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Die vorliegende Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliothek registriert.

Die bibliographischen Details sind auf der nachfolgenden Webseite veröffentlicht www.dnb.de

Titel: Morbide Faszination

Titel der Originalausgabe / Spanisch: Mórbida fascinación

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

Auflage, 2016

© Frederic Luján, 2016

www.fredericlujan.com

Übersetzung: Hannes Köhler

Lektorat: Paula Fernández Gómez

Foto des Autors: © Frederic Luján, Deutschland

Coverfoto: Neufra, Internet http://piqs.de/fotos/55353.html

ISBN 978-3-7431-2229-1

Biographie

Frederic Luján wurde 1957 in Gießen geboren. Er ist zweifelsohne eine der originellsten Stimmen der neuen spanischsprachigen Literatur. Er lebte lange Zeit in Peru. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und arbeitete als Berater, Seminarleiter und Universitätsdozent in dieser Disziplin. Er hat für peruanische Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Luján, der heute in Dresden lebt, sagt, dass das Schreiben ein Segen ist, der den Geist stärkt. Seine außerordentlichen narrativen Fähigkeiten bewies er mit seinem 2003 veröffentlichten Debütroman ¿Por qué a mí?, der als Meine Opfer in Deutschland erschien, sowie nachfolgend mit El expresionista, La dulce espera und jetzt mit Morbide Faszination (spanischer Originaltitel: Mórbida fascinación), seinem zweiten großen Roman, in dem uns der Autor vom ersten Moment an mit seiner großartigen Erzählkraft und ihrem außergewöhnlichen Wechselspiel zwischen Tragik und Komik packt. Darüber hinaus veröffentlicht Luján weitere Artikel auf seinem literarischen Blog Flujanz.

Der vorliegende Roman ist ein Werk der Fiktion. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Frederic Luján

... Der schlimmste Feind des Menschen sind nicht Mikroben oder Krankheiten, es ist der Mensch selbst, sein Stolz, seine Gier, Anmaßung, Eitelkeit, Arroganz, seine Vorurteile und Dummheit. Dagegen, ja, dagegen ist bis heute keine soziale Klasse geimpft worden und kein System bietet Heilung ...

HENRY MILLER, Der Koloß von Maroussi

Inhaltsverzeichnis

Der Arztbesuch

Im Grunde ahnte Tilo Medina, dass es etwas in seinem Innern gab, das wuchs, wie besessen wuchs, und ihn dazu antrieb etwas zu tun, obwohl er nicht wusste was oder wie.

„Also, Herr Medina, wissen sie was?“, sagte der Arzt besorgt und bewegte seinen Kopf mit der weißen, dichten Mähne; er kratzte sich an der Stirn und fügte hinzu: „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich Ihnen sagen soll, aber ich glaube dieses Mal brüten sie etwas Ernsthaftes aus.“

Tilo hatte schon immer eine schwache Konstitution gehabt: Eine Anfälligkeit für Grippe, Bronchitis, Sinusitis, Migräne und in letzter Zeit diese beinahe chronische Müdigkeit mit einem Schwächegefühl in den Muskeln und Gliedermaßen. Dieses Mal schien auch sein Arzt besorgt zu sein, da er fürchtete, dass in seinem Patienten eine seltene Krankheit am Werk war, zu deren Behandlung ihm, als Allgemeinmediziner mit einer Spezialisierung als Chiropraktiker und einer Fortbildung in Akkupunktur in Nanjing-China, die nötigen Kenntnisse fehlten. Während er sich mit Tilo unterhielt, richtete er sich das Haarbüschel, das immer in seiner Stirn hing. Er nahm alles auf, was Tilo ihm sagte, und beobachtete gleichzeitig die Reaktionen und das Verhalten seines Patienten.

„Ausbrüten? Haben Sie ausbrüten gesagt?“, fragte Tilo. „Aber ich bin doch kein Huhn, Herr Doktor. Was meinen Sie?“

Tilo lachte, ganz der vergnügte Spaßvogel, der nicht mit dem Schlimmsten rechnen wollte.

Tilo hasste diese gezwungenen Besuche bei Hunderten von Doktoren, die ihm seine Frau Laura – in ihrer Übervorsicht in Fragen der Gesundheit und Präventivmedizin, Naturheilkunde, Homöopathie, Diätkost und solcher Sachen – stets aufnötigte. Obwohl er sie abgöttisch liebte und immer versuchte sie zufriedenzustellen – nach mehr als 20 Jahren Ehe – dachte er: Ach du, meine Geliebte, warum nur! ... Du hättest mich lieber in Ruhe Kafkas ‘Verwandlung’ lesen lassen sollen, und vielleicht hätte ich mich auch in einen Käfer verwandelt.

Die Literatur faszinierte Tilo, er nannte sie eine gute Art, sich in die Seele zu schauen. Er bedauerte es immer, dass er nicht die Karriere eines Schriftstellers gewählt hatte, obwohl er nie den Mut gehabt hatte etwas zu schreiben. Es war bereits mehr als drei Jahre her, seit er als Unternehmensberater das Handtuch geworfen hatte. Finanziell ging es ihm nicht schlecht, da er als einziger Sohn von seinem Vater – Don Isózimo Medina Ramírez, einem bekannten peruanischen Immobilienmakler – ein Vermögen geerbt hatte, das ihm und seiner Frau Laura für den Rest ihres Lebens eines gutes Auskommen erlaubte.

Tilo war eine dieser optimistischen, vergnügten, gutmütigen Personen, die es bevorzugten das Glas immer halbvoll zu sehen; und in letzter Zeit hatte er festgestellt, dass er stark war und ein dickes Fell hatte, wenn es um Schmerzen ging. In seinen Augen waren die Krankheiten etwas, das man mit dem Kopf bekämpfte. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau, der es gefiel ständig von ihren Leiden zu sprechen und übertrieben auf sich achtzugeben; „pass auf, was du isst!“, pflegte sie zu sagen, „schau mal, jetzt muss ich zum Ayurveda und dann zum Wellness“; Functional Food, Anti-Aging-Medizin, Chi Kung, Feng Shui, Tai Chi, Reiki und all diese Behandlungen mit sonderbaren orientalischen Namen, die von einigen genutzt und von anderen kommerzialisiert wurden, waren für Laura wundervolle Hilfsmittel. Ständig sagte sie Tilo, dass er dieses oder jenes nehmen solle, denk daran, dass ich heute einen Termin beim Augenarzt habe, warum wächst mir da dieser Pickel; hier zum Zahnarzt, dort zur Massage und solche Sachen.

Und obwohl er sich bei diesen Fragen gerne taub stellte, hatte Tilo seit einiger Zeit auch den Verdacht, dass etwas in seinem Körper nicht gut funktionierte. Seine Gliedmaßen, vor allem die Beine, reagierten nicht mehr wie früher: er bewegte seine immer schwerfälliger werdenden Füße wie ein Galeerensklave, war immer müde, erschöpft, so als ob er einen kiloschweren Klotz zöge, der an seinen Füßen befestigt war.

