Παντα ρει
ISBN: 9783741260452
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2016 Thomas Climacus
Alle Rechte vorbehalten
1.Auflage
Planung und Satz:
Thomas Climacus
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
www.bod.de
Vielleicht hätte dieses Buch in derjenigen trockenen Sprache abgefasst werden sollen, wie dies bei philosophischen Abhandlungen für angemessen erachtet wird. Allein in dem Augenblick, in dem ich diese Zeilen niederschreibe, fühle ich keinen äußeren Zwang, keine Notwendigkeit, mich an diese, wie ich jedenfalls denke, künstliche Beschränkung zu halten. Stattdessen werde ich einen essayistischen Ton anschlagen, der meinem Leser hoffentlich eingängiger sein wird als die schwer zu verdauende Ansammlung von Fachbegriffen, denen er sich in einer streng wissenschaftlichen Prosa gegenüber sehen würde. Auch werde ich im Zuge dessen auf Fußnoten verzichten, um den Akt des Lesens nicht ohne Not zu erschweren. Soviel zur Darstellung, kommen wir zum eigentlichen Inhalt und zunächst zu den persönlichen Gründen, die mich zum Schreiben dieses Buches bewegt haben.
In meinem dreißigsten Lebensjahr, als ich mich eine gute Zeit nicht mehr mit Philosophie beschäftigt hatte, stellte sich mir eines Tages ohne äußeren Anlass die Frage, was ich selbst der Philosophie beizusteuern hätte. Eine Frage, die mich überraschte, da ich nie die Absicht hatte, originell in der Philosophie tätig zu werden.
In dem Augenblick aber, in dem sich mir diese Frage stellte, schien die Zeit in ihrem Lauf auf einmal inne zu halten. Die Erscheinungen der äußeren Welt verblassten. Die Strahlkraft ihrer Farben erlosch. Es schien, dass die Kausalität selbst ausgehebelt wurde und ihren Einfluss verlor. Ich fühlte mich von allem Äußeren losgelöst und ganz auf das Geistige konzentriert. Ich stand still in einer urplötzlichen Verdichtung der Gedanken. Ich fühlte mich gefangen in einen Akt des geistigen Schauens. Und in diesem Augenblick wurde aus mir selbst heraus die Antwort auf die Frage nach der eigenen Philosophie gegeben. Und dies geschah ohne eigenes Nachforschen, ohne willentliche Anstrengung, ohne eine aktive Suche. Die Antwort aber wurde gegeben als unmittelbare philosophische Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die von allgemeinster Natur ist, und von einem Gefühl der Gewissheit begleitet wird, dass sie mir als unumstößlich erscheint. Ich will die Dinge nicht allzu weit ins Dichterische überhöhen, in der Retrospektive jedoch mutet es mir immer mehr an, als ob mir in diesem Augenblick mein Daimonion erschienen ist, welches mir neben der unmittelbaren Erkenntnis auch den Auftrag gab, diese Erkenntnis niederzuschreiben.
Einen Teil dieser Erkenntnis wird der Leser in diesem Buch vorfinden, nämlich jenen Teil, der um den Begriff der Veränderung kreist. Ein Begriff, der bereits früh die Bühne der Philosophie betreten hat. Sehen wir ihn doch den Urkonflikt der Philosophie herbeiführen, indem Parmenides dem panta rei des Heraklit, also der Lehre von der Veränderung, seinen Gedanken eines unveränderlichen Seienden entgegen stellte. Auch die weitere Geschichte liefert Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Veränderung. Wir sehen Platon durch die Aufstellung seiner angeblich unveränderlichen Ideen versuchen, jenen Urkonflikt zu Gunsten des Parmenides aufzulösen und das panta rei des Heraklit auf diese Weise zu überwinden. In der neueren Geschichte begegnen wir Descartes, der eine indirekte Auseinandersetzung mit der Veränderung führt, indem er durch methodischen Zweifel eine feste Basis, ein unerschütterliches Fundament unseres Wissens aufzufinden gedachte – und damit eben nach Erkenntnissen forschte, die gerade nicht mehr der Veränderung unterliegen.
