden Variablen (Intelligenz, Einstellung und Motivation, Funktion u.a.).

Ausgehend von der Bilingualismus Forschung, und unter besonderer Berücksichtigung des Mackeyschen Modells, diskutieren wir dann die Beziehungen zwischen den Variablen (3.000), die uns primär interessieren und die in unsere Untersuchung eingehen. Es folgt dann (4.000), unter dem Aspekt der Operationalisierung und Datenverarbeitung bzw. -auswertung, eine detaillierte Beschreibung unserer Untersuchung.

Im letzten Kapitel (5.000) versuchen wir, unter Berücksichtigung der theoretischen Vorarbeiten unsere Daten zu interpretieren.

1.000 Soziolinguistik

1.100 Die Defizit-Hypothese 1

1.110 Empirische und theoretische Grundlagen

Bevor wir den Ansatz Bernsteins, der im Mittelpunkt dieses Abschnittes steht behandeln können, müssen wir die theoretischen und empirischen Ursprünge der Defizit-Hypothese aufzeigen.

Einzelne Annahmen der Bernsteinschen Theorie beruhen auf sprachphilosophischen Untersuchungen, außerdem gibt es einige ältere empirische Evidenzen zum Thema "Sprache und soziale Schicht" (vgl. Hager, Haberland, Paris; 1973, S. 50 ff und Dittmar; 1973, S. 51 ff). Was den sprachphilosophischen Hintergrund anbelangt, verweisen wir hier auf das Kapitel "Denken und Sprechen" (1.400) und den Abschnitt 1.124, wo wir uns näher damit befassen. Hier sei nur kurz erwähnt, dass diese Anstöße hauptsächlich aus der anthropologischen Linguistik (Humboldt, Sapir, Whorf, Malinowsky sowie aus der Entwicklungspsychologie (Stern, Wygotsky, Piaget) kommen. Elemente soziologischer Theorien von Durkheim, Weber und Marx benutzte Bernstein um seine eigenen Vorstellungen theoretisch zu untermauern. Alle diese Theorien und Untersuchungen tauchen in der Folge als Gemeingut in den meisten empirischen Ansätzen der Soziolinguistik auf. In dem folgenden Zitat aus einem der ersten Aufsätze Bernsteins wird deutlich, wie eklektisch er und andere Autoren in ihren ersten Arbeiten vorgingen:

"In diesem Aufsatz haben wir die wertvollen Arbeiten von Cassirer (1944, 1953), Whorf (1956) und Sapir (1956) benutzt, um die sozialen Implikationen von Sprache zu ermitteln. Vgl. auch Hoijer (1954)." (Bernstein, 1972, S.71 ff. )2

Wir versuchen, die Darstellung der verschiedenen Theorien in diesem Abschnitt möglichst kurz zu gestalten; mittlerweile gibt es genügend zusammenfassende Literatur zu diesem Thema: Niepold, 1971; Jäger, Huber und Schätzle, 1972; Dittmar, 1973; Hager, Haberland, Paris, 1973 usw.)

Die folgende Zusammenstellung entnehmen wir vor allem Dittmar (1973) und Hager, Haberland, Paris (1973).

Davis (1937) "The Development of Linguistic Skills in Twins, Singletons With Siblings, and Only Children from Age Five to Ten Years"

Schichtenspezifische Unterschiede im Hinblick auf die syntaktische Struktur.

Irwin (1948) "Infant Speech"

Schichtenspezifische Unterschiede in der Lautentwicklung der Kinder.

McCarthy (1954) "Language Development in Children"

Schichtenspezifische Unterschiede im Grad der Verwendung verschiedener Wörter.

Schatzmann/Strauss (1955) "Social Class and Communication"

Die Untersuchung bezog sich auf die Kommunikationsstile der Mitglieder verschiedener sozialer Klassen; Unterschiede wurden festgestellt:

  1. In der Art und Anzahl der Perspektiven, die ein Sprecher verwendet,
  2. bei der Fähigkeit, sich in die Rolle des Hörers zu versetzen,
  3. bei der Verwendung von Klassifikationen und
  4. in der Textstrukturierung (vgl. Hager et al.; S.54)

Templin (1957) "Certain Language Skills in Children"

Schichtenspezifische Unterschiede in der Artikulationsfähigkeit der Kinder. Die syntaktische Struktur, gemessen mit dem Subordinationsindex3, diskriminiert deutlich zwischen den Schichten.