Er war nervös. So sehr er sich auch dazu zwang die negativen Gedanken zu vermeiden, in seinen Kopf wuchs ein Gestrüpp aus Vermutungen, dass ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.

„Aber Doktor Rossmann! Meinen sie nicht vielleicht, dass es sich eher um eine verschleppte Grippe handelt? ... Wissen sie, nämlich, eine von denen, die in diesen harten Wintern immer in einem köcheln. Erinnern sie sich, dass ich jetzt bereits seit zehn Tagen dieses Antibiotikum nehme, mir fehlen nur fünf, dann war’s das, dann ist es endlich vorbei.“ Er zeigte ihm die blau-grüne Verpackung des Medikaments und legte sie auf den Schreibtisch. „Dieses Schwächegefühl und die Schmerzen, die ich jetzt im Rücken und in den Beinen habe, verschwinden bestimmt nächste Woche, wenn ich mit der Behandlung durch bin, oder? Was sagen Sie, Herr Doktor?“

Tilo munterte sich selber auf. Aufgrund seines stets positiven Wesens, fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass es etwas Ernstes sein könnte. Er wollte der Krankheit keinen Vorteil gewähren, weil sie wie ein Feind ohne Vorwarnung gekommen war, plötzlich, mit starken, stechenden Schmerzen in seinem gesamten Körper, so als ob man ihn mit Tausend vergifteten Pfeilen beschoss, die seine Haut durchdrangen und seine Muskeln mit ihrer Ladung füllten.

Der Arzt sagte nichts, ganz der gute Mediziner, er beobachtete lediglich das Mienenspiel in Tilos ausgezehrtem Gesicht und sagte sich: „Verdammt! ... Armer Kerl. War doch mal ganz füllig und rosig.“

Jetzt war Tilo dürr und hatte blaue Augenringe, die seine Augen so sauber umrandeten, dass sie tätowiert wirkten. Sogar die Haut eines Leguans sah gesünder aus als Tilos, sie war ganz porös, rau und verfärbt, so als ob er Gelbsucht hätte. Und seine Augen standen ihm aus dem Schädel hervor.

„Außerdem, Herr Doktor, glaube ich, dass mir so etwas vorher schon einmal passiert ist. Ich hatte ein Breitbandantibiotikum genommen, an dessen Namen ich mich jetzt unglücklicherweise nicht mehr erinnere, und das ist alles: ich werde wieder frisch sein, wie die Morgenröte. Erinnern Sie sich, Herr Doktor Rossmann? Denken Sie bitte nach! Wie hieß dieses Medikament?“

Tilo überspielte sein Unwohlsein wie immer mit einem Lächeln. Aber das Gestrüpp aus negativen Vermutungen ließ ihn nicht los: Scheiße! ... was soll das, mir zu sagen, dass ich was ausbrüte? Verdammt! Ich bin doch kein Huhn, das Eier legt. Wenn er will, nehme ich jetzt weiter diese blau-grünen Pillen und alles was er möchte, und womöglich verwandle ich mich tatsächlich in ein Leghorn und lege sogar goldene Eier ...

Ein kurzes Lachen brach aus ihm hervor.

So war er: Er nahm sich selbst nicht ernst. Er schaute sich die Verpackung des Medikaments an, so als sähe er sie zum ersten Mal. Und der Arzt schaute ihn an, so als wolle er sagen: und was ist jetzt mit ihm los?

Es war diese spezielle Art das Leben zu sehen und sich zu verhalten, seine Unbekümmertheit, die ihn stets zu solchen Reaktionen trieb. Vielleicht entschied er sich aus deshalb dazu die hypochondrische Ader seiner Frau Laura zu ignorieren, besonders wenn sie ihm zum Beispiel sagte er solle zum Institut für Tropenmedizin in Dresden gehen, um sich genauer durchchecken zu lassen, er werde am Ende noch einen dieser sonderbaren Viren haben, oder Bakterien, Bazillen, Keime, Mikroben, die sich bei ihm eingekapselt hätten; oder er solle nach Berlin, solle es ausnutzen, dass sie dort auch Unterwassermassagen anböten; und er solle in acht nehmen vor Stomatitis, Kolitis, Sinusitis, Bronchitis, Konjunktivitis ... Genug, genug, Laura, bitte!, als nächstes behauptest du, dass ich eine Metastase (oder Metastasitis?) habe, und schleppst mich zum Institut für Nuklearmedizin, dachte er ironischer weise und schaute den Arzt an, ohne allerdings etwas zu sagen.

Um Tilo besser zu verstehen, muss man wissen, dass es ihm eine mentale Befreiung bedeutete, seine Gedanken mit den Büchern zu verbinden, die er las.

Mal sehen, ob du mich wie den eingebildeten Aristokratenjüngling Julius von Alfredo Bryce Echenique behandelst ... ha ha ... und er begann sich von Manongo inspirieren zu lassen, einer anderen Figur desselben Autors.

Die Realität war, dass er dort in der Praxis seines Arztes saß, weil er seit circa fünf Monaten Schwierigkeiten damit hatte, die Bewegungen seiner Füße, Arme und Hände gut zu koordinieren. Morgens, beim Aufstehen, erwachte er mit gebrechlichem Körper, insbesondere tauben Beinen und Rücken.

Zweifelsohne zog er es vor, starrköpfig wie er war, zu denken, dass sich um banale und unwichtige Dinge handelte, die vermutlich etwas damit zu tun hatten, dass er in einer Woche fünfzig Jahre alt wurde. Natürlich, Mensch, das muss es sein, ich werde einfach ein bisschen pummelig, das ist alles. Mein Geburtstag, wie schön, den werde ich ordentlich feiern! dachte er freudig, im selben Augenblick in dem er seinen Blick durch das Sprechzimmer schweifen ließ, wie ein Verurteilter, der das erste Mal seine Zelle betritt. Was er wirklich schrecklich fand, war dieser Geruch nach medizinischem Alkohol, gemischt mit weißgottwelchen Mikroben, Bakterien oder mikroskopischem Ungeziefer, die die anderen Patienten sicher an diesem Ort verteilt hatten.

Als er sah, wie der Doktor konzentriert in seiner medizinischen Historie las, ganz so als sei es einer dieser Romane, die dich daran zweifeln lassen, ob der Held der Geschichte überlebt oder nicht, versuchte er ihn abzulenken, um zu schauen, ob er nicht plötzlich seine Meinung änderte:

„Doktor Rossmann, Sie, der Sie in China gewesen sind, um zu lernen, wie man Patienten mit Näh- und Stecknadeln piekst und all dieses Zeug, denken sie nicht, wir sollten lieber auf Mutter Natur vertrauen? Manchmal lösen sich die Sachen ganz von alleine, auf ihre eigene Weise. Oder? ... Was sagen Sie? Glauben Sie mir Doktor, Sie werden sehen, dass ich mich bald wieder bewege wie ein Wurm, der nach einem stürmischen Regentag sein Versteck verlässt ... hehehe“, und wie immer war die Hälfte aller Wörter im Scherz gesagt.