Es geht bei diesen Auseinandersetzungen im Grunde aber nicht um die Veränderung selbst, sondern vielmehr um die brisante erkenntnistheoretische Konsequenz, die sich aus ihr ergibt. Denn wie sollen wir eine verlässliche Erkenntnis gewinnen von Dingen, die in beständigem Fluss, in beständiger Veränderung sind? Woran sollen wir uns in einer Welt orientieren, in der uns jede Erkenntnis durch die Veränderung der Dinge aus den Händen rinnt? Und, um diese Frage in ihre moderne und noch brisantere Formulierung zu bringen: Wie sollen wir Wissenschaft treiben von einer Welt, in der sich nichts gleich bleibt, sondern alles dem panta rei unterworfen ist? Ja, wie ist denn Wissenschaft von einer Welt, in der eine allumfassende Veränderung herrschen soll, überhaupt nur möglich? Denn das Wesen der Wissenschaft besteht doch gerade in der Überwindung der Veränderung. Wissenschaft scheint doch im Gegenteil nur dann möglich, wenn sich die Dinge gleich bleiben und sich eben nicht verändern.
Der hier in Frage stehende logische Schluss von der Veränderung der Dinge auf die Unmöglichkeit von Wissenschaft scheint zwar formal betrachtet ein gültiger zu sein, jedoch wird der Leser Zweifel an der Wahrheit der Prämisse hegen; denn er wird – über den Umkehrschluss – aus der Tatsache, dass Wissenschaft tatsächlich existiert, also wirklich und demzufolge erst recht möglich ist, auf die Falschheit der Prämisse von der Veränderung, auf die Falschheit des panta rei schließen. Zu Recht natürlich, begegnen wir doch allenthalben den überragenden Erkenntnissen und den beeindruckenden technischen Umsetzungen der modernen Wissenschaft. Physik, Chemie, Biologie – ein Narr, wer an der Möglichkeit von Wissenschaft zweifelt!
Andererseits, wie verhält es sich nun mit jenem panta rei des Heraklit? Irrte er? Müssen wir seinen Satz verwerfen? Gibt es Unveränderliches im Fluss der Dinge? Wie dem auch sei, sicherlich wird der Leser, wenn er seine Alltagserfahrung zu Grunde legt, mit mir einer Meinung sein, dass die Lehre von der Veränderung nicht ganz so einfach von der Hand zu weisen ist. Denn hier, in seiner unmittelbaren Erfahrung, findet er unzählige Beispiele von der Veränderung der Dinge: Meinungen verändern sich, menschliche Beziehungen verändern sich, Gefühle verändern sich, Menschen verändern sich, man selbst verändert sich, politische Systeme verändern sich. Die Aufzählung ließe sich ins Unendliche weiterführen. Auch die sprichwörtlich gewordenen „fließenden Übergänge“, als Begleiterscheinung der Veränderung, sind dem Leser aus seiner Erfahrung ein Begriff.
Es gibt daher einen Konflikt zwischen der Veränderung der Dinge, der wir in unserer Erfahrung begegnen, und der Möglichkeit von Wissenschaft andererseits, welche ja gerade auf der Unveränderlichkeit und der Konstanz der Dinge beruht. Also darauf, dass sich die Dinge gleich bleiben. Ob und wie dieser Konflikt aufzulösen ist, ob er überhaupt besteht, oder ob beide Standpunkte zu einer Konsistenz geführt werden können, ist allerdings erst die zweite Frage, der nachgegangen werden muss. An erster Stelle muss eine Analyse der Veränderung selbst stehen, eine Analyse des panta rei, ob also und inwiefern die empirische Welt der Veränderung unterworfen ist. Erst dann, mit den Ergebnissen dieser Analyse in der Hand, können wir eine differenzierte Antwort auf die zweite Frage nach der Vereinbarkeit von Veränderung und Wissenschaft geben. Anders formuliert: um den logischen Schluss von der Veränderung der Dinge auf die Unmöglichkeit von Wissenschaft ziehen zu können, müssen wir uns zunächst Aufklärung darüber verschaffen, ob die Prämisse des panta rei auch tatsächlich zutrifft, oder in welchem Umfang und welcher Qualität sie zutrifft, oder ob sie sogar – nötigenfalls – zu verwerfen ist.
