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Die Buchreihe Kritische Wälder

wird von Klaus Isele herausgegeben

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7431-9919-4

VORWORT

Was ist die Schweiz?

Das Matterhorn habe ich noch nie gesehen. Kann ich also ein echter Schweizer sein?

Die Frage muss sich meiner Meinung nach anders stellen lassen: Wie konnte das Matterhorn je derart zum Inbild der Schweiz werden? Ein Berg, der nicht einmal zur Gänze innerhalb der Landesgrenzen liegt und oft von Italien her bestiegen wird. Und dessen Spitze im und mit dem Kanton Wallis nicht früher als 1815 zur Eidgenossenschaft stieß.

Allerdings begann ebenfalls erst um diese Zeit herum der Alpen-Tourismus. Während zuvor zwar bereits Söhne des europäischen Adels auf ihrer ‹Grand Tour› durch Europa, einer Bildungsreise im klassischen Sinn, vermehrt Helvetien besuchten, kam der Bergtourismus hier erst nach den napoleonischen Kriegen richtig auf. Denn vor allem durch die Eisenbahn und den Ausbau des Straßennetzes, insbesondere auch der Pässe, wurde die Reise zu den Schweizer Alpen aus allen umliegenden Ländern damals bedeutend einfacher.

Es waren die Engländer, die fortan das Bild der Schweiz als Alpenland, wie es heute noch werbekräftig verkauft wird, prägten. Sie machten nicht nur den romantischen Blick auf die Berge en vogue – damit hatte 1732 bereits der Berner Albrecht von Haller mit seinem Langgedicht «Die Alpen» begonnen – , sondern auch das Bergsteigen selbst und den Aufenthalt in den Bergen. Mit der Lancierung von Pauschalreisen durch die Schweiz leistete Thomas Cook 1863 Pionierarbeit für den Tourismus, und die schwere Erstbesteigung des Matterhorns zwei Jahre später, die dadurch (und durch den Umstand, dass vier der Mitbesteiger bei der Rückkehr tödlich verunglückten) den Medien europaweit zum Inbegriff der Höheneroberung wurde, gelang ebenfalls einem Briten, bezeichnenderweise dem Maler und Illustrator Edward Whymper. Er kam zuerst auf der Suche nach schönen Motiven ins Matterhorngebiet und stieg im Gegensatz zu einer Konkurrenzgruppe eben nicht von Italien, sondern von Zermatt her auf. Überhaupt prägten britische Bergsteiger die sogenannten ‹goldenen Jahre des Alpinismus› zwischen 1854 bis 1865. Erst als Gegenbewegung darauf wurde der Schweizer Alpen-Club (SAC) 1863 gegründet – sieben Jahre nach Gründung des Alpine Club in London.

Auch die infolge der Alpenbegeisterung hervorgerufene Idee der ‹gesunden Schweizer Höhenluft› inmitten der robusten Schweizer Bergbauern ist eine Erfindung von Nicht-Schweizern: Der Niederländer Willem Jan Holsboer und der Deutsche Alexander Spengler gründeten 1868 in Davos die erste Klinik für Tuberkulosekranke, der hunderte ähnlicher Kureinrichtungen folgten. Erst danach verarbeitete die bis heute auflagenstärkste Autorin der Schweiz ihre Ansichten vom gesunden Bergklima: Johanna Spyris «Heidis Lehr- und Wanderjahre» (Goethes Büchern «Wilhelm Meisters Lehrjahre» und «Wilhelm Meisters Wanderjahre» nachgebildet) und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat» erschienen 1880 beziehungsweise 1881.

Wie uns Friedrich Schiller 1804 mit dem «Wilhelm Tell» den meistzitierten Nationalmythos hierzulande gegeben hatte, schufen die Engländer und andere ‹Auswärtige› also eigentlich erst die Marke ‹Schweiz – (unberührtes) Land der Berge›. Der Schweiz und den Schweizern blieb das Geschäftemachen. Als typisch kann dabei die Toblerone-Schokolade gelten, die nach dem nun bekannten und markanten pyramidenförmigen Gipfelkopf des Matterhorns gestaltet wurde (auch wenn die Söhne von Theodor Tobler später gerne behaupteten, die Form stamme von einem Szenenbild aus der Pariser Revue Folies Bergère, wo sich die Tänzerinnen während einer Vorstellung zu einer Pyramide geformt hätten) – auf der Längsseite der Verpackung taucht denn auch das Matterhorn auf; darin versteckt ist übrigens ein Bär als Hinweis auf die Landeshauptstadt Bern.

Dass aber dieses Land heute kaum mehr den romantischen Vorstellungen von einst gerecht zu werden vermag, zeigt eine Begebenheit aus dem Jahr 2011. Damals flog auf, dass die Migros, das größte Detailhandelsunternehmen der Schweiz, ihren Werbespot für «Heidi-Milchprodukte» in Neuseeland drehen ließ – mit neuseeländischen Kühen und neuseeländischen Darstellern vor neuseeländischer Kulisse.