Der Doktor, ein umsichtiger Mann der alten Schule, der nicht das geringste Anzeichen machte, dass er die Anspielung verstanden hatte, hob seinen Kopf und auch ein klein wenig seine Mundwinkel, so als wolle er sagen, dass er ihm hier nicht den Spaßvogel machen solle, und er sagte:

„Sehr komisch, sehr komisch, aber Fakt ist Fakt!“ Er liebte es diesen Halbsatz zu wiederholen. „Und würden Sie mich jetzt ihre Patientenakte zu Ende lesen lassen?“ Er vertiefte sich wieder in die Papiere. Er wickelte mit dem Zeigefinger die Locke auf, die immer über seiner Stirn hing, so als wolle er einen Knoten lösen.

„Herrje, entschuldigen Sie, Herr Doktor, es war ja nur ein Vorschlag, lesen Sie weiter ...“

Tilo wusste jetzt nicht mehr, wohin er schauen sollte, was tun, wie sich verhalten. Er schaute auf das Fensterbrett hinter dem Arzt, schaute sich die Bibliothek an, die voll von Büchern mit sonderbaren Namen war, er schaute und schaute. Plötzlich spürte er, wie sein Körper begann zu erstarren, genau wie eine Tüte voller Wasser, wenn man sie in einen Gefrierschrank steckt. Es war dieser neue Feind, der sich wieder einmal mit tödlichen Symptomen ankündigte. Tilo konnte nicht lange ruhig in einer Position verhalten, er fühlte sich gefangen in seiner eigenen Muskelmasse, die hart war wie der Panzer einer Schildkröte. Es linderte jedes Mal die Leiden, oder bessergesagt die Erstarrung, wenn er seine Haltung veränderte.

Obwohl der Doktor bemerkte, dass er unbequem und ungeduldig war, zog er es vor mit seinen Erläuterungen fortzufahren:

„Also, schauen Sie, das einzige, was ich vorgebe, ist ihnen die eindeutigen Dinge zu sagen, mit einer Basis, Fakt ist Fakt, Herr Meduna, Entschuldigung ... Medona? Modina?“ Er hatte die schlechte Angewohnheit die Namen seiner Patienten schnell zu vergessen, und wenn das passierte, schaute er ins Leere und spielte stets mit seiner Locke.

M-e-d-i-n-a, Herr Doktor, M-e-d-i-n-a“, korrigierte ihn Tilo, indem er ihm den Namen buchstabierte; außerdem schrieb er es in großen Druckbuchstaben auf einen Zettel und legte ihn auf den Tisch. Immer wenn Tilo das weiße Haarbüschel betrachtete, das über der Stirn des Doktors hing, als habe es ein Eigenleben, versetzte ihn seine blühende Phantasie vor eine Medusa mit tausenden weißen Schlangen, die über dem Kopf wimmelten.

„Sie haben Recht“, antwortete der Doktor, „ich bitte Sie um Verzeihung, das muss daran liegen, dass ich ins Rentenalter komme ...“ Er schnappte sich den Zettel und wiederholte den richtigen Namen zwei Mal bedächtig: „M-e-d-i-n-a, M-e-d-i-n-a ... so spricht man das aus, oder?“

„Perfekt, Herr Doktor, sehr gut!“, bestätigte Tilo, so als handle es sich um einen Schüler. „Denken Sie immer an die offenen Vokale e-i-a, und Sie werden sehen, dass Sie ihn nie wieder vergessen.“ Jetzt betrachtete Tilo das große, verchromte Stethoskop, das vor der Brust des Mediziners hing, und er dachte an Weißgottnichtwas.

„Gut, gut ... jetzt ist es gut. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass was sie haben, kein Spiel ist. Wenn jetzt nichts passiert, dann furchte ich, dass Sie nicht wieder frisch sein werden, wie die Morgenröte, wie Sie das ausdrückten, sondern sich auch sicher nicht wieder wie ein Wurm bewegen können. Wissen Sie, jetzt, wo ich Ihre Krankengeschichte studiere, denke ich, dass sich Ihre Situation schnell verschlechtern könnte, wenn wir nicht umgehend handeln. Außerdem beunruhigt mich diese Erstarrung mit einer Verminderung der Sensibilität, die Sie oft in den Beinen und Armen verspüren. Natürlich kann das an vielen anderen Faktoren liegen, wie zum Beispiel an der degenerativen Arthrose, die sich in Ihrer Wirbelsäule zeigt, im Speziellen im Nackenbereich, und die einige ihrer peripheren Nervenbahnen in Mitleidenschaft ziehen könnte; oder es könnte auch auf eine nicht genauer definierte rheumatische Arthritis oder eine Reaktion auf eine Immunanomalie oder eine Immunerkrankung zurückzufuhren sein. Jedenfalls ... ich hoffe, dass Sie mich jetzt verstehen, oder? Ihre Anamnese ist kompliziert und alles andere als einfach.“

Tilo hatte diesen medizinischen Ausdruck vorher bereits gehört, was ihm jetzt aber sonderbar erschien, da seines Wissens nur Menschen ab achtzig aufwärts daran litten.

„Wie bitte? Wollen Sie andeuten, dass ich auch noch meine Erinnerung verliere?“

„Aber nein, was für Ideen Sie haben, Herr Medina ... HO-HO-HO“, als Reaktion auf Tilos lustige Antwort, stieß der Doktor ein Gelächter aus wie der Weihnachtsmann. „Also wirklich, Sie sind einfallsreich. Ich meine nicht Amnesie, sondern Anamnese, das sind zwei verschiedene Sachen. Anamnese bezeichnet das Zusammenbringen aller persönlichen, erblichen und familiären Informationen eines Patienten im Rahmen einer Untersuchung. Das ist alles. Verstehen Sie mich jetzt, Herr Medino? Verzeihung! Ich meine Medina!“

„Ach gut, zum Glück. Ich hatte schon befürchtet, dass ich jetzt auch noch krank im Kopf bin, Herr Doktor“, antwortete Tilo erleichtert.