Bossard (1945): "Family Modes of Expression"

"Bossard analysierte Tischgespräche von 35 Familien der Mittel- und Unterschicht und stellte dabei vor allem Unterschiede im Gebrauch bildlicher Sprache („imagery“) in der Alltagskonversation fest." (Hager et al., S.5o)

Dazu meinen Hager, Haberland, Paris:

"In dieser frühen Formulierung ist bezeichnenderweise schon ein Teil der Hypothesen angelegt, die Bernstein später klarer formulierte: dass der Unterschied zwischen Unterschicht und Mittelschicht sich in einem Kontrast von kollektiver und individuierter Sprechweise zeige und dass die Unterschichtsprache zwar plastischer, bildlich kräftiger und vitaler sei, ihr zugleich aber ein Defizit anhafte: sie sei weniger beweglich und "weniger logisch"". (a.a.O., S.50)

Thomas (1962) "Oral Language Sentence Structure and Vocabulary of Kindergarten Children Living in Low Socio-economic Urban Areas."

Thomas fand, dass der Wortschatz der Unterschichtkinder typisch von dem der Mittelschichtkinder unterschieden ist. (Vergleich von Sprachproben mit der Thorndyke - Liste).

Deutsch (1965): "Die Rolle der Sozialen Schicht in Sprachentwicklung und Kognition"

Deutsch stellte die These auf, dass sich Sprachdefizite zu einem kumulativen Defizit ausweiten.

Aber die Kritik an der Defizit-Hypothese wurde schon laut, bevor die Arbeiten Bernsteins bekannt waren:

Tyler (1951) "Can Intelligence Tests be Used to Predict Educability?"

"Tyler betont, dass "Kinder aus der Unterschicht sehr viele Worte gebrauchen, und eine Reihe von ihnen gebraucht diese Worte mit einem hohen Grad an Genauigkeit; jedoch steht der Grad an Flüssigkeit im Gebrauch solcher Worte, die gemeinsam von den unteren Schichten gebraucht werden in keinem Zusammenhang mit dem Erfolg in der Schule."" (zit. nach Hager et al., S. 51)

Cohn (1954) "On the Language of Lower Class Children"

"Cohn spricht von der "großen Kraft der Unterschichtsprache, Emotionen auszudrücken - eine Kraft, die gewöhnlich nur von Schriftstellern bewusst ausgenützt wird." (a.a.0., S.51)

Cohen, Fraenkel und Brewer (1968) "Implications for 'Culture Conflict' From a Semantic Feature Analysis of the Lexicon of the Hard Core Poor"

"Diese Untersuchung unterstützt die bereits von Cohn und Tyler formulierte Hypothese, dass die Unterschichtsprache positive Eigenschaften besitzt, die der Mittelschichtsprache fehlen. Allerdings wird dies hier nur für das amerikanische "Lumpenproletariat" nachgewiesen; nicht jedoch für das, was in deutschen Untersuchungen allgemein als Unterschicht bezeichnet wird. Dieser Sprache werden "semantischer Reichtum, überaus produktive Bildung von Metaphern und emotionale Fähigkeit" nachgewiesen." (a.a.O., S.52)

All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie jeweils nur einen Aspekt außerhalb der Sprache mitberücksichtigten. Ein übergreifendes Konzept für die Beziehungen zwischen sprachlichen und außersprachlichen Variablen fehlte noch. Bernstein versuchte zum ersten Mal, viele Variablen in seine. Untersuchungen miteinzubeziehen. Wir werden noch ausführlicher auf die "strukturalistische Metatheorie" Bernsteins - wie sie Loch und Priesmann anpreisen 4- zu sprechen kommen. Bis dahin wurden einzelne sprachliche Merkmale mit sozialen Charakteristiken der untersuchten Populationen in Verbindung gebracht. Man beschränkte sich auf jeweils grobe Masse, sowohl was die Messung der sprachlichen Fertigkeiten als auch was die Zuordnung zu sozialen Schichten betrifft. (z.B. die schlecht definierten Begriffe von Ober- bzw. Unterschicht, Subordination-Index usw.) Das Fehlen eines umfassenden Konzepts wie das der "Sprachbarrierenforschung" verhinderte ein einheitliches Vorgehen.

Schon in den frühen Untersuchungen traten Ungereimtheiten auf, die erst durch die systematische Kritik an der Defizit-Hypothese aufgelöst wurden. So gab es auf der einen Seite das Lager derjenigen, die in der Unterschichtsprache immer wieder "Mängel" zu finden glaubten und auf der anderen Seite diejenigen, die derselben Sprache viele positive Qualitäten bescheinigten.

