Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
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Impressum
© 2016 Horst B.
Satz, Layout und Umschlaggestaltung: Achim Czogallik
Abbildungen: Horst B.
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7412-6890-8
Es war einmal in Deutschland. In diesen kurzen Geschichten werden aus diversen Tagebuchaufzeichnungen die in den Träumen und auch in der Tat erlebten Geschehnisse schonungslos erzählt.
Wie sagte es schon jemand im neunzehnten Jahrhundert: »Endlich ist mein Entschluss gefasst, ein Tagebuch zu schreiben, in welchem man alles, was freudig oder traurig das Herz bewegt, dem Gedächtnis überliefert, um sich nach Jahren noch am Leben und Treiben dieser Zeit und besonders meiner zu erinnern. Möge dieser Entschluss so nicht wankend gemacht werden, obgleich bedeutende Hindernisse in den Weg treten.«
Alle negativen Ereignisse erscheinen den Personen als Höllenerlebnisse und alle guten als der wahre Himmel – also »mal Himmel, mal Hölle«.
Da pflegt ein in die Jahre gekommener Mann seine an Parkinson erkrankte Cousine zehn Jahre Tag und Nacht bis zu deren Tod. Nach deren Tod wird dieser Mann wegen seelischer Depressionen auf Empfehlung seines Arztes entsprechend behandelt und zur Selbsttherapie animiert. Diese Selbsttherapie findet in Form von einsamen Waldspaziergängen statt. Und eines nachts begegnet ihm ein junger Mann, der ebenfalls gerne nachts durch die Botanik wandert. So sind sich unbewusst zwei Romantiker über den Weg gelaufen. Von nun an trifft man sich immer wieder. Bei diesen Treffen wird über Gott und die Welt diskutiert, die großen und die kleinen Probleme werden regelrecht durchsponnen: die Bankenkrise, Asylprobleme und auch viel Nonsens. Bei näherer Beurteilung können die Dialoge der beiden Personen als Spiegelbild einer Zeit gewertet werden.
Im Laufe der Zeit hat sich zwischen den beiden Männern ein Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt. Man gehört irgendwie zusammen. Es sind aber keine Typen, die großen Lärm in der Welt machen; man kommt eben aus der Mitte des Volkes. Der Jüngere fasziniert den Älteren immer wieder mit seinen klaren und für seine Jahre sehr sachlichen Ansichten. Man gelangt zu der gemeinsamen Erkenntnis, dass die eigentlichen Probleme des 21. Jahrhunderts noch zu erwarten sind, wobei bei der Vielzahl der Verrückten womöglich ein Atomholocaust ebenfalls zu befürchten ist.
Es heißt in diesem Buch: »Mal Himmel, mal Hölle«. Der Himmel ist das Göttliche, die Glückseligkeit, Erlösung, Befreiung oder so etwas wie Nirwana. Und die Hölle ist die Gehenna, Hades oder auch ganz einfach Finsternis. Auch wenn bei den meisten Menschen die Hölle etwas Lichterlohes ist. Milliarden Menschen können sich ja auch irren.
Die Ausstrahlung des Jüngeren, ein Sebastian, auf den Älteren ist so kraftvoll,dass dieser nach einiger Zeit glaubt, mit dem Ableben werden Geburt und Tod miteinander verschmelzen, wobei man bedenken sollte,dass der Ältere durch etliche Todesfälle bis dato von Tragik und Ironie beherrscht worden ist.
Die Ironie kann wohl als unbewusste Abreaktion beurteilt werden. Welch ein Wunder der Eigentherapie: Viele Aggressionen des Älteren haben sich in die Traumwelt verlagert. Eine ganz besondere Kunst, die eigenen Schwierigkeiten zu überwinden. Das sollte all diesen mordlüsternen Elementen auf unserem Globus dringend empfohlen werden.
Die Hoffnung stirbt angeblich immer zuletzt?
Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt im Paulinenstift in der Schiersteiner Straße befand sich die Cousine nun wieder im St. Josef Krankenhaus. Sie lag in einem Dreibettzimmer in der fünften Etage. Im Bett am Fenster eine doch schon sehr betagte Frau, die ständig vor sich hinredete oder auch nur plapperte wie ein aufgezogener Wecker, den man nicht abstellen konnte. Sätze, die sich ständig wiederholten:
»Mama, weißt du noch, damals war es auch so schön«, oder »Mama, heut’ machen wir aber den großen Ausflug, aber vorher wird auch alles aufgegessen«, Oder »Mama, wir fahren jetzt gemeinsam ins Paradies«, und so weiter schallte es stundenlang in den Raum.
Meine Cousine bat mich: »Horschtel, stell doch bitte das Radio ab, es spielt schon den ganzen Vormittag!«
Meine Antwort: »Ja gerne, es ist nur ein Lebensradio, an dessen Tastatur habe ich nichts zu suchen.«
Ein inzwischen hereingekommener Pfleger mit sehr besänftigender Stimme zur alten Dame: »Frau Reimann, für Sie ist doch alles so gut gelaufen. Bald kommen Sie wieder in ihr Heim zu den anderen Mitbewohnern.«
Auf eindringliches Bitten der Cousine wurde meinerseits überprüft, ob sich denn auch kein Krokodil unter irgendeinem Bett versteckt habe. Widerspruchslos bückte ich mich so, als würde ich alles ordnungsgemäß überprüfen.
»Liebes Ilschen, es ist alles in bester Ordnung. Ihr drei Damen seid ganz allein im Zimmer.«
Die Cousine jetzt sehr erleichtert: »Ja, ja, Horschtel, wenn ich dich nicht hätte.«
Aus dem Mittelbett krächzte es immer in Abständen wie ein Kolkrabe. An diesem Bett war der Urinbehälter immer ganz schwarz. Die Cousine war mit ihren 80 Jahren die jüngste Patientin im Zimmer. Sie schaute mit verrenktem Kopf zum Mittelbett, ihre Pupillen sichtlich vergrößert, und fragte, meinen Arm greifend: »Sag, wer ist denn das dort im Bett?« Mit wenigen Worten konnte ich sie beruhigen.
Sie bekam in kurzen Zeitabschnitten immer einen Schluck zu trinken, ihr winziger Mund nippte wie eine Spitzmaus am Trinkbecher. Was seit Monaten nun schon nicht mehr der Fall war: Die Cousine lächelte mich an, ihre schwachen Hände berührten mich ganz zaghaft. Diese Reaktion einer Kranken stimmte mich froh, mir schien, als verspürte ich im ganzen Körper fließende Energieströme. Welche Kraft ein Lächeln in bestimmten Situationen doch bewirken kann! Mein Empfinden war, als schwebte ich im ersten Himmel, tausend Gedanken rasten durch mein Bewusstsein.
