Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7431-5565-7
Svetlana Arlt-Rohrbacher wurde 1969 in Duisburg geboren und wuchs im beschaulichen Ratingen auf. Dort lebt sie heute zusammen mit ihrer Familie. Sie nach einem abgebrochenen Studium der Sozialwissenschaften den Beruf der Krankenschwester erlernt und arbeitet heute in einem Wohnheim für dementen Menschen.
Ihr Hobby ist schon von Jugend an das Schreiben.
Veröffentlicht hat sie bereits ihren persönlichen Lebensbericht mit dem Titel:
„vielmehr – Ich, Leben mit dem Asperger Syndrom“ im Dezember 2015 sowie den Erzählband „Shivot – Zehn kurze Erzählungen“.
„vielmehr – Ich, Leben mit dem Asperger Syndrom, Teil 2 ist die Fortsetzung zum oben genannten Buch.
Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet
„Mehr Bandbreite
Harmonie muss nicht auf Gleichartigkeit beruhen. Harmonie durch Ergänzung erschließt viel mehr Möglichkeiten. Allerdings muss man dafür den Glauben aufgeben, Andersartigkeit sei dringend änderungs- oder zumindest kritikbedürftig.“
(Peter Hohl, dt. Journalist und Verleger)
Langsam aber sicher verändert sich etwas zugunsten von uns Autisten. Es werden immer mehr Stimmen laut. Autisten zeigen sich, finden zusammen und setzen sich für andere Autisten ein. Auch für jene, welche noch im Kindesalter sind. Wir Frauen spielen dabei eine sehr große Rolle. Uns gibt es.
Wir versuchen als erwachsene Diagnostizierte, den betroffenen Mädchen und Frauen den Weg zu ebnen. Möglichkeiten aufzuzeigen und Hilfestellungen zu bieten. Dazu gehört, dass viele Frauen, ebenso wie ich, persönliche Blogs schreiben, Bücher verfassen und/oder sich auf andere Art einbringen um die Gesellschaft aufzuklären.
Mein Buch ist ein Lebensbericht. Authentisch und ehrlich. Und es steht nur für mich alleine. Ich schreibe ausschließlich über meine Empfindungen und Erlebnisse. Denn wie sagt man so schön:
„Kennst du einen Autisten, kennst du EINEN Autisten!“ Wir sind keine Aliens. Auch wenn wir es immer noch oft genug so empfinden müssen. Wir sind genauso wie ihr in der nicht autistischen Welt.
Nur ein wenig anders.
Ich bekam meine Diagnose des Asperger-Autismus sowie die der ADHS zu Beginn des Jahres 2014.
Seit meiner späteren Kindheit und Jugendzeit war mir bewusst, dass ich völlig anders bin als die Kinder und Jugendlichen um mich herum. Allerdings fehlten mir die Begrifflichkeiten und Erklärungen für dieses „anders sein“. Das Asperger Syndrom war in den siebziger Jahren noch so gut wie gar nicht bekannt. In den achtziger Jahren erhielten immerhin manche Kinder eine solche Diagnose.
Der Großteil von uns blieb jedoch undiagnostiziert oder erhielt irgendwelche andere Diagnosen, die heute eher als Komorbidität angesehen werden.
Als das Thema Asperger-Autismus sich durch unsere ältere Tochter langsam und vorsichtig in unser Leben schlich, begann ich mit meinen Recherchen dazu im Internet.
Alles, was ich darüber finden konnte, las ich. Sämtliche Videos, die ich entdeckte, schaute ich mir an. Ich entwickelte ein regelrechtes Spezialinteresse an dem Thema, das sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Allerdings empfand ich dieses extreme Forschen als unwahrscheinliche Befreiung und weinte sehr häufig, wenn ich wieder eine deutliche Parallele zu mir selber erkannte.