Die Gründe für diese sich widersprechenden Standpunkte sind verschieden:

Ein durchgängiges Moment in den Untersuchungen zur Defizit-Hypothese ist die Vermischung der drei Analyseebenen Soziologie, Psychologie und Linguistik. Diese Vermischung finden wir, wenn auch nicht so explizit, schon bei den Vorgängern Bernsteins. Dazu bemerkt Dittmar:

"Eine in zwei Klassen unterschiedene Sozialstruktur (soziologisches Argument) bringt also zwei unterschiedliche verbale Planungsstrategien hervor (psychologisches Argument), die zwei unterschiedliche Sprechweisen bedingen (linguistisches Argument)" (Dittmar, 1973, S. 13)

Bernsteins Vorgänger bewegten sich auf einer Ebene, die noch nicht gefestigt war; gefestigt wurde sie erst durch Bernstein selber und durch seine Apologeten, die seiner Theorie "Systemcharakter" bescheinigten, ihm Vorschusslorbeeren für seine Arbeit "in Richtung auf eine Art strukturalistischer Metatheorie" gaben (Loch und Priesmann, a.a.O. S.15)

” ... sie gibt einen Rahmen („frame“) für die Klassifikation" von Theorien und - infolge der schwachen "Grenzstärke" dieser klassifikatorischen Unterscheidungen - zugleich auch einen Rahmen für die Integration einer Vielzahl von theoretischen Fragestellungen und Forschungsergebnissen sowie für die Kooperation verschiedener Wissenschaften vom Menschen im Gegenstandsbereich der Wechselwirkung zwischen sozialen und symbolischen Systemen (hervorgehoben von uns) der für Theorie und Praxis der Erziehung grundlegend ist." (a.a.O. S.15)

Bernstein ist nicht weniger ambitiös:

"Ich habe auch zu erwägen gegeben, dass restringierte und elaborierte Sprachvarianten charakteristische linguistische Merkmale besitzen und selbstverständlich unter Einschluss der Hilfsmittel Grammatik und Lexikon unterschiedlich erforscht werden. Die Formulierung befähigt einen, wiederum auf hohem Abstraktionsniveau, Rolle, Ausdrucksweise und Erkenntnisse in Kausalbeziehungen zusammenzubringen, d.h. Soziologie, Linguistik und Psychologie." (Bernstein, S.59)

In Bernstein konzentriert sich die Kritik an der Defizit-Hypothese; deshalb werden wir diese Kritik in die Darstellung seiner Theorie einbauen.

1.120 Bernstein

Bernsteins fundamentale Annahme ist die Existenz von zwei unterschiedlichen Sprechweisen; seine "Auffassung von der Bedeutung der Sprache für die Sozialisation hat eindeutig eine gesellschaftspolitische Wurzel." (Dittmar, 1973, S.7)

"Dies bedeutet dass Sprecher unterprivilegierter Gruppen nur dann Sozialerfolg haben können, wenn sie bestimmte sprachliche Leistungen erbringen, die für die herrschende Gesellschaftsschicht als Noem gelten und von ihr als solche kontrolliert werden." (ibd.; S.7)

Rund um diesen Gedanken, der von Dittmar schon um seine kritische Dimension erweitert wurde, baut Bernstein seine Theorie auf. Er betont immer wieder, dass er seine ersten Erfahrungen mit den Sprechweisen von Ober- und Unterschichtkindern als Lehrer gemacht hat. Ausgangspunkt seiner Theorie sind folglich Beobachtungen, die er im Verlauf der Jahre mit Material aus Linguistik, Soziologie und Psychologie theoretisch zu integrieren versuchte. Er hebt auch das pädagogische Interesse hervor, das viele seiner Überlegungen leitete: Wie können restringierte Sprechweisen bei Unterschichtkindern abgebaut werden um Ihnen die ersehnten sozialen Aufstiegsmöglichkeiten zu erschließen? Im Mittelpunkt der Bernsteinschen Theorie stehen also die Begriffe von Defizit und Leistung, bzw. Sozialerfolg.

In seinem Aufsatz "Einige soziologische Determinanten der Wahrnehmung" (1958) sind die Grundideen seiner Theorie schon enthalten. Diese lassen sich in den folgenden 7 Punkten zusammenfassen:

  1. Pädagogische Zielsetzung
  2. Soziale Schicht
  3. Zwei Formen des Sprachgebrauchs
  4. Zur Sapir-Whorf-Hypothese
  5. Intelligenz
  6. Sozialisationstheorie
  7. Dichotomisierung

Zu jedem dieser 7 Punkte vertritt Bernstein bestimmte Positionen und deshalb sind sie auch Anhaltspunkte für die Kritik an der Defizit-Theorie. Wenn jedoch schon die Grundannahmen einer Theorie - wie wir im Folgenden sehen werden - anfechtbar sind, dann ist es das Gerüst, das auf diesen Annahmen basiert, auch. Es hat also unserer Meinung nach wenig Sinn, vom "frühen" oder vom "späten" Bernstein zu reden, wenn er was seine Grundannahmen betrifft, der Gleiche bleibt. Wir werden zwar sehen, dass seine theoretischen Vorstellungen im Verlauf seiner Arbeit verschiedene Veränderungen erfahren, jedoch - um einen Lieblingsbegriff Bernsteins zu gebrauchen - lediglich an der Oberflächenstruktur.