„HO-HO-HO ... Sehr witzig, sehr witzig!“ Der Doktor dröhnte weiter wie der Weihnachtsmann. „Ich rate Ihnen jedenfalls dazu, sich ruhig auch ein wenig mehr im neurologischen Feld untersuchen zu lassen; Sie wissen schon: die spezialisierte Medizin mit Tomographie- und Magnetresonanz-Analyse, Überprüfungen der Nervenleitgeschwindigkeit, Elektromyographie und all diese Techniken, mit denen einige meine Kollegen arbeiten. Und denken Sie auch daran, dass es Ihnen nicht schaden würde sich von einem Internisten untersuchen zu lassen. Die letzten Hämoglobin-Analysen sind katastrophal: Ihre weißen Blutkörperchen gönnen sich auf Kosten der roten gerade ein Festmahl, und ich würde vermuten, dass sich das, selbst wenn wir Ihre komplizierte Anamnese außen vor lassen, zu einer bösartigen galoppierenden Anämie entwickeln könnte. Hören Sie! Wenn Sie so weitermachen, versichere ich Ihnen, dass Sie in drei Monaten nicht mehr aus dem Bett hochkommen. Außerdem sollten wir auch die Leukozyten, Proteine und die Eisenwerte untersuchen, die ganz schön erhöht sind, und den Blutzucker; ich sage Ihnen: den hatten Sie noch nie so niedrig wie jetzt.“

Tilo brach der kalte Schweiß aus. Er fühlte sich schlimmer als am Anfang. Je weiter die Unterhaltung voranschritt, desto überzeugter war er davon, dass er den Teufel in sich trug, und dass er ihm langsam den Organismus zerfraß, so wie ein Holzwurm das Holz. Und er dachte an seine Füße, die immer schwerer wurden, schläfrig, so als würden sie langsam sterben; oder schlimmer: als würden sie sich ablösen, mit dem Knochen und allem. Er grub seine Finger mit aller Kraft in seine Oberschenkel, um sich zumindest für einen Augenblick von diesem unangenehmen Gefühl abzulenken.

Nein, bitte! Du! Schon wieder! Lass mich in Ruhe! Warum, warum?, und er behandelte die Krankheit, als ob sie eine Person wäre.

Kurz danach begann ihn eine stechende, starke elektrische Strömung zu durchfluten, die in der Taille begann und hart in seinen Füßen auslief. Er verbarg seine Beschwerden, und ohne, dass der Doktor es merkte, rieb und massierte er pausenlos seine Oberschenkel. Nichts nervte ihn mehr, als wenn man Mitleid mit ihm hatte.

Der Doktor, konzentriert auf seine Berichte und das aufnehmend, was er ihm vorher gesagt hatte, fuhr fort:

„Ah ja ... hier ist es, ich hab es gefunden, das waren die Daten, die mir gefehlt haben: Das Medikament heißt Doxycyclin. Es ist sehr gut.“ Er überflog sein Vademekum: ein Buch, das mehr wie ein riesiger Backstein aussah. „Sie haben Recht, Sie hatten einmal ganz ähnliche Symptome, nur dass Sie damals Probleme mit den Bronchien hatten, auch wenn Sie ebenfalls etwas am Rachen hatten, was sich dann verkomplizierte und zu Aphten im Mund führte.“

So analytisch wie er war, ließ er einen Augenblick seine Notizen sinken und indem er ihn mit einem Blick anschaute, der ihm bis ins Knochenmark drang, sagte er: „Ja, das ist es! Ich erinnere mich sehr genau: Sie hatten viele Aphten, haben Sie die vielleicht immer noch?“

Tilo zuckte mit den Schultern, so als sei es alles Mögliche, nur nichts Ernstes.

„Keine Ahnung, ich glaube schon. Ich hab sie ständig, das sind so winzige Wunden, rund, aber sie tun nur weh, wenn ich etwas Scharfes oder Saures esse. Und das mir, der mir Tacos mit Chili so gefallen, oder diese leckeren Rollmöpse mit eingerollten Essiggurken.“

Der Doktor konnte kaum glauben, dass es eine Person gab, die so nachlässig und schusselig mit ihrer eigenen Gesundheit umging. Er legte seine Stirn in Falten, öffnete seine erfahrenen Augen und antwortete:

„Aha! Das ist es also, Herr Medina, wahrscheinlich ist das der Grund für Ihr Unwohlsein. Also, ich weiß nicht recht, wie wäre es, wenn wir noch ein bisschen genauer diese ...“ Er unterbrach sich, und forderte Tilo mit einem an den Enden abgeflachten Holzstäbchen dazu auf, den Mund zu öffnen: „Mal sehen, mein Lieber, öffnen Sie Ihren Mund mal für mich, strecken Sie die Zunge raus und machen Sie AHHHHHHHHH, damit ich was sehen kann.“

Er konzentrierte sich so sehr auf die Untersuchung, dass er selbst ebenfalls den Mund halb öffnete; nur dass die Position in der er sich befand, mit leicht vorgebeugtem Oberkörper stehend, begann ihm unangenehm zu werden, sodass er es vorzog seinen bequemen Stuhl heranzurücken und den Vorgang zu wiederholen.

Das Gesicht des Doktors war so nahe, dass Tilo sogar den Linseneintopf aus seinem Mund riechen konnte, den er zum Mittag gegessen hatte.

Diese Situation ließ ihn immer verzweifelter werden. Aber als Liebhaber der guten Literatur, versuchte er seine Verzweiflung dadurch zu überwinden, dass er darüber nachdachte, wie die fesselnde Geschichte von Gregor Samsa wohl enden mochte, der sich in Kafkas Verwandlung, die Tilo vor einigen Tagen zu lesen begonnen hatte, in einen gigantischen Käfer verwandelte. Aufgrund seiner blühenden Phantasie und der Leichtigkeit, mit der er sich in andere Dinge vertiefen konnte, begann er in diesem kurzen Moment mit der Hauptfigur der Erzählung Nabo, der Neger, der die Engel warten ließ von García Márquez eine weitere gedankliche Vermischung zu entwerfen. Der Einfluss der Literatur auf Tilo war so groß, dass er eines Tages imaginärer weise sogar den Kopf seiner Frau Laura abtrennte, um ihn durch jenen von Flora Tristán zu ersetzen – der Heldin des Romans Das Paradies ist anderswo von Vargas Llosa – einfach weil es ihn fasziniert hatte, wie sie beschrieben wurde: Eine charakterstarke, mutige Frau, die, in seinen Augen, für wirklich noble und gerechte Ideale kämpfte.

Die Kreationen seiner Imagination waren so lebendig und ideenreich, dass es ihm manchmal schwer fiel nicht den Faden zu verlieren. Da sie immer präsent waren und mit ihm lebten, aber ohne dass er sie formen konnte, passierte es, dass sie sich schnell im Durcheinander der alltäglichen Pflichten verloren.

„Hm, wie ich vermutet habe! Hier sehe ich eine andere, große Aphte“, sagte der Doktor besorgt, während er beharrlich in der Mundschleimhaut herumwühlte. „Aber wie können Sie das aushalten? Haben Sie keine Schmerzen? Sie können jetzt den Mund schließen, mein Bester!“

Aber Tilo achtete nicht auf ihn, sondern dachte mit geöffnetem Mund weiterhin an die Figur Samsa und stellte sich vor, ihn am besten gemeinsam mit dem Schwarzen Nabo zum Schlafen in den Stall zu schicken.