Ich fand identische und/oder ähnliche Situationen wieder, Begründungen dafür und Menschen, denen es ebenso erging wie mir. Bis dahin hatte ich stets geglaubt, ich sei ein wenig rückständig, naiv und einfach nur zu seltsam für diese Welt.
Nachdem die Diagnose meiner Tochter feststand, dachte ich über eine eigene Diagnostik nach. Mein Mann behauptete oft, dass ich in vielen Dingen viel eher autistisch reagieren würde als sie.
Es dauerte dennoch fast zwei Jahre, ehe ich den Mut fand, eine Diagnose anzustreben.
Viele Informationen verschaffte ich mir über Kontakte im Internet und ließ mich auf sämtliche Wartelisten größerer Autismus-Diagnostikstellen setzen. Die Wartezeiten betrugen überall mehr als ein Jahr. Durch Zufall fand ich die Adresse eines niedergelassenen Psychiaters in meiner Nähe, der auf die Diagnostik von ADS/ADHS sowie die der Autismus-Spektrumstörungen bei Erwachsenen spezialisiert war. Ich ließ mir einen Termin geben und fand mich bereits drei Monate später in seiner Praxis wieder.
Anders als in den „großen“ Autismus-Diagnostikstellen füllte ich nur einen kleineren Fragebogen aus, um eine etwaige Richtung erkennen zu können. Im ersten Gespräch lernten der Psychiater und ich uns kennen. Er stellte Fragen zu meiner Person allgemein und tastete sich zu meinem „Problem“ vor.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich zitternd vor Nervosität vor ihm saß. Bei jedem Satz klapperten meine Zähne aufeinander, und ich musste mich extrem konzentrieren, um überhaupt seine Fragen aufnehmen zu können. Es war wirklich anstrengend für mich. Zudem war sein Büro äußerst interessant für mich. Noch nie habe ich bei einem Arzt ein solches Zimmer gesehen. Bücher über Bücher, persönliche Dekorationen und ein warmes Chaos herrschten dort. Ich gestehe, ich musste mehrfach nachfragen weil ich mich immer wieder neu ablenken ließ, sobald ich etwas entdeckte, was mich neugierig machte.
Es gab bis Ende Januar im Jahr 2014 sieben Termine von jeweils anderthalb Stunden Dauer. Bei allen dieser Termine saß ich zitternd vor ihm, wobei dieses Zittern etwas weniger geworden war.
Der Psychiater ging die typischen, in der Diagnostik angewendeten Fragebögen sprechend mit mir durch. Das bedeutet, er stellte mir zwar die aufgeführten Fragen, jedoch anders als dort formuliert und immer in Zusammenhang mit meinem Alltag und entsprechenden Situationen. Es waren also tiefgehende Gespräche zwischen ihm und mir.
Nach jedem dieser Termine fuhr ich erschöpft nach Hause und konnte an diesen Tagen auch kaum mehr Energie aufbringen für meine Tätigkeiten als Hausfrau, Ehefrau und Mutter.
Anfang Februar hatte ich meinen letzten Termin bei ihm und erhielt meine Diagnose:
Asperger-Autismus, zusammen mit ADHS.
Als ich nach Hause, fuhr weinte ich auf der gesamten Heimfahrt.
Die ganze Anspannung fiel von mir ab, und ich war erleichtert.
Nun hatte mein SEIN endlich einen Namen.
Ich war nicht bekloppt, dumm oder zu blöd für diese Welt. Ich bekam die Bestätigung für mein immerwährendes Wissen, dass ich einfach anders bin als die anderen Menschen da draußen, und dass dies völlig in Ordnung ist.
Ich habe über diesen Schritt etwas länger nachgedacht. Sollte ich mein Umfeld davon in Kenntnis setzen oder eher nicht? Was würde mir das eventuell bringen? Was würde ich mir erhoffen?
Als erstes sagte ich es natürlich meinem Mann.