Kann also das längst überholte Bild jener Schweiz noch für eine Schweiz stehen, die heute definitiv kein Bauernstaat mehr ist (noch etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig) und wo die Angst um Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor in den Städten und der immer größer werdenden Agglomeration sowie um den Finanzplatz zuverlässig dazu führt, dass Umwelt- und Landschaftsschutzbedenken wie Sondermüll über Bord gekippt werden und die ebenfalls oft hochgehaltene humanitäre Tradition (Rotes Kreuz und die Genfer Konvention sind da die Stichworte, ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert) eigensüchtig verdrängt wird, sobald es etwa darum geht, der eigenen serbelnden Waffenindustrie unter die Arme zu greifen und ihr neu wieder Waffenlieferungen an Länder gestattet ist, die die Menschenrechte missachten?

Anders gefragt: Ist eine Schweiz, die sich in ihren Tourismusprospekten stilisiert, als wäre man noch im 19. Jahrhundert, auch wenn man mit dem Auto vors Berghotel fahren kann und wo inzwischen über 60 Prozent der Skigebiete künstlich beschneit werden, nicht eigentlich längst tot? Ist sie nicht erstarrt in einem Bild, das lange zurückliegt und hauptsächlich von den Touristen beziehungsweise für die Touristen geprägt wurde?

Oder noch anders gefragt: Wenn diese tote Schweiz wie eine Maske ist, die man eigentlich ablegen sollte, weil sie stinkt, was würde man darunter finden?

Meine Hoffnung wäre: Augen, die genau hinschauen, und Ohren, die sich nicht leicht zuhalten lassen, eine wache Nase und viel sensible Haut. Nicht eine einbandagierte Mumie, sondern eine sich stetig wandelnde Schweiz, die ihre eigenen Ziele immer wieder kritisch hinterfragt, hinterfragen darf und soll. Und am eingeschlagenen Weg zweifeln.

In diesem Sinne fällt mir allerdings kein bleibendes Bild ein. Denn selbst Vergleiche wandeln sich, wenn auch sehr träge. Am nächsten kommt ihm vielleicht eine Vorstellung, die ich letzte Nacht geträumt habe: eine Fahne, die ihre Farben, ihre Symbole und selbst ihre Form ständig wechselt. Eine Fahne, die nicht einfach in jedem Wind weht, sondern die auch mal schlaff herunterhängen darf bei einer steifen Brise. Oder wie wild herumflattern bei Windstille. Und sie könnte sich auch in eine Wildente verwandeln, die davonfliegt.

Ohnehin ist die Hauptkultur eines Landes, soll sie nicht erstarren, meiner Ansicht nach ein einziges immaterielles Kulturgut: die Gabe, genau zu beobachten, differenziert zu denken, zu handeln und umzusetzen, was für die ganze Bevölkerung eines Landes und der Welt, in der dieses Land ja immer auch liegt, am besten wäre. Folglich stets mit demokratischem Recht und demokratischer Pflicht verbunden, was nicht bereits durch die Gegebenheit eines durchaus auch unbesonnen und mechanisch nutzbaren allgemeinen Wahl- und Stimmrecht als erfüllt betrachten werden kann. Also kein immaterielles Kulturgut, wie es die knackledernen Rechtsaußenkreise sehen, mit den immergleichen Jodelliedern (selbst wenn es neue Kompositionen sind) und den immergleichen Schwingfesten im Folklorestil, der weder historisch korrekt noch wirklich fortschrittlich ist.

Ja, wie bei der Gründung 1848 sollte die moderne Schweiz auch heute noch eine Idee sein, die sich stetig wandeln darf, die jene Einwände und Anregungen aufgreift, die seine und die von anderswoher kommenden besten Denker bieten, die Philosophen, die Schriftsteller, die Historiker, die ein Gestern auch mit heute vergleichen können und Visionen aufzeigen.

Meine Schweiz ist also eher ein Denkraum, in dem ich zum Beispiel mit Nietzsche und anderen Menschen von überall auf der Welt werden konnte, was ich sein will, als ein Stück Scholle, auf dem ich mich geborgen fühlen soll. Sicher, das gibt es auch: Jedes Mal, wenn ich mit dem Zug in Luzern einfahre, überkommt mich ein bestimmtes Heimatgefühl, selbst wenn ich seit drei Jahren in Bern wohne. Aber das darf nicht alles sein. Dieses Luzern wäre mir eine Art Heimat, ganz egal, ob es zu einer Schweiz gehörte, die nur die heutige Innerschweiz umfasste, oder in einem Land läge, das Europa hieße.