Eine Stunde später wanderte ich durch die Alvinenstraße in Richtung Bushaltestelle. Auf diesem Weg sah ich alles durch eine rosarote Brille. Was mich plötzlich hier alles interessierte. Dort das Solmschlösschen, welches sonst kaum beachtet wurde. Es handelt sich bei diesem Bau um einen schlossähnlichen Prunkbau von 1890 des Prinzen Albrecht von zu Solms-Braunfels. Es zog mich nun nach unten ins Kurviertel, um dort am Bach entlangzulaufen. Dort stehen wunderschöne Villen aus dem Spätklassizismus. Rechts die Parkstraße, links die Sonnenberger Straße. Hier in der Dunkelheit fühlte ich mich weit in die Vergangenheit zurückversetzt. Leise rieselte das Wasser den Bach hinunter, kaum noch Blätter an den Bäumen. Diese Jahreszeit hatte schon immer ihren besonderen Reiz für mich.
Weil es so mild war, beschloss ich, hier hinter dem Kurpark auf einer Bank etwas zu rasten. Teils klar, teils schon verschwommen erschienen mir die Bilder der Vergangenheit. Vielleicht befand ich mich schon in einem Halbtraum.
Die Cousine sah ich, wie sie sich in einem unmittelbaren Zwang befand, leben zu wollen und dieses auch zu müssen. Während sie seit Beginn ihrer Krankheit sich schon einmal mit Suizidgedanken befasst hatte, so konnte ich jetzt erkennen,dass im Angesicht des möglichen Todes ein sehr großer Lebenserhaltungstrieb vorhanden war. Selbst, wenn die Welt nur noch vom Pflegesessel aus existieren sollte, so waren doch die Blumen auf dem Balkon oder auch nur die wenigen Geräusche von der nahen Straße wahrzunehmen. Jetzt, in dieser Situation, kämpfte man ums nackte Leben.
Vielleicht lebte sie in den vergangenen Jahren schon zu sehr in Erinnerungen, weil die Gegenwart bereits zu wenig an Hoffnungen barg. Die Wucht des Lebens kann so erbarmungslos sein, und unser irdisches Leben pendelt eben nur zwischen Geburt und Tod. Am Ende der Tage kann jeder für sich das auf eine Waagschale legen, was er in seinen schlechtesten Zeiten und was er in seinen schönsten Zeiten erfuhr.
Zur Glückseligkeit gehört nun mal,dass der Mensch wenigstens nach seinen Fähigkeiten sein Leben frei gestalten kann. Und genau das war der Cousine über viele Jahre in der kleinen Goldschmiede ihres damaligen Chefs ermöglicht worden. Die schöpferischen Kräfte waren ihr treu, sodass eine ständige Lebensentfaltung aus dem Innersten immer wieder neu sprudeln konnte.
In jener Zeit hatte sie die schönsten Goldarmbänder entworfen und auch angefertigt. Sollte es so etwas wie eine Seinserfahrung geben, bei ihrer schöpferischen Tätigkeit musste die Cousine sie erfahren haben, denn damals strahlte ihre Person einen Glanz aus, der alle Schranken hätte durchbrechen können.
Mein Gott, wie ich bereits jetzt, hier auf dieser Bank hinter dem Kurpark, gedanklich in die ferne Vergangenheit versunken war!
Danach erschienen mir Fantasielandschaften. So zum Beispiel alte Häuser mit steinernen Engeln auf den Dächern, das alles umgeben von sehr hohen Bergen. In diesen Häusern wohnten Menschen, die mit dem Rest der Welt nichts mehr zu tun haben wollten. Die Heranwachsenden in diesen Häusern sollten lernen,dass das Leben das Höchste sei, was sie besäßen, und im Notfall könnte niemand mehr verlieren. Auch müsste der Glaube an die Existenz des Fegefeuers und ewiger Pein aus allen Hirnen getilgt werden. Ferner sollte die Erziehung auch immer beinhalten,dass die Intelligenz nicht dazu dienen dürfe, den Nächsten zum eigenen Vorteil auszubeuten. Fazit dieser Erziehung ist immer: Ein zur Freiheit Berufener sollte die Fähigkeit entwickeln, sich allen negativen Versuchungen und Anfechtungen gegenüber mit Erfolg zur Wehr zu setzen.
Anscheinend kam mein Kopf nun wieder in dieser Welt an, auch wenn noch einige wenige Bilder in meinem traumversunkenen Zustand hier im nächtlichen Kurpark durch meine Gedanken blitzten. Auf dem Heimweg beschloss ich, von nun an ein Tagebuch zu führen. Jedenfalls sollen die für mich interessantesten Ereignisse aufgeschrieben werden.
Am späten Abend verweilten meine Gedanken noch, von der obersten Hausetage meditierend und weit über die Stadt sehend, auf den vielen Lichtern von Wiesbaden.
Vor einem Dreivierteljahr, zur Jahrtausendwende, stand ich mit der Cousine hier oben. Wir waren damals voller Hoffnung, dass uns dieses Vergnügen auch im darauffolgenden Jahr ermöglicht sein wird.dass dann auch alles anders geschehen kann, wurde aber nicht für unmöglich gehalten. Jedoch bis zur nächsten Jahreswende vergehen immerhin noch Wochen und Monate. Wie oft wird der bronzene Hirtenjunge auf der antiken Truhe noch liebevoll entstaubt, der alte Fritz à la KPM behutsam gewienert? Ja, ja diese schönen Gegenstände werden die Dame und auch mich weit überleben.
Das waren unsere gemeinsamen Gedanken vor zehn Monaten hier oben. Und nun liegt das dürre zerbrechliche Persönchen in einem Krankenhauszimmer wie in einem Wartezimmer. Wartet und wartet schon seit Wochen, als wolle sie ihrem eigenen Ich Lebewohl sagen. Welch ein Schauspiel bot sich mir da. Und zur Nacht zog ich dann alle Vorhänge vor die Fenster. Im Moment bin ich mir wohl selbst genug. Kann’s was Besseres denn überhaupt geben?
Somit für heute eine gute Nacht, trotz allem.
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren!
Hiermit schildere ich Ihnen einen tragischen Fall in Kurzform. In Wahrheit könnte er aber viel komplexer sein.
Die Person, um die es sich handelt, könnte mit Sicherheit wegen ihres starken Lebenswillen noch leben und wahrscheinlich sich auch auf dem Wege der Besserung befinden. Man ist in der Klinik mit einem etwas schwierigen Fall wohl einfach nicht klargekommen?
Eine Anzeige ist aus mehreren Gründen aussichtslos. Und der Verstorbenen hilft es ohnehin nicht mehr. Trotzdem bin ich nun der Meinung, dass diese doch so undurchsichtige Angelegenheit an offizieller Stelle zur Kenntnis genommen werden sollte. Aus welchen Gründen auch immer.