Für ihn war die Diagnose kein Wunder. Seiner Meinung nach wussten wir beide es doch sowieso schon länger. Und ändern würde es genau gar nichts zwischen uns. Direkt danach informierte ich meine Schwester.
Doch auch sie fand es nicht merkwürdig oder diskussionswürdig.
Denn auch sie wusste von meinen Terminen und kannte mich nie anders. Schwieriger wurde es bei meinen Eltern. Ich erinnerte mich noch sehr gut an die säuerliche Aussage meines Vaters nach Bekanntgabe des Autismus seiner ältesten Enkelin, meiner Tochter:
„Sie ist doch nicht behindert! Nur weil ich auch immer nach oben (in sein Studio/Atelier) gehe wenn fremde Leute hierher kommen, bin ich doch kein Autist.“
Diese Aussage und noch zwei, drei weitere Sätze zeigten mir ganz klar, dass er sich damit überhaupt nicht konfrontiert sehen wollte.
Für ihn galt, ebenso wie für die meisten Menschen seiner Generation, dass das „anders sein“ eine Behinderung darstellte.
Er wusste, dass meine Mutter während ihrer Arbeit in der Psychiatrie neben den geistig behinderten Menschen auch autistische Kinder und Jugendliche betreut hatte. Dass es Menschen mit Autismus gibt, die wie ich auch selbständig und normal leben können, das war ihm völlig fremd. Dennoch nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und brachte es meinen Eltern an einem Nachmittag relativ schonend bei. Fragen stellten sie mir keine. Es wurde angenommen, hingenommen, und man wechselte danach zu anderen innerfamiliären Themen über. Manchmal kommt meine Mutter heute auf dieses Thema zurück, und dann erkläre ich ihr manche Dinge genauer. Mein Vater hat diese Tatsache angenommen, sieht jedoch keine Notwendigkeit für sich, darüber mit mir ins Gespräch zu kommen.
Allerdings gibt es Momente, in denen wir uns unterhalten, ich ein paar kleinere Punkte kurz anreiße und er diese bestätigt. Auch für sich selber.
Ich meine damit die Rituale und Stereotypen, die auch er hat.
Und wie für mich bieten sie ihm Sicherheiten, um mit dem „Chaos“ da draußen, das sich Leben nennt, zurecht zu kommen. Er braucht seine vielen Rückzugsmöglichkeiten und seine Ruhe sowie seine Gewohnheiten. Sonst wird er unleidlich und nervös.
Viele Eigenheiten von ihm sind für mich heute erklärbar, und ich weiß, von wem ich meinen Autismus geerbt haben muss.
Meine Freundinnen klärte ich direkt im Anschluss auf.
Dabei gab es unterschiedliche Reaktionen.
Zwei Freundinnen nahmen es sofort an und hatten es auch bereits schon länger geahnt. Eine enge Freundin war zuerst etwas verhalten, da sie sich das irgendwie nicht vorstellen konnte. Sie sagte jedoch auch, dass sie sich nie mit dem Thema auseinander gesetzt hatte und war offen für meine Erklärungen.
Nach einem längeren Gespräch erhielt sie Erklärungen für sich selber, warum ich in bestimmten Situationen so und nicht anders reagiert hatte in der Vergangenheit.
Damit setzte sie sich auseinander und konnte die Diagnose annehmen. Geändert hat sich nichts an ihrer Zuneigung zu mir. Und umgekehrt sowieso nicht. Ihr vertraue ich am meisten, da ich sie am längsten von meinen Freundinnen kenne.
Eine andere Freundin dagegen hatte sehr große Probleme damit, meine Diagnose und auch die unserer jüngeren Tochter, wiederum zwei Jahre später, anzunehmen. Das verstand ich nicht, denn sie selber hat einen ebenfalls autistischen Sohn.
Ich erkläre es mir heute damit, dass sie ebenso wenig Ahnung vom Autismus bei Mädchen und Frauen hat wie der Großteil der Gesellschaft. Das ist auch an sich überhaupt nicht schlimm.