Wir werden nun versuchen zu diesen 7 Punkten im Einzelnen Stellung zu beziehen.

1.121 Pädagogische Zielsetzung

Nach dem sogenannten "Sputnik-Schock" setzte in der westlichen Welt eine beispiellose Bewegung ein, deren erklärtes Ziel es war, wie es Bernstein formulierte, "die Vergeudung des Begabungspotentials der Arbeiterschicht zu verhindern" (86, 146). In den USA setzte mit Guilford (1952) die Kreativitätsforschung ein, es wurde viel unternommen, um das Bildungssystem für die unteren Schichten zugänglicher zu machen; in Deutschland entwickelte sich seit Pichts Buch über die "Bildungskatastrophe" eine ähnliche Politik. Es galt nur, adäquate Methoden zu finden:

"Die Integration der Arbeiterschicht in die Gesamtgesellschaft wirft große Probleme auf, die mit dem Wesen der Gesellschaft und dem Ausmaß zusammenhängen, in dem die Schule selbst den Assimilationsprozess beschleunigen kann." (148)

Für Bernstein liegen diese Methoden auf zwei Ebenen: einmal in der Demokratisierung des Unterrichts und zum zweiten in der Förderung eines elaborierten Sprachgebrauchs:

"Es ist auch klar, dass die sprachliche Leistung für den schulischen Erfolg grundlegend ist." (119)

Bernstein legt kein Programm vor, wie eine "ideale" Schule aussehen muss; seine Position wird nur deutlich, wenn er sich gegen andere abgrenzt. So ärgert er sich z.B. gegen die Tendenz, seine Arbeiten als Rechtfertigung für die Einrichtung kompensatorischer Spracherziehungsprogramme zu nehmen. Anstatt "nebenher" Kurse einzurichten, wo Kinder "kompensiert" werden sollen, empfiehlt er einen Ausbau der Vorschulerziehung und eine intensivere Beschäftigung mit dem Lehrer-Kind-Verhältnis auf der Ebene der Sozialwissenschaften - vor allem unter dem Aspekt der sprachlichen Kommunikation.

"Wenn die "Kultur" des Lehrers Teil des Bewusstseins des Kindes werden soll, dann muss die "Kultur" des Kindes zuerst im Bewusstsein des Lehrers vorhanden sein." (290)

Von vornherein ist er sich dessen bewusst, dass "es kein ernsthaftes Auseinanderklaffen der Erwartungen von Schule und Mittelschichtkind" (127) gibt. Problematisch sind also nur die Arbeiterkinder. Für deren "Integration" stellt er eine Reihe von Forderungen auf:

"Der Schüler muss dem Druck formaler Beziehungen ausgesetzt werden, und er muss fähig werden, diese sich selbst gegenüber zu verbalisieren." (143) oder später, nach der Unterscheidung der verschiedenen Arten schulischer Wissensvermittlung:5

"Die Art der Verbindung zwischen der integrierenden Leitvorstellung und dem Wissen, das ihr zugeordnet werden soll, muss auch klar und verständlich ausgesprochen werden. Diese Verbindung ist das Grundelement das Lehrer und Schüler zu einer Arbeitsbeziehung führt. Die Entwicklung solch eines zuordnenden Rahmens zeigt sich als Sozialisationsprozess, in dem Lehrer mit diesem Code vertraut gemacht werden. Wie in allen Sozialisationsprozessen werden die Lehrer auch in diesem Prozess die Interpretationsregeln („procedures“) des Code internalisieren, so dass diese implizite Wegweiser werden, die das Verhalten des einzelnen Lehrers in den gelockerten Lehrrahmen und bei geschwächter Klassifikation steuern und koordinieren. Das führt zu einem wesentlichen Unterschied zwischen Sammel-und Integrationscodes. Beim Sammelcode ist die Sozialisation durch starke Grenzbewahrung sowohl auf der Ebene der Rollen - wie auf der der Wissensübernahme unterstützt. Solche Sozialisation wird wahrscheinlich in der eigenen pädagogischen Sozialisation der Lehrer fortgesetzt. Bei den Integrationscodes müssen sowohl die Rolle wie die Form des Wissens in der Beziehung zu einer großen Menge verschiedener anderer erworben werden, und das kann zu einer Re-Sozialisierung des Lehrers führen, wenn dessen frühere Studienerfahrung durch den Sammelcode bestimmt wurde. Sammelcodes erfüllen ihren Zweck auch bei mittelmäßigen Lehrern wohingegen Integrationscodes eine sehr viel größere Fähigkeit zur Synthese, zu Analogiedenken und weit mehr Fähigkeiten erfordern, Mehrdeutigkeit und Unklarheit auszuhalten und zu tolerieren und dies sowohl auf der Wissensebene wie auf der Ebene sozialer Beziehungen." (318f)