Falls die Behörde etwas unternehmen sollte, (Nachforschungen) darf ich um äußerste Diskretion bitten. Mein psychischer Zustand verkraftet derzeit nicht mehr viel. Und schon gar keine Anwälte eines Krankenhauses!
Hier ist ein Beweis dafür, dass ich persönlich mich um die so wichtigen Medikamente zu oft kümmern musste. Eigentlich ist das ein Skandal!
Die Fakten zu einem Krankenhausaufenthalt:
Zu meinem Entsetzen und meinem Leid möchte ich hiermit kundtun, dass am 7.12.2000 um 7:45 meine Cousine, Frau Ilse Albrecht, im St. Josef Krankenhaus verstorben ist. Frau Albrecht hat wenige Wochen nach einer Operation eine weitere wichtige OP damals noch abgelehnt. Leider hat man mich seinerzeit über die beabsichtigte zweite Operation vorher nicht informiert. Durch meine Beeinflussung hätte die Patientin damals mit ihrer Unterschrift zu einer weiteren OP (Hüfte) garantiert zugestimmt.
Bedauerlicherweise stellte sich bald heraus, dass nun durch entstandene Komplikationen (Geschwür am Steiß) an eine Hüft-OP vorerst nicht zu denken war. Diese Wunde am Steiß wurde nun dem Personal in der Geriatrie (Paulinenstift) angelastet, obgleich dort nur ein dreitägiger Zwischenaufenthalt stattfand.
Hierzu soll nicht unerwähnt bleiben, dass bei meinen täglichen Besuchen im St. Josef (nachmittags ab 15 Uhr) meine Cousine oft halb nackt und fast liegend krampfhaft auf einem unbequemen Toilettenstuhl saß. Und schon da konnte ich als Laie leichte Druckstellen gut erkennen. Aus diesem unbequemen Stuhl wurde das Häuflein Unglück dann durch mich oft befreit. Plötzlich strahlten ihre Augen wieder Ruhe und Dankbarkeit aus.
Die später so körperlich heruntergekommene Gestalt hätte zu dieser Zeit noch gut ihre 40 Kilo auf die Waagschale gebracht. Außerdem musste ich zu meinem Erstaunen des öfteren feststellen, dass eine schlampige, wohl fast fahrlässige Verabreichung der so wichtigen Parkinsonmedikation stattgefunden hat.
So musste ich mal an einem Wochenende mit der Taxe, Taxiunternehmen E. Rühling, in die Wohnung der Cousine fahren, um rechtzeitig eine Anzahl fehlender Medikamente für zwei Tage zu holen. Leider gab es wegen fehlender Tabletten immer wieder Beanstandungen. Darf denn in einem Krankenhaus so etwas vorkommen? Selbstverständlich war ein Großteil des Personals sehr gewissenhaft, ja sogar aufopfernd bemüht, was auch anerkennend gesagt werden muss. Und trotzdem immer wieder diese Pannen. Statt der fehlenden P-Medikamente wurde das hilflose Geschöpf garantiert mit starken Beruhigungsmitteln und Antidepressiva vollgespritzt.
Hierzu die Mitteilung einer älteren Dame aus Hofheim, die im gleichen Zimmer lag. Aussage der Dame aus Hofheim:
»Wir mussten wieder die Schwester rufen, denn wir konnten abermals kein Auge zumachen. Ihre Cousine fantasiert. Sie schreit nach Ihnen, nach ihrer Mutter: ‚Helft, helft mir doch. Hilfe, ich gebe euch alles, was ich habe. Ich habe genug, nur helft mir.’
Darauf soll das Personal gesagt haben: »Sie bekommt doch schon die stärksten Mittel, mehr können wir nicht.«
Hierzu kann ich nur sagen, dass meine Cousine zu Hause sehr selten fantasiert hat. Nach meiner Beobachtung nur dann, wenn mal versehentlich die Tabletten unregelmäßig eingenommen worden sind.
Schon vor Jahren haben Fachspezialisten der Charité und in den Beelitz-Heilstätten uns darauf aufmerksam gemacht, dass zeitlich sowie mengenmäßig bei der Einnahme von Parkinsonmedikamenten auf äußerste Genauigkeit zu achten sei. Und was ist hier im Krankenhaus passiert? Es schreit zum Himmel: Am 6. Dezember fehlten wieder Tabletten für die Nacht. Auch lag damals ein kleiner Zettel neben der Medikation »Comtess 22:30 abs.« oder so ähnlich. Außerdem war in dem Fach für 5 Uhr morgens gar nichts vorhanden.
Am nächsten Morgen war Frau Albrecht tot.
In der letzten Nacht soll die hilflose Person Krämpfe gehabt haben. Und in den letzten fünf Tagen sah diese Frau gespenstisch aus. Mit Sicherheit keine 25 Kilo mehr. Außerdem wollte sie nur noch essen (Abendessen), wenn ich ihr dabei helfe, also mitessen. Sie sagte: »Man vergiftet mich.«
Diese Aussagen hielt ich für Halluzinationen, verursacht durch Antidepressiva. Sollte dem nicht so gewesen sein, müsste dann nicht ein unheimlicher Verdacht aufkommen? Unverantwortlich wäre auch die Verabreichung von Antidepressiva gewesen. Aber beweisen kann man jetzt gar nichts mehr. Mir mache ich die schwersten Vorwürfe, dass ich nicht ganz unverbindlich die Polizei um Rat gebeten habe.
In den letzten Tagen waren Habitus und auch der Gesichtsausdruck der Verstorbenen so, dass ich wahrscheinlich bis zum jüngsten Tag von diesen Eindrücken verfolgt werde. Die Erben hingegen werden diesen Tod wohl klammheimlich als etwas Bekömmliches empfinden.
Noch nie im Leben klagte die Patientin so sehr über Herzbeschwerden, besonders aber über Gesamtschmerzwahrnehmungen und Schlafstörungen wie in den letzten vier bis fünf Wochen im Krankenhaus. Während nach der OP nur die operierte Stelle sehr zu schaffen machte.
Störungen oder Panikattacken. Dabei nehmen alle diese neuen Antidepressiva Einfluss auf die Stimmung wie auch auf Herz, Lungen, Nieren, Muskulatur, den Schlaf-wach-Rhythmus und die Schmerzwahrnehmung.
Heute, am 13. März 2001, am 81. Geburtstag meiner Cousine Ilse Albrecht wurde ihre Urne auf dem Moltkefriedhof in Lichterfelde beigesetzt. Die Zeremonie spielte sich so ab: Schon 30 Minuten vor der Trauerfeier erschien ich an der Grabstelle, um ein Licht anzuzünden, bevor die anderen wenigen Trauergäste erschienen. Hier am frühen Vormittag herrschte eine sprichwörtliche Friedhofsruhe.