Aber ihre erste Reaktion hat mich schon etwas traurig gestimmt, und ich nahm ein wenig Abstand aus Unsicherheit.
Ein aufklärendes Gespräch kam später zustande, und ich informierte sie dahingehend, wie sehr sich viele autistische Mädchen und Frauen an die nicht autistische Welt anpassen und kaum auffallen mögen. Dass dieses Anpassen jedoch irgendwann seinen Preis haben wird in Form von Zusammenbrüchen, Depressionen oder anderen Nebenprodukten psychischer Erkrankungen.
Heute kann sie es so annehmen wie es ist.
Das Outen auf der Arbeit bereitete mir richtig große Bauchschmerzen. Es hatte im Vorfeld ein paar Situationen gegeben, die für mich nicht gut gewesen waren. Zusammenstöße mit Kollegen, Unverständnis für meine Meinungen oder Aussagen bis hin zum scheinbaren Mobben durch eine Person.
Zumindest empfand ich es als Mobbing.
Es wurden mir Dinge vorgeworfen, die ich niemals getan hatte.
Um diese Vorwürfe zu klären, bat ich die Heimleitung dazu und suchte gemeinsam mit ihr das Gespräch mit der Person Es war schwierig und nicht unbedingt zufriedenstellend für mich.
Denn die Vorwürfe wurden aufrechterhalten, und ich wusste genau, dass die Person zwar Recht hatte mit dem Grund ihrer Verärgerung, diese aber nicht mich betraf, sondern jemand anderen. Dies versuchte ich auch mehrfach anzubringen, jedoch ohne Erfolg. Das Ende vom Lied war, dass wir ein halbes Jahr nicht mehr gemeinsam Dienst hatten.
Nach dieser Aktion brauchte ich noch etwa ein halbes Jahr, um den Mut zu fassen, mich zu outen. Meine Chefin nahm es gelassen auf und meinte nur, sie habe sich so etwas in der Art schon gedacht. Es sei aber gut, dass ich ihr darüber Bescheid gegeben hätte.
Ich könnte jederzeit zu ihr kommen, wenn ich eine Auszeit bräuchte oder Redebedarf hätte. Dieses Wissen hilft mir einigermaßen, den Stress bei der Arbeit zu überstehen. Bislang habe ich jedoch noch keinen Gebrauch davon machen müssen.
Ich hoffe, dass es auch weiterhin nicht nötig sein wird.
Die Kollegen waren die nächsten Personen, denen ich von mir erzählte. Auch hier gab es keinerlei Unverständnis.
Sie sind bis heute entspannt im Umgang mit mir. Manchmal ergeben sich kurze Gespräche über den Autismus. Diesen geht meist eine bestimmte Situation voraus, und ich kann mich erklären. Ich habe keine Scheu mehr davor, bestimmte Dinge an sie abzugeben, dafür andere aber zu übernehmen, wenn ich weiß, dass ich diese besser kann als sie selber.
Das Outing hat mir persönlich, bis jetzt, in keinem Bereich geschadet. Ich gehe offen damit um und werde wohl auch nicht mehr zwangsläufig große Probleme damit haben.
Wenn ich ehrlich sein soll, so habe ich mir noch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, ob ich Frau genug sein könnte.
Mir ist immer schon klar gewesen, dass ich eine weibliche Person bin. Schließlich steht es schwarz auf weiß in meiner Geburtsurkunde, und wenn ich an meinem Körper herunter schaue, weisen auch da alle Anzeichen auf eine tatsächlich weibliche Person hin.
Als Kind habe ich mir keinerlei Gedanken über meine körperliche Bauweise gemacht. Ich war weder die Prinzessin noch ein Fräulein. Ich war irgendwie ein Neutrum.