Erstrebenswert ist also der Integrationscode als Form der Wissensvermittlung, d.h. die Konfrontation der Schüler mit elaboriertem Sprachgebrauch. In den Aufsätzen Bernsteins aus den Jahren um 197o erfolgt eine deutliche Veränderung seiner pädagogischen und politischen Auffassungen: Wenn früher die Begriffe Leistung und Erfolg nicht problematisiert im Mittelpunkt seiner Theorie standen, so kritisiert er in seinen neueren Arbeiten sogar die Grundlagen schulischer Wissensübermittlung überhaupt:

"Beim Sammelcode ist Wissen Privateigentum mit der dazugehörigen Machtstruktur und entsprechender Marktsituation. Das wirkt auf die ganze Entwicklung neuen Wissens ein und führt zu seiner Verdinglichung. Kinder und Schüler werden schon sehr früh mit dieser Vorstellung vom Wissen als Privateigentum vertraut gemacht. Sie werden ermutigt als isolierte Individuen zu arbeiten, die ihre Arbeit gegen die Blicke anderer abschirmen müssen, indem sie ihre Arme schützend um ihr Heft legen." (305)

Auch das Problem der Norm wird in den späten Aufsätzen erstmals thematisiert:

"Wir nehmen eine Gruppe Kinder, von denen wir im Voraus wissen, dass sie Eigenschaften besitzen, die schulische Leistungg, begünstigen, und eine zweite Gruppe Kinder, von denen wir vorher wissen, dass ihnen alle diese Eigenschaften abgehen. Dann bewerten wir eine Gruppe, indem wir feststellen was ihr fehlt, im Vergleich zu der anderen. So legt die Forschung unabsichtlich Nachdruck auf die Feststellung eines Mangels und bekräftigt den gegebenen Status Quo der Organisation, Vermittlung und besonders der Bewertung des Wissens." (283)

Solche Bemerkungen stehen jedoch in deutlichem Widerspruch zu Bernsteins eigener Theorie: Ist der "restringierte Code" nicht per definitionem ein Mangel? Hinzu kommt, dass Bernstein aus solchen Bemerkungen so gut wie keine Konsequenzen zieht. Wie wir später sehen werden, basiert seine Theorie der Codes auf der Annahme, dass die Sprache der Mittelschicht "besser" ist als die der Arbeiterschicht; dies ist jedoch nicht beweisbar und lediglich ein Problem der Bewertung:

1.122 Soziale Schicht

In Bezug auf diese Variable kann man bei Bernstein auch eine Entwicklung feststellen. Die soziologische Beschreibung der Schicht wird zunehmend Verfeinert, der Begriff der Schicht selbst wird zunehmend fallen gelassen zugunsten besser beschreibbarer Einheiten und Strukturen, wie Familie, Rollenbeziehungen, Peergroup usw.. Am Anfang wurde die Schicht-Variable einfach dichotom (Arbeiter- und Mittelschicht) den beiden Sprechcodes zugeordnet. Der Verdacht entsteht, dass Bernstein bei der Beschreibung der Schichten nur die Merkmale herauspickte, die seiner Theorie am besten entsprachen; so kommen auf der Ebene der Beschreibung nur einfache Zuordnungen zustande:

Arbeiterschicht - mangelnde Intelligenz - restringierter Code objektorientierte Bedeutungsstrukturen - positionelle Kontrolle Mittelschicht - hohe verbale Intelligenz - elaborierter Code – personorientierte Bedeutungsstrukturen - personale Kontrolle ... Auf der Ebene der Theorie jedoch versucht er, die Elemente seiner Beschreibung in kausale Ketten zu integrieren.

"Wir haben nun einen Rahmen skizziert, der eine kausale Verbindung zwischen Rollensystemen, linguistischen Codes und der Realisation unterschiedlicher Ordnungen von Bedeutung und Relevanz zeigt." (209)

"Die Sozialstruktur wird für das sich entwickelnde Kind zur psychischen Realität, indem sie seine Sprache formt. Dem allgemeinen Sprachmuster des Kindes liegen, wie ich annehme, entscheidende Auswahlmuster zugrunde, Präferenzen für bestimmte Alternativen, die sich im Laufe der Zeit entwickeln und stabilisieren und eventuell eine wichtige Rolle spielen bei der Steuerung intellektueller, sozialer und affektiver Orientierung." (240)

"Ein restringierter Code wird entstehen, wo die Form der sozialen Beziehung auf sich genau deckenden Identifikationen, auf einer ausgedehnten Reihe gleicher Erwartungen und auf einem Bereich gemeinsamer Annahmen beruht." (205)