Früher – in den letzten sechs Jahren – waren die Cousine und ich fast täglich hier, um das Grab ihrer Mutter doch recht übermäßig zu pflegen, vielleicht war es auch schon ein wenig Totenkult. Vor Jahren befand sich hier auch die Urne des Vaters. Aber diese Urne hatte der Bruder der Cousine klammheimlich zu sich nach Hause nach Irland mitgenommen, weil angeblich diese Grabstelle so verlottert gewesen sein soll. Dazu muss gesagt werden, dass die hinterbliebene Mutter bereits 92 Jahre alt war und die Tochter, also meine Cousine, zu diesem Zeitpunkt schon mit den Anfängen der parkinsonschen Krankheit zu tun hatte. Diese Realität des Gesundheitszustandes wurde bewusst verdrängt, um die bis dahin noch halbwegs rüstige Mutter nicht unnötig zu beunruhigen. Ab dem heutigen Datum werden sich wieder zwei Urnen vor dem Familiengrabstein befinden.
Aus der Ferne war ein zaghaftes Frühlingsgezwitscher wahrnehmbar, es handelte sich wohl um die ersten Boten der Jahreszeit. Es war ein schöner, sonniger Spätmorgen, klar und rein wie ein Diamant. Noch vor Stunden empfand ich alles ganz anders, denn seit Wochen graute mir vor diesem Tag, eigentlich schon seit dem Todestag. Und begriffen habe ich es eigentlich noch nicht, dass ein mir so nahestehender Mensch jetzt irgendwo im Nirgendwo sein sollte. Waren wir uns in den letzten Jahren doch immer nähergekommen wie eine Familie aus zwei Personen bestehend.
Inzwischen nun war das Ehepaar Schlawe aus Pankow vor der Kapelle am Friedhofseingang eingetroffen. Frau Schlawe hielt einen noch in Zellophanpapier verpackten großen Rosenstrauß in ihren Händen, ihr Gesicht dahinter war kaum zu sehen. Ilschens Bruder und ein weiterer Cousin aus Lübeck waren nun ebenfalls eingetroffen, beide sprachen laut mit dem Pfarrer wie auf einem Marktplatz. Der Pfarrer war mir ja bekannt, schon Tage zuvor hatte ich mit ihm alle Beerdigungsformalitäten einschließlich der erwähnenswerten Punkte für die Grabrede besprochen, also brauchten die beiden anderen Verwandten nur zur Beisetzung anzureisen.
Nach 30 Minuten hatte ich mich mit einem verlegenen Kopfnicken dann zur Trauergemeinde begeben. Der Pastor sagte, man könne nun schon hineingehen, wenn denn alle damit einverstanden seien. Nachdem nun in der Kapelle alle ihre Sträuße und Gebinde vor der Urne abgelegt hatten, räusperte sich der Pfarrer leise, dann begann er mit pathetischer Stimme ein Gebet. Nach wenigen Minuten ertönte vom Tonband sanfte Orgelmusik. Dann die kurze Gedenkrede von 15 Minuten.
Diese Rede drückte keineswegs auf die Tränendrüse wie so üblich bei solchen Anlässen, sondern die wesentlichen Ereignisse aus dem Leben der Verstorbenen wurden kurz und sachlich, aber sehr würdevoll erwähnt. Er sprach von der sorglosen Kindheit in Pommern, von der Flucht und dem frühen Tod ihres Mannes in russischer Kriegsgefangenschaft. Kurz erwähnte er, dass in den schweren Nachkriegsjahren ein Jude aus Galizien ihr und den Eltern die hilfreichen Hände reichte, dass später noch erfolgreiche Jahre kamen und schließlich im letzten Jahrzehnt eine unheilbare Krankheit mit schwerem Leiden. Diese Predigt war so überzeugend und einfühlsam, mein Gedanke war: Wie mächtig doch Worte sein können. Mit seinen 70 Jahren strahlte dieser Pfarrer noch eine lebensbejahende Vitalität aus, die allein überzeugte schon.
Von draußen tönte der ferne Glockenklang herein, die Kapellentür öffnete sich und das Morgenlicht überflutete uns geradezu. Die kleine Trauergemeinde setzte sich nun langsam in Bewegung. Wir folgten dem Friedhofsdiener, der die Urne auf Brusthöhe vorneweg trug, ganz nebenbei hüpfte eine Amsel, die uns bis zur Urnengrabstelle folgte. Fast lautlos war es jetzt auf dem Friedhof. Der Herr aus Lübeck, so fiel es mir erst dann auf, war fast hell gekleidet, zumal wir anderen alle dunkel und sehr dezent erschienen waren. Was mir während der Beisetzung noch äußerst unangenehm auffiel – es war schon peinlich -, der Herr zündete sich eine Zigarette an, dabei mit den Händen hektisch hin- und herfuchtelnd. Mit weit offenem Mund schaute Frau Schlawe mich an, ihr Entsetzen war unübersehbar.
Die Urne befand sich nun in der Gruft. Der Pfarrer warf auf die noch offene Grabstelle eine Hand voll Erde, einer nach dem anderen warf schweigend ebenfalls eine Hand voll Erde auf die Urne. Jetzt begann jeder, seinen Strauß möglichst am günstigsten zu platzieren. Nach meiner Erfahrung hätte der daneben stehende Friedhofsdiener jetzt ein Trinkgeld bekommen müssen, aber der Bruder aus Irland stand nur da wie ein Schaf vor der Schlachtbank.
Nun gingen wir alle zurück in Richtung Kapelle, dort angekommen blieb der Pastor mit einem fragenden Gesichtsausdruck stehen, worauf meinerseits der Vorschlag unterbreitet wurde, den Pastor hier gleich zu honorieren, wovon dieser auch sehr angetan schien. Der Bruder nun mit energischen Worten: »Nein, nein, bitte schicken Sie mir die Rechnung zu, benötige diese nämlich fürs Finanzamt.« Für einen Moment stockte mir der Atem. Jetzt verabschiedete sich der Pfarrer mit den Worten, er habe noch den nächsten Termin und schon war er verschwunden.
Es wurde nun vereinbart, dass wir uns Übriggebliebenen in einer guten Stunde zum Leichenschmaus am Bahnhof Lichterfelde West in einem gediegenen Restaurant treffen würden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass die Cousine mich in den nächsten Wochen und Monaten in Alb- und Wachträumen mehr oder weniger gespenstisch und auch realistisch verfolgen würde. Auch kamen die ersten Selbstvorwürfe, nicht genug unternommen zu haben, um den Krankheitsverlauf eines Menschen erträglicher gestaltet zu haben.