Er hatte den Doktor vollständig ignoriert und, was noch schlimmer war, seinen Unterkiefer weit nach unten hängen lassen, sodass er wie eines dieser Sumpfkrokodile aussah, das mit geöffneter Schnauze und geschlossenen Augen unter der Sonne döste, während er sich fragte, ob Doktor Rossmann mit seinen gekräuselten Haaren, die ihm stets vom Kopf herabhingen, nicht eher ein immenses Insekt sei, genauso wie jenes bei Kafka.

„Herr Medina, hören Sie mir bitte zu!“ Da er immer noch nicht ganz bei sich war, erhob der Doktor seine Stimme und schüttelte ihn an der Schulter. „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie den Mund jetzt wieder schließen können... AUFWACHEN! AUFWACHEN!“, rief er.

Kurz nachdem er Tilo den ein oder anderen Klaps auf die Wange gegeben und seine Schultern gerüttelt hatte, schloss dieser seinen Mund wieder, schluckte und blinzelte ein wenig.

„Ja, ja, was denn, was denn? Wo bin ich, wo bin ich? Und wo ist Gregor Samsa?“, wiederholte er, noch ganz in seine Träume vertieft; seine Gesten deuteten Unbehagen an, er schloss die Fäuste, die wie versteinert wirkten.

Wenn er in Traumwelten abtauchte, was immer häufiger geschah, vergaß er für gewöhnlich alles um sich herum, sogar den Schmerz, der ihn immerzu quälte.

„Aber ... wer ist denn dieser Gregor, Gregor Samsa? Von wem reden Sie“, fragte ihn der Doktor, während er seine eigenen Schlüsse zog: Du grüne Neune, der Arme, das muss der Blutzucker sein, der ist sicher im Keller.

„Ähm ... Verzeihung ... wie bitte?“, antwortete Tilo. Er blinzelte und befeuchtete seine Lippen, die verschrumpelt waren wie eine Rosine.

Aber der Doktor wollte diesen Gregor Samsa und die gigantischen Insekten lieber nicht mehr erwähnen, von denen Tilo zuvor gesprochen hatte, aus Angst, er könne wieder mit seinen Verrücktheiten beginnen.

„Ich fragte Sie, wie Sie diese Aphten oder Geschwüre und Wunden aushalten können, die Sie im Mund haben. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt klar genug ausdrücke?“

„Aphten?“, antwortete Tilo, so als habe er diesen Ausdruck noch nie gehört.

Erst nachdem er selbst mit seiner Zunge all die Wunden überprüft hatte, die sich in seinem Mund befanden, war es, als ob er den Fokus zurück gewänne und den Gesprächsfaden wieder aufnehmen konnte.

„Ah ja, Aphten! Jetzt erinnere ich mich, kein Problem Herr Doktor, die hab ich ständig. Haben Sie zufällig diese hier gesehen, unter der Zunge? Die ist so groß wie ‘ne weiße Bohne. Schauen Sie!“

Er sperrte erneut seine acht Zentimeter Mundraum auf und indem er mit dem Zeigefinger darunter fuhr, hob er ein wenig die Zunge, die mit den Narben vergangener Aphten übersät war, um dem Arzt zu zeigen, was sich darunter verborgen hielt.

„Aber zum Glück tut es nur weh, wenn ich mir die Zähne putze, deswegen benutze ich auch ELMEX Ultra Sensitive. Die hat mir meine Frau Laura empfohlen, die ist sehr gut. Ich hab sie mir pur in die Wunden geschmiert wie eine Salbe und sie hat gewirkt wie ein Wundermittel.“

„Schön, das ist gut, aber wir sollten jetzt nicht vom Thema abweichen, dagegen verschreibe ich Ihnen besser Recessan, darin ist Polidocanol ...“

„Poli-Was?“ Eine Falte furchte Tilos Stirn.

Der Doktor beachtete ihn kaum.

„Vergessen Sie es am besten gleich wieder. Gehen Sie zur Apotheke und tragen Sie sie einfach auf. Ah, und für die Nacht, wissen Sie, sollten Sie die prophylaktischen Mundspülungen mit Salviathymol-Tropfen nicht vergessen. Die sind sehr gut, ich glaube, dass ich hier auch noch Proben habe ...“ Er drehte seinen Stuhl etwas nach links, beugte ein wenig den Rumpf und zog aus einer Schublade zwei Schachteln hervor, die er Tilo schenkte.

„Danke, Doc, Sie sind auch sehr gut; die werde ich heute gleich nehmen“, sagte er, wie immer mit dem Lächeln eines sorgenfreien Mannes im Gesicht. Anschließend schaute er den Doktor so an, als wolle er ihn um etwas bitten: „Ähm, Sie haben nicht zufällig noch ein paar andere Sachen hier? Also ... ich meine, damit diese nervigen Wunden nicht wieder auftauchen, Herr Doktor. Denn ich wollte die Zeit nutzen, um Ihnen das auch noch zu sagen ...“ Da er in letzter Zeit ständig alles vergaß, zog er aus der Hemdtasche einen Zettel hervor, auf dem ihm seine Frau alle Dinge aufgeschrieben hatte, die er fragen sollte. „Ah ja, hier steht’s, meine Frau hat mir alles aufgeschrieben: wenn diese lästigen Wunden auftauchen, dann fühle ich mich auch schwach und grundsätzlich unwohl, so vier, fünf Tage bis eine Woche, Herr Doktor. Ist das normal und was soll ich tun? Oder ist das am Ende eine Allergie wegen all der Bananen, die ich morgens esse, oder der Erdnüsse am Abend, während ich meine Bücher lese? Apropos Bücher, Sie haben nicht zufällig Die göttliche Schnepfe von Sergio Pitol gelesen? Das ist großartig, ich empfehle es Ihnen!“ Tilo wollte jetzt nicht mehr über Krankheiten oder Unwohlsein sprechen.

Wegen der Schmerzen, die in seinen Gliedmaßen immer stärker wurde, begann er sich wie eine Aufziehpuppe zu bewegen. Er überschlug erst das eine Bein, dann das andere, wechselte die Haltung, wippte mit den Füßen und kreiste die Hüften, um herauszufinden, ob dieses kalte und harte Gefühl in den Füßen verschwinden würde, aber alle Mühen waren umsonst. Für Augenblicke lief ein Kribbeln durch seine Hände, die zitterten wie bei einem Alkoholiker, der seine Flasche braucht. Er wollte auch nicht, dass der Doktor es bemerkte, da er Angst hatte, dass dies die Sprechstunde verlängern würde. Denn schließlich war Tilo eigentlich nur hingegangen, um seine Frau zufriedenzustellen, die in den letzten zwei Wochen zu jeder Zeit des Tages insistiert hatte, du musst, du musst, du musst, denn sonst passiert dir etwas, und all diese Sachen.