Aber um auf die Schweiz zurückzukommen, wie es sie gibt: Was bietet sie mir? Bin ich nicht doch ein wenig beeindruckt von ihr?

Doch, ja – und zwar weil ich eine Art Alternativ-Nationalist sein kann: Die Schweiz hat in der Geschichte eine so unbedeutende Rolle gespielt, sie hat so wenig Weltbedeutung wie kaum ein anderes Land. Wäre ich Brite, fühlte ich mich wohl in Versuchung gebracht, mich stolz zu fühlen auf ein ehemaliges Reich, in dem die Sonne wirklich nie untergegangen ist. Wäre ich Chinese, wüsste ich, dass meine Landesgenossen und ich fast ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachten. Lebte ich in Libyen, spürte ich, dass mir nichts geschenkt wurde. Mit Nationalstolz und mit Religion mobilisiert man die Massen. Während ich der Religion erst mit 16 Jahren zu entsagen vermochte, geschah das mit meinem linden Nationalstolz schon früher: Es ist viel leichter, als Schweizer nicht eingebildet zu sein denn als Franzose (was aber nicht heißen soll, dass wir auf unserem Logenplatz nur zusehen sollen; auch wir können oder könnten unsern Teil immer mit beitragen). Natürlich geht diese Voraussetzung zu einer einfacheren Bescheidenheit, wie Paul Nizon schon zeigte, mit einer gewissen Enge einher. Doch die gibt es in allen Provinzen aller Länder. Aber die Schweiz, das Ländchen, ist so klein, die Menge der weltweit als historisch wichtig betrachteten Männer und Frauen so gering (was nicht heißt, dass es in diesem Land für Querdenker nicht gefährlich werden könnte; auch die Schweiz ist ein scharfes Spieglein der Weltgeschichte), da dünkte es mich schon früh derart lächerlich, darauf stolz zu sein, dass ich Nationalfeiertage häufig im Ausland verbrachte oder nicht mitfeierte.

Wem das zu radikal vorkommt, sollte vielleicht einmal einem Schweizer Lokalpolitiker bei einer Erstaugustfeier zuhören: Standarddeutsch sprechende Politiker, die feierlich werden wollen, tönen gerne lächerlich. Realsatire ist in der Schweiz unter anderem die ungeschickte Fortsetzung mundartlichen Benehmens ins ‹Hochdeutsche›; meine Weigerung war schon früh die Weigerung, jemanden so feierlich zu nehmen, wie er sich gibt, und damit über jemanden zu lachen, der einem mit falscher Feierlichkeit imponieren möchte. Das gibt es überall, aber in der Schweiz hört man es bereits nach zwei, drei Sätzen.

Im Herzen wissen das viele Schweizer, selbst wenn sie es nicht zugeben. Darum verlagern sie an 364 Tagen im Jahr ihre Admirationsgabe und ihren Stolz und werden vielleicht Brasilien-Fan beim Fußball oder träumen von den amerikanischen Südstaaten, wenn sie mit Country-Musik aus dem Radio mit den VWs (die meistverkaufte Automarke der Schweiz) oder Skodas oder Subarus abends nach Hause fahren.

Was viele hier zusammenkittet, das ist nicht eigentlich der Nationalstolz, zu stark ist da der Föderalismus zwischen den Kantonen (und versucht ihn einmal eine Autorin wie Isabelle Kaiser zu ignorieren, indem sie konsequent auf Deutsch wie auf Französisch schreibt, irritiert sie die heutigen Kaum-Leser zutiefst), sondern eher die Angst vor dem Verlust all der Privilegien wie etwa einem funktionierenden Gesundheitssystem, relativ guter Bildung, moderner Infrastruktur und einem Wohlstand, der vor allem auf Auslandreisen viel wert ist. Was zusammenkittet, ist also eher die Verlustangst, die typische Angst einer Ingroup gegenüber einer Outgroup, zu der heutzutage häufig die Asylanten oder «Ausländer» gerechnet werden, die scheinbar immer «den Sozialstaat untergraben» – diese Angst gegenüber neuen Migranten ist auch oft zu beobachten bei Kindern von ehemaligen Migranten (in der Schweiz so genannte ‹Secondos›), die ‹es geschafft› haben und nicht wollen, dass ihnen dies nun genommen werde.

Was uns auf der positiven Seite zusammenhalten könnte, so hoffe ich, wäre doch die Kultur, die spezifische Kultur eines Landes – spezifisch insofern, als sie für dieses Land und seine Bewohner Geltung haben kann und darf. Das muss nicht eine Schweizer Kultur sein, die wäre, wie überall, wo man sie auf ein Land beschränken möchte, schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu definieren. Aber Kultur allgemein. Dass sie nicht nur eine Freizeitbeschäftigung sei, ist mein stärkster Wunsch. Erst das kulturelle Leben gibt uns das Gefühl, irgendwo wirklich dazuzugehören; sie erspart uns die existentielle Einsamkeit. Ohne sie fühlten wir uns vielfach als Einzelkämpfer, vereint höchstens durch gemeinsame finanzielle Ziele, die wir selten erreichen und deren Erfolge wir einander oft neiden oder missgönnen. Das passiert in der Kultur selten, weil sie für alle da ist, und auch, weil sie nicht immer nur Positives verspricht.