Dieser Analyse des panta rei werden wir uns in dem vorliegenden Buche widmen. Ich werde hierzu, um gleich in medias res zu gehen, das Phänomen der Veränderung, das panta rei, vermöge zweier Prinzipien der empirischen Welt beschreiben. Prinzipien, die ich zuweilen auch Formprinzipien nennen werde, da sie die allgemeinsten Formen der Veränderung in der Welt zu ihrem Inhalt haben.
Nach der Unterscheidung von Form und Inhalt wäre dann auch die Begriffsbildung von inhaltlichen Prinzipien der empirischen Welt denkbar, und, nicht nur das, sondern als logisches Komplement zum Formbegriff sogar unvermeidlich. Unter welchen inhaltlichen Prinzipien man dann nicht die Formen begreifen würde, nach denen die empirische Welt vor unseren Augen emendiert, sondern die inneren Triebfedern oder die inneren Kräften, welche die Veränderung in der Welt vorantreiben und verursachen. Diesen hier inhaltlich genannten Prinzipien werden wir aber im Fortgang dieses Buches nicht weiter nachgehen. Und zwar deshalb, da hierfür eine ganz eigene Untersuchung von nicht abzusehendem Umfang nötig wäre, die den Rahmen dieses Buches sprengen würde.
Zurück zu den erwähnten Formprinzipien, die in unsrer Analyse im Mittelpunkt stehen. Ich werde dem Leser deutlich machen, so hoffe ich, dass durch das Zusammenspiel dieser beiden Prinzipien die Veränderung, die in der empirischen Welt stattfindet, adäquat beschrieben werden kann. Namentlich aber verstehe ich unter diesen Prinzipien erstens das Prinzip der Individualität und zweitens das Prinzip der Einheitenbildung. Um für den Leser die Spannung zu bewahren, will ich die Prinzipien hier nur ihrem Namen nach einführen, was aber darunter genauer zu verstehen sei, das wird er im weiteren Fortgang erfahren.
Bevor wir uns im folgenden Kapitel dem ersten Prinzip, dem Prinzip der Individualität, zuwenden, soll hier eine Bemerkung zur Einordnung des Buches in die philosophischen Teildisziplinen stehen. Welche Gelegenheit auch dazu dient, gleichsam im Vorbeigehen einige Stichworte zu den im Weiteren behandelten Themen fallen zu lassen. Man kann sich, wie gesagt, das Zusammenspiel der beiden Prinzipien als eine Beschreibung der formalen Art und Weise vorstellen, wie die Veränderung sich in der empirischen Welt abspielt. Das vorliegende Buch könnte daher vielleicht am besten als eine neuartige, nämlich formale Ontologie gedeutet werden, deshalb, weil es auf die formale Erscheinungsweise alles Seienden in der empirischen Welt abzielt. Eine ausschließliche Zuordnung zur Ontologie würde allerdings zu kurz greifen. Denn da es dem Buch um die Aufstellung allgemeinster Prinzipien zu tun ist, so könnte es ebenfalls unter die sogenannte erste Philosophie im aristotelischen Sinne gezählt werden; mithin geht es insofern auch – in der antiken Bedeutung des Begriffs – um Metaphysik. Wir haben außerdem die brisanten erkenntnistheoretischen Konsequenzen angesprochen, die sich in einem zweiten Schritt aus der Analyse der Veränderung ergeben könnten, nämlich hinsichtlich der Frage nach der Vereinbarkeit von Veränderung und Wissenschaft. Angesichts dessen ließe sich das Buch auch in die Erkenntnistheorie einreihen. Da wir zudem häufig dem Begriff „Wissenschaft“ begegnen werden, und im Weiteren etwa die biologische Evolution als Paradigma des Zusammenspiels der Prinzipien fungiert, kann auch von einem wissenschaftstheoretischen Inhalt des Buches gesprochen werden. Schließlich wird es auch um Fragen der philosophischen Bedeutungstheorie gehen, welche als das zweite Paradigma für das Zusammenspiel der Prinzipien erscheinen wird. Sogar eine Zuordnung zur Semantik wäre daher denkbar.