Aber die Schmerzen und das Unwohlsein, das er in diesem Moment fühlte, waren so intensiv, dass er es gerade noch schaffte dem Doktor in einem weinerlichen Ton zu sagen:

„AU! Ich halte es nicht mehr aus, zu Hilf ...“ Aber er schaffte es nicht mehr, den Satz zu beenden.

Es war ein Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte, der ihm tückisch durch Rücken und Beine fuhr, so als ziehe jemand einzeln an jedem Nervenstrang in seinem Körper.

Paradoxerweise begann er in seinem Innern auch eine andere Energie zu spüren, die wuchs und wuchs, wie ein Körper im Körper, der dort zu bleiben schien, heimlich und versteckt, so als wolle er ihn einladen ein Rätsel zu lösen.

Verdammich, aber warum reagiere ich so, was passiert mit mir?, fragte er sich, ohne wirklich zu wissen, was er tun oder wie er reagieren sollte. Es waren diese Eingebungen, die ihm stets wie Blitze durch den Kopf schossen, so als wollten sie ihm einen Hinweis geben, oder vielleicht, wer wusste das schon, um allem eine Form zu geben, einen Namen. Während er an andere Dinge dachte, suchte er unterbewusst nach einem Fluchtweg, aber der Schmerz folgte ihm trotzdem überall hin.

So sehr sich sein Körper auch vor Schmerzen wand, verdrehte und bog wie eine Schlange, seine Gesichtszüge verloren weder ihre gewöhnliche Unerschütterlichkeit noch ihren Optimismus: Mit entspannten und weichen Kiefermuskeln und Wangen, einer glatten Stirn und einem Blick, so als sei er kurz davor das Licht der Hoffnung am Ende des dunklen Leidenstunnels zu entdecken.

Obwohl Doktor Rossmann Tilo und seine häufigen Ausbrüche seit mehr als acht Jahren kannte, seine Ablenkungen und Scherze, die ihn manchmal daran zweifeln ließen, ob er es ernst meinte oder nicht, hatte sein Patient ihn diesmal so sehr erschreckt, dass er so laut brüllte, dass seine Stimme das ganze Zimmer ausfüllte:

„WAS IST JETZT? WAS HABEN SIE? WAS PASSIERT MIT IHNEN?“ Und der Arzt sprang von seinem Stuhl auf, sodass er beinahe alles herunterwarf, was auf seinem Tisch lag, er packte Tilo an seinem sich windenden Nacken und versuchte ihn mit dem anderen Arm so gut es ging an Brust und Taille zu halten, bevor er zu Boden stürzte und sich verletzte. Zum Glück reichte die Zeit noch, um seine Krankenschwester über die Sprechanlage zu rufen.

Es waren noch keine fünf Sekunden vergangen, da erschien auf der Türschwelle bereits der Körper einer beinahe einen Meter achtzig großen Frau, stämmig und mächtig, eine dieser Frauen, die alleine durch ihren Blick Respekt einflößte.

„Sehr gut, Frau Ochsenknecht, kommen Sie, helfen Sie mir bitte mir Herrn Medina, wir werden ihn auf die Liege legen“, schlug der Doktor vor. Die Beiden arbeiteten seit über zwanzig Jahren zusammen.

„Keine Sorge, Herr Doktor, lassen Sie mich das am besten machen, ich hab da meine Tricks“, antwortete Frau Ochsenknecht.

Sie hatte den Bizeps und die Oberarme eines Ringkämpfers; nur ihre helle, trillernde Stimme passte so gar nicht zu so einem Körperbau; zudem hatte sie vor kurzem einen Kurs in Intensivmedizin belegt, so wie ihn auch die Sanitäter der Bundeswehr absolvierten, bevor sie in Krisengebiete wie Afghanistan, den Irak und Uganda geschickt wurden.

So packte die Krankenschwester Tilo und hob ihn mit einer Bewegung hoch, so als sei er ein Stofftier, legte ihn vorsichtig auf der Arztliege ab und bettete seinen Kopf auf die Kopfstütze.

„Ah, sehr gut! Immer mit der Ruhe, Frau Ochsenknecht, Vorsicht, Vorsicht!“, warnte sie der überraschte Doktor, denn trotz all der Jahre, die sie zusammen arbeiteten, war er immer wieder überrascht von der Wucht die sie immer an den Tag legte, wenn sie ihm zur Hand ging. Während er ihr dabei half es Tilo auf der Arztliege bequem zu machen, starrte er auf einen Eckschrank voller medizinischem Gerät. „Perfekt, und könnten Sie mir jetzt die Injektionsspritze Nummer 20 geben, eine von diesen, die ich in dem weißen Schrank habe ...“, und er begleitete seine Worte mit einem Blick dorthin, das Kinn erhoben. „Ich werde Ihnen eine Ampulle Metamizol mit einer konzentrierten Dosis Vitamin B12 injizieren, um zu schauen, ob sich Ihre Nerven ein wenig revitalisieren und die Entzündung abklingt.“ Er konnte sogar mit den Fingerkuppen fühlen, wie die Nerven in Tilos Rücken pochten. „Um Gottes Willen! Das ist ja komplett verhärtet!“ Er schüttelte den Kopf, ohne die Haarlocke in Ordnung zu bringen, die immer über seiner Stirn hing.

Während Tilo tapfer durchhielt und die Lippen aufeinander presste, massierte ihm die stämmige Krankenschwester den rechten Fuß, so als würde sie Teig kneten.

„Ja, ja ... ist schon gut, ist schon gut!“, flüsterte sie weich in sein Ohr und befeuchtete dabei sein Muschel; das macht ihr Dialekt, dachte Tilo, dem es schien als rolle sich beim Sprechen ihre Zunge auf, und während er das alles dachte, trocknete Schwester Ochsenknecht ihm schon mit der Hand die Stirn, von der die Schweißtropfen wie Kondenswasser perlten.

Als der Doktor bemerkte, dass Tilo begann wieder etwas ruhiger zu atmen, machte er sich lieber daran die ersten Instruktionen zu geben:

„Ich werde Ihnen jetzt direkt einen Einweisungsschein in die Neurologie des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt schreiben, denn wie ich vorhin bereits sagte, scheint mir das eher eine systemische Erkrankung mit schweren neurologischen Folgen zu sein ... verstehen Sie mich Herr Medino, Medini, Meduno?“ Die Spannung des Augenblicks ließ ihn erneut den Namen verwechseln.

Tilos ließ seinen Kopf zurück auf die Kopfstütze sinken und aß aus Verzweiflung ein Stück des Papiers, das seine Liege bedeckte. Der Schmerz war so intensiv, dass ihm jetzt nicht einmal mehr das half, was er über die Verwandlung von Kafka gelesen hatte.