"Es wird gezeigt, dass der Einfluss der Umgebung kumulativ ist. Ihr Einfluss ist auf jeder Stufe im Leben des Kindes, von der Geburt bis zur biologischen und sozialen Reife, von wachsender Bedeutung als Determinante der Unterschiede zwischen Individuen, wie auch insbesondere jener Unterschiede, die durch Intelligenz-und Leistungstests gemessen werden." (67)

"Wir gehen von der Hypothese aus, dass der Widerstand gegenüber formalem Unterricht und Lernen umso grösser ist, je niedriger die soziale Schicht ist, und davon, dass dies eine Funktion der sozialen Struktur der Schichten ist." (68)

Aus diesen Zitaten wird deutlich, dass Bernstein nicht die soziale Schicht allein als Bestimmungsfaktor der Codes sondern eher sogar als "grober Index" (254) bezeichnet und "spezifischere Bedingungen" (ibd.) für ihr Entstehen ausfindig machte.

Deutlich wird jedoch schon hier die Vermischung der drei Analyseebenen Soziologie, Psychologie und Linguistik. Einzeln haben die verschiedenen Variablen in Bernsteins Theorie wenig Bedeutung; nur zusammen sind sie sinnvoll interpretierbar. Meist verirrt sich Bernstein deswegen in gewagte Spekulationen, die leider nicht ohne Auswirkungen auf seine Theorie bleiben, z.B.

"Nur einem winzigen Prozentsatz der Bevölkerung wurde der Zugang zu den Grundlagen intellektueller Differenzierung und geistigen Wandels gewährt, während man dem "Rest" den Zugang verwehrte. Dies legt die Annahme nahe -(sic) - dass wir zwischen zwei Bedeutungssystemen unterscheiden können. Das eine ließe sich "universalistisch" und das andere "partikularistisch" nennen." (263)

oder:

"Der Gegenstand (Gesprächsgegenstand Todesstrafe - d. Verf.) kann für die zwei Schichten unterschiedliche Bedeutung gehabt haben. Die Arbeiterschicht könnte die Tendenz zur Identifikation mit dem Kriminellen, die Mittelschicht die zur Identifikation mit Gesetz und Gerechtigkeitsprinzipien gehabt haben. Es geht nicht darum, dass solche Identifikationen vorkommen, sondern um ihre Auswirkung auf die Sprechweise. Man kann sich mit dem Kriminellen identifizieren, muss aber nicht notwendigerweise auf eine Sprechweise beschränkt sein, die die Charakteristika aufweist, wie sie unsere Befunde belegen." (199)

Im Zusammenhang mit sozialisationstheoretischen und psychologischen Überlegungen werden solche Bemerkungen im Rahmen der Bernsteinschen Theorie verständlich. Erst relativ spät bezieht Bernstein den gesellschaftspolitischen Hintergrund der Schichtkategorie in seine Untersuchung mit ein. Arbeitsbedingungen, kulturelle Unterdrückung, Verdinglichung, Wissen als Privateigentum sind jedoch nur Vokabeln, die bei ihm auftauchen, ohne dass die Zusammenhänge einigermaßen klar würden. Dies führt auch zu unausgeführten selbstkritischen Bemerkungen:

"Unsere Schulen sind nicht für diese Kinder eingerichtet.

Warum sollten sich diese Kinder auf sie einstellen, auf sie reagieren? Die Aufforderung an das Kind, sich auf einen elaborierten Code umzustellen, der neue Rollenbeziehungen und Bedeutungssysteme voraussetzt, ohne dass beim Kind ein näheres Verständnis der ihnen zugehörigen Zusammenhänge vorhanden wäre, muss für dieses eine verwirrende und potentiell schädliche Erfahrung bewirken." (273)

Diese Bemerkung Bernsteins steht aber offensichtlich im Widerspruch zu seinen Forderungen an die Unterrichtspraxis. (s. S. → ff in diesem Text)

Bei der sozialpsychologischen Verfeinerung seiner Theorie geht Bernstein jedoch von der einfachen Zuordnung Schicht-Code über zu komplexeren Beziehungen:

"Die sozialen Schichten unterschieden sich in ihrem Verhältnis zu den Kontexten, die gewisse linguistische Realisationen hervorrufen." (285)

wobei er sich bereits sehr stark auf die Situationsgebundenheit von Sprechweisen bezieht. "Universale Bedeutungen", früher fast ausschließlich ein Merkmal des elaborierten Codes, entstehen jetzt auch beim restringierten Code, jedoch "in anderen Zusammenhängen" (286). Bei Bernstein wird also der Begriff der sozialen Schichtzugehörigkeit zunehmend durch andere Konstrukte ersetzt. Als wissenschaftliche Kategorie kann er in diesem Zusammenhang auch nicht interessant sein, es sei denn, man benutzt ihn als reine Beschreibungskategorie und versucht nicht, ihn in eine Kette von kausalen Zusammenhängen einzuflechten, wie dies Bernstein trotz aller Umsicht durchgehend tut.