An Karneval verkleidete ich mich, wenn überhaupt, als Zigeunerin, als Matrose oder eben überhaupt nicht. Kleider zog ich als Kind nur deshalb an, weil meine Mutter sie mir gekauft hatte und zum Anziehen herauslegte. Am wohlsten fühlte ich mich jedoch immer schon in Hosen. Worauf ich jedoch immer Wert legte, waren meine langen Haare. Bereits mit etwas über drei Jahren reichten sie mir in schönen Wellen lang den Rücken hinunter, bis fast zur Taille. Niemand sollte sie mir abschneiden. Allerdings gab es bis vor kurzem immer wieder seltsame Anwandlungen meinerseits, in denen ich meinte, sie mir doch versuchsweise abschneiden lassen zu müssen. Entgegen meiner Überzeugung.
So geschah es zu meiner Grundschulzeit, dass meine Freundin und meine „Rivalin“ eines Tages statt mit ihren langen Haaren mit einem damals so modernen Rundschnitt inklusive Pony an der Stirn in die Schule kamen. Unsere Klassenlehrerin hatte genau denselben Haarschnitt und diente anscheinend als Vorbild.
Kaum zu Hause angelangt, bat ich meine Mutter darum, mit mir zum Friseur zu gehen. So eine Frisur wollte ich auch haben.
Meine Mutter lehnte dies kategorisch ab, denn meine langen Haare waren doch schön anzusehen. Ich bat und bettelte den ganzen Nachmittag, doch sie blieb hart.
Es war ein Donnerstag.
Das werde ich nie vergessen, denn donnerstags hatte ich am Abend immer Schwimmunterricht.
Als mein Vater mich dort abgeholt hatte, ging ich sofort in unser Badezimmer, schloss die Tür ab und griff nach der Schere im Badezimmerschrank. Zeit zum Überdenken ließ ich mir nicht.
Ich ergriff eine dicke lange Strähne links vorne und schnitt diese ab. Da stand ich also am Spiegel und hielt das struppig abgeschnittene Haar in der Hand. Und hatte nun ein Problem.
Was sollte ich meinen Eltern sagen?
Als ich das Bad verließ, waren die Augen meiner Eltern ziemlich groß und das Theater danach erst recht. Ich hatte darauf spekuliert, dass meine Mutter mich am nächsten Tag zum Friseur bringen würde, denn ich sah mächtig verunstaltet aus. Leider dachte sie überhaupt nicht daran. Stattdessen lief ich ab jetzt entweder mit einem Pferdeschwanz herum oder mit zwei Zöpfen, bei denen auf der einen Seite immer so ein struppiges Etwas nach oben ab stand. Meine Mutter ließ mich tatsächlich eine Woche so herum laufen, ehe sie mit mir zum Friseur ging und ich meinen ersehnten Rundschnitt bekam.
Das Ende vom Lied war, dass ich diese neue Frisur hasste von dem Moment an, als wir den Laden verließen. Ich hatte überhaupt nicht vorausschauend gedacht und keine Vorstellung darüber gehabt, dass Haare ewig brauchen, um wieder lang zu werden. Todunglücklich war ich nun.
Wirklich gelernt habe ich aus dieser Sache nicht viel.
Als ich fünfzehn Jahre war, ließ ich mir die Haare erneut kurz schneiden. Dieses Mal war ich zu dem Zeitpunkt bei einem Schüleraustausch in Frankreich. Meine „Tauschmutter“ war mit einer Stylistin befreundet und ich dachte:
„Oh super. Ich versuche mal einen französischen Haarschnitt!“
Dazu erbat ich mir sogar telefonisch die Absolution meiner Mutter.
Es kam wie es kommen sollte: die Haare waren ab und ich unglücklich. Meine Mutter verlor bei meiner Rückkehr kein Wort darüber. Sie sah, dass ich innerlich gestraft genug war.
Seltsamerweise hielt mich das alles nicht davon ab, mir ein halbes Jahr später die linke Kopfpartie erst recht kurzschneiden zu lassen, so dass ich eine damals „Popper–ähnliche“ Frisur trug, mit einem beinahe heute so modernen Undercut.