Nach einer Stunde nun waren wir alle in einem sehr gepflegten Restaurant direkt am S-Bahnhof. Jeder bekundete dem Bruder hier nochmals sein Mitgefühl, obgleich jeder auch genau wusste, dass das Verhältnis der Geschwister in den letzten Jahren kein inniges mehr war. Meistens kam der Bruder aus Irland zur Schwester nur zum Schnorren, von einem echten Mitgefühl war nur selten etwas zu spüren, so wurde die Krankheit meistens als Hysterie abgetan.
Ohne mich hier nun ins rechte Licht zu setzen, den Trost durfte ich der alten Dame spenden. Vielleicht ist ja an mir auch ein Pfleger verloren gegangen? In ihren Angstzuständen lehnte Cousinchen sich immer ganz eng an mich wie ein verängstigtes Reh. Durch die Krankheit wohl bedingt, spürte ich ihre kurz auftretenden Hitzewallungen, Minuten später dann wieder die eiskalten Hände. Das alles war nun vorbei.
Im Restaurant unüberhörbar ein Geschnatter beim Leichenschmaus, sodass für meine Gedankengänge kein Raum mehr übrig blieb. Es wurde gespeist und getrunken und nochmals getrunken. Nach über 90 Minuten wurde mein Bedarf für den heutigen Tag gefüllt. Hier raus, und so meine Bitte, mich doch heimgehen zu lassen. Dieser Heimweg sollte weder mit Bus oder Bahn geschehen, sondern per Pedes, was durch Dahlem auch ganz entspannend war und noch nachträglich zur Besinnung beitragen sollte.
Endlich daheim angekommen. Hier auf meinem Sofa schien es möglich, sich gedanklich einfach zu verlieren, wie es Mutter nach getaner Arbeit früher immer sagte. Leider kam es nicht zu dieser inneren Ruhe. Es war mir ein Bedürfnis, alte Fotos und Ansichtskarten von der Cousine zu betrachten, die sie mir immer aus dem Urlaub sandte. Nochmals die Vergangenheit anschauend und durchleuchtend, wurden die Bilder von gestern und vorgestern wieder lebendig.
Dann erinnerte ich mich, dass am Jahresanfang ein Brief an die Kriminalpolizei Wiesbaden gesandt wurde. Auch dieses Schreiben sollte jetzt in aller Ruhe gelesen werden, ob denn meine Reaktion von damals zu emotional war oder doch für mich vielmehr eine gute Ventilfunktion hatte. Im Nachhinein – so empfand ich es schon jetzt – hatte mein Schreiben an die Kripo mir ein Gefühl der Erleichterung beschert und somit wohl doch noch einen Sinn gehabt. Trotzdem befürchtete ich, dass die nächtlichen Träume ein zwanghaftes Denken verursachen könnten. Da konnte und musste man mit einer Eigentherapie eine gewisse Entspannungstherapie entwickeln, damit ein eventueller Erregungspegel erst gar nicht ansteigen konnte.
Viele Menschen verkriechen sich in schwierigen Situationen in ihr Schneckenhaus, andere hingegen werden Alkoholiker, wiederum andere greifen zum Telefon und einige verirren sich sogar im Labyrinth ihrer eigenen Seele. Das alles wollte ich bei mir nicht zulassen, sondern meine Therapie begann im Wald. Schon in meiner Kindheit hatte der Wald mich verzaubern können. Hier begannen alle Antriebe zum Erhalt des Lebens neu zu keimen. Schon in der nächsten Woche sollte ein Wandertag stattfinden, auch sollten die Eindrücke notiert werden, um so später von der positiven Erinnerung noch erfüllt zu sein. Schon vor geraumer Zeit konnte ich erfahren, dass eine Sammlung von guten Erinnerungen der wertvollste Reichtum sind, den einem niemand rauben kann. Die Erinnerungen sind eben frei. Ich glaube, die verdunkelnden Mächte des Denkens werden durch eine entsprechende Eigentherapie sehr gut in den Griff zu bekommen sein, wobei man sich nicht unbedingt immer in den Wald verkriechen und diesen als alleiniges Allheilmittel betrachten sollte.
Jetzt kommt aber eine andere Zeit, und nur noch eine relativ kurze Zeit. Und meine Zukunft wird wohl nur noch mehr oder weniger durch die Zeit bis zum Tod der Verstorbenen bestimmt werden. Vieles ist von nun an in weiter Ferne, vielleicht viel, viel weiter als die entferntesten Sterne. Allerdings suche ich nicht nach neuen Freunden, und so wird Ungeplantes dem Zufall überlassen, wer denn in meinem zukünftigen Leben an Bedeutung gewinnen oder auch verlieren wird. Das Entscheidende muss wohl ohnehin jeder mit sich selbst ausmachen, was bei mir mit Beendigung der Kindheit sowieso der Fall war.
Mit siebzehn von zu Hause abgehauen. Das war ein Sprung ins eiskalte Wasser. Damals hieß es: Ja, ich werde immer auf mich achtgeben. Die Verstorbene sprach in jener Zeit viel vom gesunden Körper, von Zufriedenheit und von einem unerschütterlichen Vertrauen, weil das die Schätze der Befreiung seien. Was mich nun anbetrifft, so ist das mit dem Vertrauen eine solche Sache gewesen und wird es wohl auch in Zukunft sein. Wer aber ist schon völlig zufrieden mit sich selbst. Die Ansichten der Cousine haben mir aber trotzdem viel Freude bereitet. Und ich werde sie in Zukunft sehr vermissen. So möchte ich abschließend sagen: Das Wesentliche eines Menschen ist seine ganz eigene Tat.
Ich werde ab morgen mit meinen Wanderungen durch Wald und Flur beginnen und davon berichten.
Märzspaziergang
Es ist ein wunderschöner Frühlingstag im März. Es wird ein Wandertag zwischen Nedlitz bei Potsdam und dem Ort Marquardt werden. Ausgangspunkt ist die Bushaltestelle vor der Brücke in Richtung Westen. Dieses Gelände durch Wildgestrüpp scheint anfangs ziemlich schwer begehbar. Den Fahrländer See kann man zur rechten Seite nur noch lichtblinzelnd wahrnehmen.
Dann offene und eingezäunte Wiesen hinter einem moorigen Wassergraben, welcher mit verdorrtem Gras an seinen leichten Abhängen zugewachsen ist. Rechts des Weges auf dem Kanal gleiten von Zeit zu Zeit gemächlich und fast lautlos von Ost nach West und umgekehrt Frachtkähne dahin.
Auf diesem 90 Minuten dauernden Spaziergang bin ich die ganze Zeit alleine, was als völlige Abgeschiedenheit empfunden wird, wenn dort nicht ein dumpfes Grollen von der fernen Autostraße zu hören wäre.