1.123 Zwei Formen des Sprachgebrauchs

Bei der Formulierung der Definition und der Bedingungen für die Entstehung der Codes kann man bei Bernstein ebenfalls eine Entwicklung feststellen. Früher wurden die Codes einfach den zwei sozialen Schichten zugeordnet, bzw., bestimmten Wahrnehmung- und Intelligenzleistungen. So ist zum Beispiel der "öffentlichen" Sprache der Zugang zu "universalistischen Bedeutungsordnungen" verschlossen, sie akzentuiert mehr "Dinge" als "Prozesse" (91), "Ursache" und "Folge" werden vertauscht (94), ihre "sympathetische Zirkularität" (93) verhindert die Entwicklung von Neugierde usw. Auch grammatisch versucht Bernstein die beiden Codes voneinander abzugrenzen (87ff).

In der Kritik an Bernstein wurde grundsätzlich nie die Existenz dieser Sprachvarianten bestritten - auch wenn sie anders genannt wurden. Das Problem liegt vielmehr auf der Ebene der Behauptung dass es ausgerechnet zwei sein sollten, und auf der Ebene der Implikationen, die Bernstein aus der Existenz dieser zwei Sprachformen ableitet:

"An dieser Stelle wird es sinnvoll sein, einige der Implikationen der "öffentlichen" Sprache zusammenzufassen. Es handelt sich um logische, soziale und psychische Implikationen. Wir gehen davon aus dass ein weniger entwickeltes Begriffsniveau als das Korrelat dieser Sprachform anzusehen ist. Kennzeichnend sind eine geringe Berücksichtigung von Kausalzusammenhängen, ein Desinteresse an Prozessen, eine Präferenz, auf das Momentane zu reagieren, das die Präferenz hervorgebracht hat, - und zwar eher zu reagieren als auf die Folgen einer Beziehungsmatrix. Dies bestimmt die Intensität und das Ausmaß der Neugier teils ebenso sehr wie den Ausbau der Beziehungen. Diese logischen Erwägungen beeinflussen den Lernprozess, das Gelernte und damit auch das zukünftige Lernverhalten. Für eine besondere Art sozialer Beziehungen wird eine Präferenz geweckt: In dieser Form werden individuelle in nicht-verbaler Weise oder innerhalb der begrenzten Möglichkeiten der "öffentlichen" Sprache vermittelt. Eine Präferenz für umfassende soziale Beziehungen und eine stark ausgeprägte Sensibilität für die Erfordernisse eines solidarischen Gruppenverhaltens herrschen vor. Die Beziehung zur Gruppe besitzt eine andere Form als diejenige, die durch den "formalen" Sprachgebrauch herbeigeführt wird. Es besteht ein sozial induzierter Konservatismus und ein Widerstand gegen bestimmte Formen von Veränderungen, der zum Interesse an Neuem im Gegensatz steht." (S. l0l)

Bernstein neigt dazu, die Dichotomie Hochsprache-Dialekt in seine Theorie zu übernehmen, obschon er sich immer dagegen wehrt, dass restringierter Code und Dialekt ein und dasselbe seien. Die gesamten Konsequenzen, die er aus dem restringierten Sprachgebrauch für den Sprecher aus der Unterschicht angibt, werden in der Mundartforschung jedoch ebenso dem Dialektsprecher zugeordnet (vgl. 1.300). Die funktionalistische Sprachbetrachtung geht jedoch davon aus, dass es nicht bloß zwei Sprachvarietäten gibt sondern in den meisten Gesellschaften durchaus mehrere: Dialekte, Hochsprachen, Fachsprachen, Umgangssprachen, soziale Sprachvarietäten, Idiolekte usw. So gesehen ist es uninteressant, ob die Sprachvariante, die untersucht werden soll "restringierter Code" oder "Dialekt" heißt; wichtig sind nur die strukturellen Merkmale sowie die Kontexte und Formen des Gebrauchs dieser Variante. Wie wir später (1.300) zeigen werden, gibt es keine objektiven Kriterien, nach denen Dialekt und Code voneinander getrennt werden könnten. Besonders linguistisch kann man dies sehr schwer nachweisen; was Bernstein an linguistischen Merkmalen des Codes angibt trifft auch auf den Dialekt zu. Zudem ordnen die Dialektologen ihrem "typischen" Dialektsprecher kognitive, affektive und soziale Merkmale zu, die denen des "restringierten" Sprechers bei Bernstein haargenau entsprechen.