Danach ließ ich meine Haare ein paar Jahre lang in Ruhe und ließ sie wachsen, bis sie mir fast bis zur Hüfte gingen.
Warum ich sie mir dennoch bis heute noch einige Male kurz schneiden lassen musste, weiß ich nicht. Es entsprang meiner jeweiligen Verfassung und der plötzlichen Eingebung, dass ich jetzt sofort und unbedingt kurze Haare haben müsste.
Ich vermute, es war wieder einmal mehr der Versuch, so zu sein wie andere, nicht autistische, Frauen. Denn diese gehen regelmäßig zum Friseur oder zur Kosmetikerin.
Lassen sich verändern, suchen regelrecht nach Veränderungen, sobald sie einen neuen Lebensabschnitt erreicht haben.
Das ist wohl etwas, was „typisch Frau“ in ihrer Welt unter anderem bedeutet.
Heute, mit siebenundvierzig Jahren, habe ich verstanden, dass mir kurze Haare erstens nicht stehen und ich zweitens sowieso nur wieder herumjammere, wenn ich sie habe abschneiden lassen.
Nun bleiben sie so lange lang, bis ich alt und grau bin.
Doch auch dann werde ich sie nie wieder ganz kurz schneiden lassen. Ich mag solche Veränderungen nicht an mir.
Dachte ich mir bis vor zwei Wochen!
Leider Gottes trage ich nun beinahe eine kurze Männerfrisur.
Wieder einmal war mir danach, meine Haare kürzen zu lassen. Sah ich doch im Internet immer so schöne Frisuren.
Es sollte ein angeschrägter Bob werden.
Eigentlich!
Fakt ist, dass die erste Friseurin mir diesen Schnitt. Und ich nicht ganz zufrieden war. Am nächsten Tag ging ich zu einer anderen Friseurin und fragte, ob sie „daraus“ etwas Peppiges gestalten könnte. Auch danach war ich so unzufrieden, dass ich am dritten Tag zu einer dritten Friseurin ging und den Befehl gab, sie ganz zu kürzen. Denn „so“ wollte ich nicht länger herum laufen.
Tja, mit Frisur „so“ hatte ich mir immerhin noch einen kleinen Pferdeschwanz machen können. Jetzt sehe ich aus wie ein Wischmopp und muss mich jedes mal neu beherrschen, sobald ich in den Spiegel schaue. Grauenhaft sehe ich aus derweil mein Umfeld ganz begeistert reagiert hat.
Ich habe mir nun geschworen, dass dies das allerletzte Mal gewesen ist. Von nun an muss ich mir eine andere Beschäftigung im Herbst suchen als mir Bilder von Frisuren anzuschauen.
Als Jugendliche wollte ich mich angleichen und cool sein, und da ich sowieso schon ein gewisses Maß an schauspielerischem Talent entwickelt hatte, um nicht großartig aufzufallen, gehörte das Verändern meines Äußeren einfach zur gesamten Maskerade.
Und auch heute scheint es immer wieder neu durchzukommen, dass ich auch so aussehen möchte wie andere. Nämlich „up to date“, cool, und modern.
Genauso verhält es sich mit dem Thema „Make-up“.
Ich schminke mich. Das ist ganz normal für mich.
Allerdings bin ich keine Schminkkünstlerin.
Mir reichen die Abdeckcreme wegen meiner dunklen Augenschatten, Wimperntusche, Kajal und Lippenstift. Alles in dezenten, bräunlichen Farben. Denn laut Frauenzeitschrift vor dreißig Jahren erfuhr ich, dass ich ein HERBSTMENSCH bin.
Warum auch immer. Dabei bin ich im Sommer geboren.
Allerdings gestehe ich, dass ich ab und zu mit Make-up experimentiere. Ich habe eine Freundin, die ungeschminkt niemals das Haus verlässt und jeweils mehrere Varianten von Make-up in ihr Gesicht zaubern kann.