Noch eine zweite Bemerkung soll zum Abschluss der Einleitung angestellt werden: Wir haben oben bereits die Thematik gestreift, welche Rolle das Phänomen der Veränderung in der Geschichte der Philosophie gespielt hat. Nach der Erwähnung des Urkonfliktes zwischen Heraklit und Parmenides hatte ich dort nur zwei weitere Namen, Platon und Descartes, fallen gelassen, die sich mit dem Problemkreis der Veränderung auseinandergesetzt haben. Der erste, Platon, in bloß negativer Weise, indem er die Veränderung und ihre Konsequenzen durch Aufstellung seiner Ideen überwinden wollte. Der zweite, Descartes, nur indirekt, indem er unveränderliche Erkenntnisse von absoluter Gewissheit anstrebte. Dass es bei diesen zwei Namen blieb, die sich mit der Veränderung auseinandergesetzt haben, und beide sich zudem nicht positiv oder direkt mit dem Thema beschäftigt haben, ist kein Zufall. Begegnen wir doch in der Philosophiegeschichte keinem Einzigen, der eine wirkliche Untersuchung über das panta rei selbst angestellt hätte. Ja, wir finden auch nach längerer Suche nicht einmal eine einzige schmale, kleine Abhandlung über dieses Thema – bis auf jene von merkwürdigen Ansätzen geprägte des Aristoteles, die kaum der Rede wert ist. Es scheint, als würde die Veränderung nur eine Nebenrolle in dem Bühnenstück der großen philosophischen Strömungen spielen – und dies zu Unrecht, da es ja gerade die Veränderung ist, die uns alle unmittelbar betrifft und schließlich gerade ihr, wie gezeigt, als philosophisches Konzept eine enorme Explosivkraft zukommt.
Bei der Beobachtung dieser Nebenrolle beschleicht mich ein zwiespältiges Gefühl. Da fühle ich einerseits Verblüffung und Verwunderung, dass dieses Thema so wenig Beachtung in der Philosophie erfahren hat. Andrerseits rinnt mir ein Schauer über den Rücken: zeigt diese Beobachtung doch in aller Deutlichkeit die Geschichtlichkeit unseres Denkens. So scheinen vielleicht gerade die Philosophen im hergebrachten Denken, in der Ideengeschichte allzu stark verhaftet zu sein! Und dies meine ich nicht nur auf den Begriff der Veränderung bezogen, sondern in einer ganz allgemeinen Hinsicht. Wie viele Philosophien sind wohl erstickt worden durch diese allzu starke Verhaftung in der Ideengeschichte? Wie viel Unentdecktes liegt wohl brach auf jenen abseits liegenden Feldern des Denkbaren, die nur durch Abwendung von der hergebrachten Philosophie zu erreichen sind? Wie viele verborgene Schätze an Ausdeutungen der Welt gibt es wohl zu heben durch das vorurteilslose, nicht durch die Geschichtlichkeit gefesselte Denken? Wir werden uns mit diesem Buch von der Verhaftung in der Geschichtlichkeit ein wenig ablösen können. Der Leser wird hier etwas Neues vorfinden, er wird einer neuartigen Philosophie begegnen. Wir werden, wenn man so will, eine neue Tür aufstoßen und werden einen kaum betretenen Pfad beschreiten. Ich sage „kaum betretenen Pfad“ und weiter oben „ein wenig ablösen“, da ja auch wir einen Anknüpfungspunkt in der Geschichte besitzen, nämlich Heraklit und sein panta rei.
Für echte Unabhängigkeit im Denken ist also eine Loslösung aus der Geschichtlichkeit erforderlich. Es ist eine Distanz zur traditionellen Philosophie erforderlich. Und damit eine Distanz zur „Universitätsphilosophie“, als dem Kind dieser Tradition. Eine Ausbildung in traditioneller Philosophie dient gleichsam nur als Rüstzeug, um den Anstieg zu den Hochebenen des unabhängigen Denkens bewältigen zu können. Hat man aber