Die Behandlung des Dialekts bei Bernstein ist widersprüchlich: Am Anfang behandelt er Dialekt und Code getrennt: "Jargon konstituiert keinen restringierten Code" (203); "Linguistische Unterschiede - und hiermit sind keine Dialektformen gemeint finden sich in der alltäglichen sozialen Umwelt..." (108). Später bezieht er dennoch die geographische Dimension - das Hauptdefinitionskriterium der Dialektologie und das einzige Kriterium nach dem man Dialekt und Code noch unterscheiden könnte - in seine Arbeit ein:

"Elaborierte Codes sind weniger an eine bestimmte oder lokale Struktur gebunden und enthalten somit die Möglichkeit des Wandels ... Restringierte Codes sind mehr an eine lokale Sozialstruktur gebunden ..." (264)"

Es gibt in jeder Gesellschaft verschiedene Sprachvarianten, die in bestimmten sozialen Kontexten entstehen und sich sehr wohl auf der rein linguistischen Ebene beschreiben und voneinander unterscheiden lassen. Bernstein verarbeitete diese Tatsache indirekt indem er später zu der Unterscheidung von Sprachvarianten (direkt beobachtbar, Oberflächenstruktur der Sprache) und Codes (nicht beobachtbar, Planungsmechanismen, Tiefenstruktur der Sprache) und bei dieser neuen Definition der Codes "sowohl die soziale Strukturierung relevanter Bedeutungen wie die für die Theorie relevanten Kontexte" (54) betonte.

Zu dieser Differenzierung kam Bernstein nur über eine Verfeinerung seiner Theorie ohne dass dadurch jedoch seine Grundannahmen eine Veränderung erfuhren.

Die Implikationen, die er aus der Existenz zweier Sprechweisen ableitet scheinen teilweise aus der Luft gegriffen. Das abgerundete Bild, das er von der sozialen, psychischen und sprachlichen Lage der Arbeiter- und Mittelschicht zeichnet ist nur deswegen so-harmonisch, weil die letztere alle positiven, die erstere alle negativen Qualitäten besitzt; eine Hypostasierung von Zuständen, die Bernstein nur über seine Dichotomisierungspraxis sowie über die ständige Vermischung der drei Analyseebenen Soziologie, Psychologie und Linguistik erreicht.

Obwohl er ausgesprochen an allgemeinen pädagogischen Zielen ist würde sich seine Theorie nur auf bestimmte Populationen anwenden lassen, vor allem auf die die er selbst untersucht hat Von einer Generalisierung seiner Ansichten auf die Situation der Dialektsprecher oder gar auf den Fremdsprachenunterricht kann überhaupt keine Reue sein, vorausgesetzt natürlich, man will auf der Ebene der Defizit-Hypothese weiterarbeiten.

Wurden die Codes schon zu Beginn bei Bernstein als "Qualitäten sozialer Strukturen" (155) definiert, so wurden sie immer mehr mit zusätzlichen Bedingungen ihres Erscheinens verbunden:

Am Beispiel des restringierten Codes:

Dem restringierten Code werden außerdem Qualitäten wie "sozialer Konservatismus" (101, 137) angehangen, aber in einem späteren Aufsatz nimmt sich Bernstein zurück:

"Im Falle der positionalen Appelle (charakteristisch für die Unterschicht - d. Verf.), die schnell in imperative Kontrollformen übergehen,- können die formalen Rechte des Kontrollierenden oder Elternteils gut angegriffen werden, und damit kann die ganze normative Ordnung aus der der Kontrollierende seine Rechte ableitet, unter Beschuss gelangen. Imperative positionale Kontrollformen können den bereits sozialisierten unter gewissen Bedingungen zum Wechsel zu alternativen Wertsystemen veranlassen." (221)

Die personale Kontrolle hingegen (typisch für die Mittelschicht) treibt die Kinder nun gar in die Arme "radikaler und geschlossener" Wertsysteme. (222)

Genauso. elegant wie er sie vorher formulierte redet sich Bernstein aus Behauptungen heraus, wo er erkannt haben mag, dass sie nicht mehr so genau zutreffen. überhaupt macht er in seinen letzten Aufsätzen ziemlich viele Rückzieher: Wurde der restringierte Code vorher durch hohe syntaktische Vorhersagbarkeit definiert und folglich als ein beobachtbares und linguistisch beschreibbares Phänomen betrachtet, so wird er und der elaborierte Code später als der Beobachtung unzugängliche sprachliche Steuerungsmechanismen beschrieben. An die Stelle der "alten" Codes treten die "Sprachvarianten" (288).

Wurde der restringierte Code vorher als Ausdruck eines allgemeinen kognitiven und affektiven Mangels→→