Ich bin am Arsch!, war das einzige, das ihm durch den Kopf ging. Ach nein, drauf geschissen. Ich feiere trotzdem! Obwohl er sich unter Qualen bog, war sein fünfzigster Geburtstag etwas, das er nicht vergessen konnte. Während er sich auf eine Seite drehte und den Hintern weich machte, damit die Nadel der Injektion richtig eindringen konnte, erinnerte er sich noch vage daran, was der Doktor ihm vor einer Weile gesagt hatte, und mit einer skeptischen Geste murmelte er nur noch einige Worte:

„Gut, wenn Sie es sagen, aber... wo befindet sich denn diese Quacksalberhütte, Verzeihung, dieses Krankenhaus und wie komme ich dorthin?“

„Keine Sorge, Herr Medina, ich werde Ihnen einen Transport organisieren. In Ordnung? Ruhen Sie sich für den Moment lieber ein wenig aus und warten Sie, bis die Injektion Wirkung zeigt.“

Nachdem er ihm alles, was noch in der Ampulle verblieb, injiziert hatte, prüfte der Doktor Tilos Pupillen, die glücklich zu ihrer normalen Größe zurückgekehrt waren, danach kontrollierte er Puls und Blutdruck und begab sich schnell zu seinem Schreibtisch zurück, um das ganze Bündel an Rezepten und am Ende auch die Einweisung auszufüllen, die er vorher erwähnt hatte.

„Fertig! Hier habe ich Ihnen hier auch Voltaren Resinat aufgeschrieben, abgesehen davon, dass es stärker ist als das Dispers, ist es auch sehr gut gegen Muskelverkrampfungen. Nehmen Sie es am besten zwischen den Mahlzeiten mit einem Dragee Gastracid 20 mg, so schützen Sie Ihre Darmflora. Ah, und vergessen Sie nicht, wenn Sie aus der Klinik kommen direkt hier vorbeizuschauen, damit wir sehen können, wie wir mit der Behandlung fortfahren, was Ihnen bestimmt auch schon die Experten aus der Klinik mitteilen werden. Ich glaube, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht ...“ Sein Blick fixierte irgendeinen Punkt, wie um sich an etwas zu erinnern. „Dort arbeitet als Neurologe auch Herr Professor Doktor Jürgen Kaminsky. Ein sehr guter Mensch, eine wirkliche Koryphäe in dieser Disziplin ... sehr exakt, sehr exakt.“

Dank des lindernden Effektes des Metamizols, begann der stechende Schmerz in Tilos Taille und seinen Beinen langsam zu verschwinden, nur dieses sonderbare Gefühl, das er in seinem Innern verspürt hatte und das ihm auf gewisse Art geholfen hatte sein Unwohlsein zumindest teilweise zu neutralisieren, war immer noch da, eingekapselt, so als warte es auf seine Entdeckung.

„In Ordnung, danke, Herr Doktor. Aber Sie haben mir bisher immer noch nicht gesagt was ich habe, oder haben könnte“, sagte er, eher verwirrt als ängstlich.

Er rückte mit größter Vorsicht an den Rand der Arztliege, die nicht einmal einen halben Meter breit war, und zog sich ohne den Hintern zu heben die Hose zurecht, die wie eine Latzhose an ihm herum baumelte, so sehr hatte er abgenommen; anschließend setzte er zuerst den linken Fuß auf den Boden, dann den rechten, er richtete seine Taille auf und streckte seine Arme in Richtung Decke, so als sei er gerade aus einem langen Albtraum aufgewacht.

„Ach, Herr Medina, aber nein! Nach dem was Sie tun, habe ich den Eindruck von Ihnen, dass Sie mir nicht zuhören“, antwortete ihm der Doktor in einem Ton, so als ermahne er ihn wegen mangelnder Aufmerksamkeit. „Ich wiederhole Ihnen noch einmal: ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass Sie eine systemische Erkrankung haben, die, so scheint mir, auch die peripheren Nerven des Körpers betrifft.“ Während er sich die Hände mit einer milchigen Desinfektionsflüssigkeit wusch, beobachtete er seinen Patienten über den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. „Es tut mir leid, und ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: in all den Jahren, in denen ich meine Praxis habe, habe ich noch nie einen Fall wie den Ihren behandelt. Wirklich sonderbar. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das ist jetzt die Aufgabe für die Neurologen des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt, und die werden wissen was zu tun ist.“ Und er schmierte seine Hände bis zu den Handgelenken mit einer Creme ein, die nach Rosen duftete.

Und was sage ich jetzt Laura?

Seitdem Tilo die Praxis verlassen hatte, war er nicht mehr derselbe. Dieses sonderbare Gefühl war geblieben, das mehr eine Obsession zu sein schien, und pochte dauerhaft in seinem Unterbewusstsein.

„Ich werde es herausfinden, ich werde es herausfinden“, wiederholte er sich pausenlos und zermarterte sich den Kopf mit Gedanken, so als hingen davon nun seine Hoffnung und Zukunft ab.

Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags, minus zehn Grad, die Luft eisig und die Straßen mit wattigem Schnee bedeckt. Es war Februar, der kälteste Monat des Winters. Er lebte in Radebeul, einem pittoresken Ort mit knapp Dreißigtausend Einwohnern, sehr bekannt für seine Weinberge, urigen Restaurants und touristischen Orte; es war der Ort, an dem der berühmte Karl May gelebt hatte, Erfinder des heldenhaften Winnetou und seiner Abenteuer im Wilden Westen.

Während er den Hang emporstieg – sein Haus lag am Fuß eines Hügel, direkt neben einem Weinberg – beobachtete er die Wohnungen auf der Anhöhe am anderen Elbufer, mit ihren Dächern in wechselnden Rottönen. Alles, was Tilo wahrnahm, verknüpfte er augenblicklich mit jenem sonderbaren Gefühl, das in seinem Innern pochte. Vor den stechenden, körperlichen Schmerzen, die ihm manchmal sogar das Gehen unmöglich machten, hatte er jedes Mal weniger Angst; letztendlich hatte er sich beinahe an sie gewöhnt.

Ich weiß wohl, was ich fliehe, aber nicht, was ich suche. In jedem Fall ist es besser, einen schlechten Zustand gegen einen ungewissen zu tauschen... Dieses Zitat des französischen Denkers Michel de Montaigne kam ihm ganz plötzlich in den Sinn.

Während er wie ein Schlafwandler durch eine steile Straße lief, versuchte er das Chaos seiner Gedanken zu ordnen.