Ich habe mir Videos auf YouTube angeschaut und versucht, die dort gezeigten Techniken umzusetzen. Gebracht hat es mir nur eines, nämlich die Erkenntnis, dass ich das alles gar nicht so handhaben kann, wie dort gezeigt. Ich sehe aus wie verkleistert und erkenne mich nicht wieder. Die Person, die da aus dem Spiegel schaut, das bin niemals ich persönlich. Außerdem juckt die ganze Schminke und ich werde schrecklich nervös davon.
Also, was das alles angeht, bin ich quasi nur einen halbe Frau.
Und mir reicht das völlig aus. Allerdings finde ich es schon erstaunlich, wie anders eine Frau aussehen kann mit Hilfe der entsprechenden Schminktechnik. So anders, dass ich selbst mir gut bekannte Frauen nicht erkenne, wenn sie sich anders schminken als ich es von ihnen gewohnt bin.
Mir fällt dazu eine kleine Anekdote ein, die mir vor etwa zwei Jahren passiert ist:
Wir bekamen per Post eine Einladung zu einem runden Geburtstag zweier Frauen. Sie hatten beschlossen, ihre Geburtstage gemeinsam zu feiern und hatten sich zusammen ablichten lassen.
Dieses Foto verarbeiteten sie nun zu einer Einladungskarte und schrieben auch hinein, wann und wo die Feierlichkeit stattfinden sollte. Ihre Namen ließen sie jedoch weg.
Ich machte ein Foto per Handy davon und schickte meinem Mann das Bild zu. Mir ließ diese Einladung nämlich keine Ruhe. Ich war nicht eifersüchtig oder so, es war einfach eine Unsicherheit, wer diese Frauen denn waren oder ob sich jemand mit unserer Adresse vertan haben könnte.
Das Ende vom Lied war, dass mein Mann lachend beinahe zusammenbrach und mir erklärte, dass ich diese Frauen doch sehr gut kennen würde.
Beide sind seit Kindheit an mit ihm eng befreundet, gemeinsam mit ihren Ehemännern, und auch ich habe oft genug Kontakt zu ihnen gehabt. Denn die eine Frau ist auch noch die Ehefrau unseres Trauzeugen, und die andere sehe ich täglich an der Grundschule, wenn wir unsere Kinder dort abholen.
Ich war fassungslos darüber, wie anders und fremd sie auf mich gewirkt haben. Alleine nur wegen ihrer völlig anderen Optik.
Etwas später geschah es, dass ich früh morgens an der Grundschule meinem Kind dabei half, den Tornister richtig aufzusetzen, als neben mir auf der Straße ein Wagen parkte, das Fenster herunterfuhr und mich eine Frau ansprach mit den Worten:
„Wie soll ich DAS nur finden?!“
Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte und was sie meinte, und mir entfuhr ein barsches:
„Und was genau ist nun IHR Problem?!“
Die Dame erschrak wohl und antwortete völlig:
„Ähm, Sveti? ICH bin es. Die …!“
Meine Scham stieg hoch und mir wurde heiß und kalt im Wechsel.
Es war eine der Freundinnen bzw. guten Bekannten von meinem Mann und mir, die ich gerade weiter oben beschrieben hatte.
Sie hatte eine Wollmütze auf, und ich hatte sie dadurch nicht erkannt. Ich entschuldigte mich sofort bei ihr und brach danach in ein schallendes Gelächter aus. Ich nehme an, dass sie das weniger lustig fand, denn sie fuhr ziemlich mit ziemlich säuerlichem Blick zur Arbeit. Zumindest deutete ich ihren Blick so.
Leider hatte ich danach keine Gelegenheit mehr dazu, mich noch einmal wirklich zu erklären, da sich unsere Wege zu selten kreuzen.
Ich war und bin jemand, der eigentlich keine Ahnung von Mode hat.