Links des Kanals sieht man hinter den Wiesen größere Koppeln und noch laubfreie Regionen mit vereinzelten Baumgruppen davor, welche majestätisch gen Himmel ragen, andere stehen wieder ganz alleine auf weiter Flur. Ganz abseits ist ein Gehölz mit von Wald und Zeit zerborstenem Geäst wie ein Greis, dessen Zeit bereits abgelaufen ist. Am Himmel reichlich zarte Gebilde, weiße Wolken mit grauen Tupfern. Hier atmet die Märzsonne bereits die Kraft der kommenden Tage. Jetzt eine Gruppe von Bäumen und Pflanzen, die optisch einer ganzen Ortschaft ähneln. Die Landschaft in ihrer Abgeschiedenheit versetzt mich ein wenig in eine Märchenwelt, die man als räumliche Glückseligkeit auf sich einwirken lassen sollte.
In der Ortschaft Marquardt soll der Park auch noch durchwandert werden. In jenem Park steht ein heruntergekommenes Schloss; es handelt sich um einen ehemaligen Wohnbesitz von Kempinski. Die gesamte Anlage grenzt im Westen an den Schlänitzsee, durch welchen der Kanal fließt und weiter in Richtung Havel, die dann später wieder weiter durch Seen fließt. Trotz einer gewissen Ungepflegtheit des ganzen Geländes wandert es sich doch angenehm durch den Park. Man kann auch dem Charme des Gammligen etwas abgewinnen. Mir jedenfalls bekommt es anscheinend gut. In der Ferne hinter einer kleinen Brücke spaziert ein älterer Herr so ganz in sich versunken. Der Südwesten der Parkanlagen hat etwas Unheimliches, je nach Lichtverhältnissen müsste sich der Bereich gut für entsprechende Filmaufnahmen eignen, wahrscheinlich besonders interessant im Morgennebel.
Mir scheint, die Palette der Eindrücke machen den heutigen Tag zu einem kleinen Juwel. Hierher werde ich wiederkommen. Meiner Betrachtungsweise entnehme ich, dass ich mich bereits in einer guten Form von Selbsttherapie befinde. Inzwischen erreiche ich den Bahnhof zur Heimfahrt, denn drei Stunden Bewegung sind wohl auch genug.
Hier am Bahnhof und in der näheren sowie weiteren Umgebung befinden sich viele Obstplantagen, auch ein Gehege mit Rotwild – Rotwild, das nur zum Aufessen hier leben darf. Was das gefräßige Tier Mensch doch alles so benötigt. Sind das nun die Naturgesetze, die unabänderlich akzeptiert werden müssen? Wo bleibt der Einklang mit der Natur?
Ich glaube, in Zukunft werde ich wieder mehr Äpfel essen. Der Anblick dieser Tiere beeinflusst mein Verhalten maßgeblich.
Dieser Friedhof befindet sich im Südwesten von Berlin, in Stahnsdorf. Noch nie erblickten meine Augen einen so desolaten Ruheort für Tote. Und doch hat hier alles irgendwie seine Ordnung. Verträumte Winkel, übers Moos hinweg geharkte Wege, die an Ostern erinnern. Auf keinem anderen Friedhof Berlins kann man so bewusst die menschliche Vergänglichkeit wahrnehmen.
Es ist wieder mal ein wunderschöner, milder, sonniger Nachmittag im März. Für die Jahreszeit weht schon ein zarter Sommerwind wie Seide über die Gräber hinweg. Einige Grabstelen haben etwas von erhabener Architektur, andere wieder sehr bescheiden in ihrer Gestaltung. Etliche Grabsteine sind vollkommen zugewuchert, sodass die Namen kaum noch lesbar sind, andere noch gut zu erkennen trotz der Jahre, zum Beipsiel:
»Martha Klischke, Apothekenbesitzerin«. Ob das »Apothekenbesitzerin« wohl als Statussymbol beansprucht werden sollte? Dann »Manfred Koletzy«, diese Grabstele strahlt eine ewige Verlorenheit aus. Dann stand ich vor einem großen Findling: »Luvis Corint – geb. in Tabian, gest. in Zandvoort, alle Nachkommen in USA verstorben«. Jetzt eine Einfriedung mit Mauern. Auf diesem kleinen Privatfriedhof sind sofort die Namen »Siemens« sichtbar. Und nicht einmal im Tod sind alle gleich. Dann schon aus der Ferne der Name »W. F. Murnau«, hier auch alles in sehr gepflegtem Zustand. Irgendwelche Kunstfreunde kümmern sich noch nach Jahrzehnten um alles. Und ganz im Abseits die Namen wieder von Pflanzen überwuchert. Der Rest ist hier nur noch Schweigen.
Auf dem Weg in Richtung Mitte des Friedhofs einige sehr mächtig erscheinende Grabstelen, »Mausoleum Duisberg«, dort eine trauende Maria aus Bronze, dann eine Davidskulptur aus Marmor. Hinter jedem Stein eine Lebensgeschichte. Etliche wollten Gott besonders Wohlgefallen, andere waren große Sünder mit bösem Charakter. Jeder hatte seine ganz besondere eigene Geschichte. Und doch sind jetzt alle gleich. Auch gibt es hier einen englischen und einen italienischen Soldatenfriedhof, seit 1920. Soldaten, die in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorben sind.
Und weiter wandernd über einen fast endlos wirkenden Totenplaneten. Es ist weder Wald, Park oder Friedhof, es ist die menschliche Vergänglichkeit, die hier optisch aussagt. Es ist nur erstaunlich, dass ich ausgerechnet hier die unendlich reichen Empfindungen eines Moments wahrnehme. Einen Moment so intensiv zu atmen, in ihm gedanklich zu verschmelzen, wie von einem unbekannten Geist übertragen.
Und doch bin ich hier heute anscheinend nicht alleine auf diesem Totenplaneten. 50 Meter weiter ein junges Mädchen in frühsommerlichem Gewand, für die Jahreszeit zu leicht bekleidet. Ausgerüstet mit einer scheinbar teuren Kamera, durchstreift diese Person die besonders fotogen wirkenden Bereiche. Auf der Suche nach reichen und sehr interessanten Motiven hier kein Problem, sondern eine reiche künstlerische Ausbeute garantiert möglich.
Hier kann aber auch jedem bewusst werden, dass die Zeit der größte Schatz ist, sie wird um so wertvoller, je klarer man um ihre Grenzen im Bilde ist. Und das Nichts bleibt etwas Unfassbares. So jedenfalls sehe ich es. Vielleicht entsteht hier die Situation, wo alles philosophische Nachsinnen einsetzt. Diesen Ort werde ich noch oft aufsuchen.