„Aber natürlich, ist es nicht vielleicht eine Art Verschwörung meiner Seele, dass ich nun diese neue Reise unternehmen muss, die meine Krankheit ist?“

Er sprach mit sich selbst, mit gehobener Stimme, so als wolle er sich in diesem Moment zum Freund seiner Schmerzen und Leiden machen, sie mehr verstehen als abstoßen. Etwas sagte ihm, dass es nutzlos sein würde, wie gegen einen Feind mit einer Krankheit zu kämpfen, oder was auch immer er hatte, und genau deshalb war es besser, sie nicht wie einen Gegner zu sehen, sondern wie einen Verbündeten. Ja, das würde er sein, ein Verbündeter, ein Komplize jener Obsession, die ihm jetzt die Gedanken durchbohrte. War es vielleicht seine Faszination für Bücher und für alles, was er gelesen hatte, las und lesen würde, die ihn dazu brachte? Oder war es so, dass er sich in einen Masochisten verwandelte?

Er ordnete weiter seine Gedanken und schaute mit seinen weit aus den Höhlen hervorstehenden Augen fasziniert in das Firmament, so als verbände er sich mit der göttlichen Vorsehung.

Eine Alte, die gerade all den Schnee weggeschippt hatte, der sich vor ihrem Haus aufgetürmt hatte, erschreckte sich, als sie Tilo so vor sich hin brüllen sah, so sehr, dass sie sich hinter der Schwelle ihrer Tür versteckte. Andere beobachteten ihn heimlich, während sie ihre Gesichter gegen die Fenster drückten, die von ihrem feuchten Atem bedeckt waren.

Als er vor dem Blumenladen vorbeikam, der nur zwei Straßen von seinem Haus entfernt lag, kamen seine Gedanken einen Moment zur Ruhe.

„Ja, warum nicht? Ich werde meiner Laura einen schönen Blumenstrauß schenken, damit sie sich nicht so große Sorgen macht“, sagte er sich.

So war er: obwohl er wusste, dass seine Frau manchmal sehr wenig Geduld mit ihm hatte, ihn wie ein großes Kind behandelte, gefiel es ihm immer sie zu überraschen; und nicht nur sie, sondern auch seine Adoptivtochter Karina. Sie war die Tochter aus Lauras erster Ehe: Laura war Witwe geworden, als Karina nicht einmal fünf Jahre alt gewesen war. Sie war sein Augapfel, er liebte sie abgöttisch. Tilo war eine dieser Personen, die es mehr genoss zu schenken als beschenkt zu werden.

Laura sah man die vier Jahre nicht an, die sie älter war als Tilo. Sie war schlank und groß, Tilo musste immer den Nacken strecken, wenn er sie küsste, hatte eine Hautfarbe, die etwas dunkler war als das blasse Weiß der deutschen Frauen. Wegen ihrer aristokratischen Erscheinung, immer gut gepflegt, so als sei sie eine Schaufensterpuppe, ärgerte er sie mit dem Spitznamen Luxus Lady. Sie wirkte immer einbalsamiert, weil sie die besten kosmetischen Cremes und Öle benutzte (sie ging mindestens zwei Mal pro Woche zu ihrer Freundin der Kosmetikerin und alle zwei Wochen zu ihrem schwulen Friseur); wenn sie die Straße entlang lief mit einem ihrer vielen, oder besser gesagt mit einem der hundert Paar Schuhe, die sie besaß (und dann gab es da noch die Handtaschen) und die sie wie einen Fetisch in einem abschließbaren Schrank aufbewahrte und stets genau so auswählte, dass sie mit ihrer Kleidungsauswahl übereinstimmten, dann schauten sie alle, aber insbesondere ihre Freundinnen voller Neid an und sagten untereinander: „Ach Mädchen, sie sieht wirklich königlich aus ... Ich weiß nicht, was diese Frau macht, um sich so gut zu halten, denn ich glaube nicht, dass sie es wegen ihres halb durchgedrehten Ehemanns tut.“

Tilo dagegen war das absolute Gegenteil. Er mochte es, sich einfach zu kleiden; er sagte, dass der Mensch, der vom Affen abstammte, es besser so halten sollte wie die Massai: mit einem einzigen Kleidungsstück, das sie gegen die Sonne schützte und fertig. Tilo hatte ein hässliches Antlitz, er erinnerte eher an einen Hamster: speckige Wangen mit einer platten Nase, außerdem kleine, spitze Ohren und gerötete Augen, die ihm aus dem Gesicht hervorstanden. Einige seiner Freunde rieten dazu getönte Brillengläser zu benutzen, genauso wie Heino.

Da Tilo in letzter Zeit etwas vergesslich geworden war, hatte er es unterlassen seinen Hosenschlitz hochzuziehen. Als er in den Blumenladen eintrat, lächelte ihn die Verkäuferin an, eine glückliche Dicke, die kein bisschen schüchtern war, und hielt sich dabei die Hand vor den Mund, damit man ihre Zahnlücke nicht sah, wies ihn aber direkt darauf hin, dass dort unten etwas geöffnet geblieben war.

„Ah ja, danke! Da habe ich ja ganz zu Recht das Gefühl gehabt, dass mir da unten etwas eingefroren ist“, sagte Tilo und lächelte. Ohne besonderen Grund, fühlte er sich vom Lila und Weiß der Lilien angezogen, die man direkt am Eingang des Ladens platziert hatte.

„Frau Wiedow, warum stellen Sie mir nicht einen schönen Strauß dieser Blumen zusammen“, sagte er, ohne viel nachzudenken.

„Aber Herr Medina, mag Ihre Dame nicht Nelken?“, zögerte die Verkäuferin, da sie erahnte, dass sie für seine Frau sein sollten. Sie kannten sich, seit er nach Radebeul gezogen war.

„Ja, ich weiß, aber man muss sie daran gewöhnen, damit sie ihren Geschmack ändert, Frau Wiedow. Außerdem scheinen ihre Nelken noch ganz klein zu sein, nur Knospen. Ich möchte etwas, das Aufmerksamkeit erzeugt, voller Leben, so wie diese schönen Lilien.“ Er untersuchte jede Blume, die in der Vase steckte und stellte sich das erstaunte Gesicht seiner Frau vor.

Er nährte sich der größten Blüte mit seiner Nase, um ihren Geruch zu prüfen und er nieste so stark, dass sie sich komplett auflöste; nur einige Blütenblätter hingen noch im Haar und auf der Bluse der Verkäuferin.

„Verdammt, entschuldigen Sie vielmals! Ich scheine allergisch auf den Geruch von Lilien zu reagieren.“

Als er ihr dabei helfen wollte die Blütenblätter zu entfernen, warf er ungeschickt eine Vase um, die, zu seinem Unglück, noch voller Wasser war, das zu allem Überfluss auch noch nach faulen Eiern stank. Er hatte ernsthafte Probleme mit den Bewegungsnerven seiner Hände, manchmal reagierten sie schwerfällig, unkoordiniert.

„Verflucht! Ich weiß nicht, was heute los ist, alles geht schief! ... Hehehe ...“ Er löste wie immer alles mit einem Lächeln.