Heute, am 21. April, Ostersonntag, in Kloster auf Hiddensee. Zum wiederholten Mal befinde ich mich auf einsamen Pfaden fern des hässlichen Tagestourismus. Einige hundert Meter seitlich vor dem Leuchtturm hinter satten Kiefern, die mich ein wenig an die Kanarische Insel La Palma erinnern, sitze ich sonnenbadend auf einer Anhöhe mit Blick auf die Boddenlandschaft. Die sanften Hügel werden von einem Sandweg durchschlängelt. Dort unten im Tal ein nicht mehr ganz junges Paar in sich dahinträumend des Weges. Vor mir satte, üppige Kiefern und einige auch schon windzerborsten – sehr fotogen. Hinter mir im Wald rauschen und wiegen sich die Baumkronen. Von Grieben am Bodden schallt das Galoppieren einer Kutsche bis hier nach oben. Auf diesem Hügel ist bereits nach Stunden noch niemand an mir vorbeigekommen. An diesem Fleckchen Erde ist die einst gepriesene Unberührtheit noch wahrnehmbar. Und deshalb werde ich keine weitere Reklame dafür tätigen.
Und abermals kann ich feststellen, dass der Moment, der Augenblick der Wahrnehmung der eigentliche Reichtum im Leben ist. Von solchen Minuten wird man lange zehren. Schaut man von diesem Punkt der Insel nach Norden, bekommt man wegen der dort des Öfteren weidenden Rinder und Schafe einen Hauch von Argentinien. Nach Nordwesten schaut man auf den sogenannten Bakenberg und Swantberg, die mit Sicherheit in zehn bis fünfzehn Jahren vom Meer verschlungen sein werden. Niemand stoppt diesen Lauf. Später klagt man dann über das verlorene Schöne und gedanklich trägt man die Erinnerungen ins Nichts hinüber, wie Goethe sagt. Also genießen wir die Gegenwart und nach uns die Sintflut.
Als nach siebzehn Uhr all die lärmenden und laut keifenden Tagestouristen vorwiegend die Insel wieder verlassen hatten, bin ich dann in aller Ruhe den Hochuferweg nach Kloster zurückgewandert. Ins Meer versinkend zersplitterte sich die Sonne zwischen grauvioletten Wolken. So ganz anders als auf den üblichen Postkarten. Hier hat die Küste mit ihrem Steilufer schon ein wenig Mittelmeercharakter, weshalb man die Insel wohl auch das Capri Pommerns nennt.
Unten, etwas hinter der Mole, campieren einige Aussteiger oder die sich dafür halten. Sieben bis neun Personen in Schlafsäcken. Eine noch recht junge Frau hängt Wäscheteile zum Trocknen an die Mole, zwei Kinder tummeln sich im Sand und eine männliche Person sammelt angeschwemmte Holzstücke sowie herumliegende Zweige. Zur Nacht wird man dann wohl ein Lagerfeuer anzünden. Auch das ist eine Romantik, die mir nicht ganz unbekannt sein dürfte.
Nun bin ich auf der Huke angekommen, so nennt sich dieser Aussichtspunkt. Vor 80 Jahren haben an dieser Stelle Albert Einstein, Sigmund Freud, Thomas Mann und Gerhard Hauptmann des Öfteren gesessen und über Gott und die Welt diskutiert. Lang, lang ist’s her, wer nimmt heut noch Notiz davon. Inzwischen ist der gesamte Horizont grauviolett, in der Ferne ein ganz zarter Dunst über dem Wasser. Die sich ständig verwandelnde Landschaft mit ihrer frischen Luft verführt mich zum längeren Verbleiben an diesem Ort, um diese Zeit. Alle dunklen Gedanken sind wie verflogen. Hier braucht man keinen Gott anzurufen, er ist allgegenwärtig, wenn man denn an ihn glauben will.
Nach 20 Minuten befand ich mich in meinem Heim. Es war wieder ein wunderschöner Tag. Frohe Ostern.
Heute, am 3. Dezember, bin ich nachmittags zum Rangsdorfer See gefahren. Ein relativ milder Tag für erholsame Spaziergänge. Aus der Richtung vom Bahnhof bin ich am See angekommen. Vor dem See dann gleich rechts in den Wald und von dort auf dem sogenannten Naturpfad in Richtung Autobahn gegangen. Da jetzt alle Bäume ohne Laub sind, kann man die Astformationen so gut erkennen. Es handelt sich teils um stämmige Eichen, die zu dieser Jahreszeit den wahren Reichtum ihrer malerischen Verästelung zur Schau stellen.
Es wäre wohl eine absolute Ruhe, wenn auch hier das Rauschen der noch fernen Autobahn nicht langsam immer intensiver werden würde, je mehr ich mich der Autobahnunterführung nähere. Heute jedoch stört mich das donnernde Geräusch nicht, obgleich ich mich ja in der Regel schnell von Autos und ihren Geräuschen entferne. Scheinbar beruhigt mich der Weg durch den Wald so sehr. Ja, das Rauschen wird jetzt sogar als ein musikalisches Kribbeln empfunden, es steigert sich zu einer Autobahnsymphonie. Unwillkürlich denke ich an »Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn«. Vor Jahrzehnten gab es doch mal die Düsseldorfer Band »Kraftwerk« mit dem entsprechenden Hit. Deren damalige Inspiration kann ich jetzt gut nachempfinden.
Nach 20 Minuten Wandermarsch hat der See jetzt Flusscharakter angenommen. Der Wanderweg liegt etwas erhöht zum Wasser. Die Frühabendsonne spiegelt sich nun mit zerrissenen Linien auf dem Wasser. Kurz vor der Autobahnbrücke mündet der See nun in einen Wasserlauf ähnlich eines Baches. Die Autobahnbrücke nimmt man nur kurz wahr, weil links und rechts von ihr gleich wieder Wald ist.
Alle Fahrzeuge rasen rasant aus dem Wald über die Brücke und verschwinden auch wieder sofort im Wald. Das alles wirkt wie auftauchende Werbespots auf einer riesigen Leinwand. Geradezu spektakulär. Bilder tauchen auf, mal in blauweißer Schrift: »ALDI«, »Dirk Sadowsky«, »Albert Bad Kissingen«. Von links nach rechts kann man diese Werbespots aus allen Himmelsrichtungen Europas lesen. Durch das Fahrtempo wirken viele Schriftzüge wie surrealistische Bilder. Auf mich wirkt das alles faszinierend.
Wenn man nun vor der Autobahnunterführung über einen schmalen Steg auf die andere Seeseite geht, so verlieren sich alle Geräusche wieder ganz schnell. Leider gelangt man jetzt nicht mehr ans Wasser, weil alles üppig zugewuchert ist. Weit und breit keine Menschenseele, die Oase für mich. Im fernen Hintergrund südlich des Sees befindet sich der sogenannte Weinberg mit einer Sandgrube davor. Der Wald, das Wasser und die wieder reine Luft können den Moment der Eingebung nähren und die Kraft der natürlichen Gaben zum Reifen bringen. Hier in der Abgeschiedenheit und fern allen tobenden Lärms kann man wieder lernen, der eigenen Lebenskraft innezuwerden. Das Tor zur inneren Harmonie zu sich selbst? Ja, in diesem Moment empfinde ich es so, und eine bessere Therapie kann wohl auch kein Arzt verordnen. Der heutige Landausflug ist so ein ganz besonderer Gewinn.
Hiermit entschließe ich mich, eine Bahnstation zurückzuwandern, dann beginnt die Heimfahrt ab Dahlewitz in Richtung Berlin.
Es trieben 20 purpurrote Schafe durch einen sehr schmalen Flur. Es war ein endlos langer Flur mit vielen Türen links und rechts. Ein leises Lautenspiel glaubte ich zu hören. Aber warum denn rannten alle Schafe so fluchtartig und äußerst hektisch diesen Gang entlang, zumal eine so labsalbe Musik zu hören war? Könnte man sich doch zu einem Kreis gruppieren und vor gar nichts Furcht haben. Ob hier der Teufel im Gang war?
Nun aber war mir klar, warum diese Tiere alle so panisch rannten, denn ein hungriger Wolf aus der Nacht verfolgte sie. Dieser Wolf wurde immer größer und größer, bis er den ganzen Flur verschlungen hatte. Statt der Lautenmusik jetzt eine raue Stimme: »Ihr seid überrascht, mich zu hören und zu sehen, nun wenigstens habe ich euch noch erreicht und bin schon gesättigt für alle Tage; aber alle, die an mich glauben, sollen in Frieden leben.«
Jetzt konnte ich zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Wo war hier der Grenzbereich? Mir erschienen wunderschöne Bilder. Durch eine weite Wüste flossen kleine und große Flüsse. Der Wolf und die Schafe weideten miteinander und alle Tiere waren auch wieder mit weißen Fellen bekleidet. Der Wolf sprach nun mit sanfter Stimme: »Kommt, kommt, lasst uns gemeinsam singen und musizieren, nimmer sollt ihr mich fürchten, denn ich bin euer wahrer Freund. Streicht über mein zartes Fell, wenn ich euch denn gefallen sollte.« Und weiter sprach er: »Trägt nicht jeder seine Welt in sich, so ihr euch doch ein falsches Bild von mir gemacht habt.« Seine Augen funkelten und weiter sprach er: »Man wird mir entgegensetzen wollen, ich sei vielleicht ein Wolf im Schafspelz, aber wahrlich ich sage euch, gemeinsam müssen wir uns ein Paradies bauen, in welchem wir jeden Morgen neu erwachen, und jedes neue Erwachen wird eine neue Auferstehung sein.« Alle applaudierten und spendeten dem Wolf viel Beifall. »Kommen werde ich, wann immer ihr es wollt«, so der Wolf, den inzwischen nun alle lieb gewonnen hatten.
Anscheinend war mein Wachtraum jetzt beendet. Ein Recken und Strecken bewegte meinen gesamten Körper, das Kopfkissen wurde zart umklammert und gestreichelt. Alles in mir wehrte sich gegen ein richtiges Erwachen, obgleich die Wirklichkeit noch gar nicht bewusst wahrgenommen wurde. Aus einem einst bösen Fabelwesen wurde nun so etwas wie ein Wunschtraum, dessen Erfüllung hier vollendet wurde. Auch dieser Traum soll seinen Platz im Tagebuch erhalten. Zu einem späteren Zeitpunkt liest man es vielleicht gerne und die Fantasie wird noch nachträglich angeregt.
Diese und ähnliche Träume schienen mir wie eine lebensnotwendige Befreiung. In ihren Wirkungen fast mit den Wandertagen gleichzusetzen. Kann man sich aus den Ketten der Zwänge befreien und wieder ganz bei seinem Innersten ankommen? Bestimmt hat so jeder Mensch seinen Quellengrund. Bei mir jedenfalls war es vielleicht schon ein Durchbruch zu einer neuen Erfahrung, die dem zukünftigen Leben wieder einen tiefen Sinn verleihen sollte. Zu einem späteren Zeitpunkt würde ich doch gerne einen Psychologen fragen, was es denn eigentlich mit meinem Wolfstraum auf sich hat.
Geschehen Bahnhof Charlottenburg. Montag 26. Mai 2003. Am hinteren Treppenaufgang erschien eine etwas ältere Dame mit einem südländisch aussehenden Mann mittleren Alters auf dem Bahnsteig. Der Herr stellte das Gepäck an die Bahnsteigkante und wünschte der erschöpft wirkenden Dame eine gute Weiterfahrt. Unmittelbar danach wurde ich angesprochen und gefragt, ob denn hier der Zug in Richtung Zoo fahre, man wolle nämlich nach Köln und sei vorhin in den falschen Zug gestiegen.
Nun lief der Zug in Richtung Zoo ein. Meinerseits wurde eine kleine Hilfe angeboten, um beim nächsten Umsteigen nicht wieder in Kalamitäten zu kommen, denn immerhin mussten die Koffer treppab und treppauf geschleppt werden. Mein Angebot wurde angenommen, wenn ich denn so freundlich sein wolle. Schnaufend saßen wir beide auf der kurzen Fahrt bis zum nächsten Ziel. Während dieser Minuten erfuhr ich von einer leichten Gehbehinderung, es müsse auch noch unbedingt nach Köln zu einer Freundin telefoniert werden, dass man einen Zug später ankommen werde. All dieses wurde nun im Bahnhof Zoo mit Hilfe der dortigen Bahnhofsinformation erledigt.
Inzwischen befanden wir uns auf dem richtigen Bahnsteig, erst hier stellten wir uns gegenseitig vor: »Mein Name ist Falkenberg und ich wohne seit Jahrzehnten in New York City.« »Angenehm, mein Name ist schlicht und einfach Brändi und ich wohne hier in Berlin.« Frau Falkenberg wurde langsam ruhiger, dafür auch mitteilsamer. In den noch verbliebenen fünfzehn Minuten erfuhr ich, dass ihr verstorbener Mann Berliner war. Meine Spontanreaktion: »Ach, Sie sind also vor geraumer Zeit emigriert?« Zu meinem Erstaunen dann diese Reaktion: »Ich bin keine Jüdin.« Für einige Sekunden war ich etwas irritiert, wollte aber diesbezüglich nicht weiter nachfragen.