So sind denn die Texte in diesem Buch nicht eine Sammlung von Texten über die wunderbare Welt der Schweizer Kultur. Oft genug berichten sie eher von Nestbeschmutzten, von der Schwierigkeit, hier oder über hier Texte zu verfassen, vom Kampf der Literaten und Künstler im täglichen Leben, davon, dass manch einer lange beschimpft wird, bevor er zum Klassiker werden darf. Es gibt aber auch Texte über Schweizer Mythen, über den anderen sagenhaften Schweizer Berg, den Gotthard, über einen Mikrokosmos im Mikrokosmos Schweiz, über Ferrari-Liebhaber, einen Literaturnobelpreisträger, über Frauenrechte und Kultur von außen. Man kann erfahren, welche Vorteile die Schweizer Mundart hat, warum die Schweiz eigentlich zu wenig aus ihrer Kleinheit macht, wieso die so genannte Urschweiz heute noch so genannt wird oder wie hart das Leben in einer Wohlstandsgesellschaft für einige trotz allem sein kann. Alles erlebt und erschrieben zwischen Bergen und Bücherbergen, zwischen Seen und Tintenseen, mit Landschaften im Auge und Buchstabenwelten im Kopf. Und Kuhreigen durchmischt von Autolärm im Ohr.

Der Staat voll Ignoranten

Max Frischs ‹Fiche› und was wir daraus lernen können

Einen Staatsschutz und damit Staatsschutzakten, auch zu Privatpersonen, das habe doch jeder Staat, sagte uns damals der Deutschlehrer am Gymnasium. Nun, er war hoher Offizier des Schweizer Militärs und – außer in der Literatur – eher reaktionär eingestellt. Aber wer wie er argumentierte, hatte damals, und hat bis heute, nicht begriffen, warum die sogenannte ‹Fichenaffäre› in der Schweiz Ende der 1980er Jahre und zu Beginn der 1990er Jahre einen Skandal auslösen konnte.

Die Zeit des Kalten Krieges war am Ausklingen, und überall kochten die dicken Suppen hoch: Die DDR ließ die Mauern von ihren Bürgern einreißen, Gorbatschow unterdrückte den politischen Frühling in den Ostblockstaaten nicht mehr länger, Jugoslawien zerfiel in seine Teilrepubliken – und in der Schweiz, wo ja immer alles etwas kleiner ist, wurde in der Folge des ‹Falls Kopp› (die erste Bundesrätin der Schweiz trat wegen Weitergabe von Insiderinformationen Anfang 1989 zurück) immerhin der Fichenskandal aufgedeckt.

Sogar in der Schweiz also versuchte man in diesem allgemeinen Tauwetter eine Aufarbeitung des Kalten Kriegs, wenn auch nur sehr intern. Die Parlamentarische Untersuchungskommission im Fall Kopp nämlich hatte erstmals Zugriff auf die bislang kaum bekannten Staatsschutzakten. Es stellte sich heraus, dass der Schweizer Staat beziehungsweise sein Staatsschutz, welcher der Bundesanwaltschaft unterstellt war, während Jahrzehnten etliche Hunderttausend Bewohnerinnen und Bewohner des Landes polizeilich beobachten und ihre verdächtigen Aktivitäten ‹fichieren› ließ. ‹Fiche› ist das französische Wort für Karteikarte, und als Fiche wurde das Inhaltsverzeichnis eines solchen Dossiers (beziehungsweise die Hinweise auf anderswo vorzufindende Informationen) der Schweizerischen Bundesanwaltschaft bezeichnet. Der eigentliche Skandal aber war vielleicht tatsächlich nicht die Überwachung an sich (zumindest trifft man nach 9/11, also dem elften September 2001, mehrheitlich auf diese Meinung), sondern wie sie erfolgte und was aus ihr resultierte sowie was man daraus schließen musste und muss. Das lässt sich gut zeigen an der im Herbst 2015 veröffentlichten Fiche von Max Frisch (1911-1991), dem Schweizer Schriftsteller.

Just am ersten August 1990, also am Schweizer Nationalfeiertag, erhielt Max Frisch nach einem (nun jeder/m Erfassten möglichen) Antrag eine erste Version seiner Fiche. Eine erste Version deshalb, weil der Staat einen ‹Fichen-Delegierten› eingesetzt hatte, der allzu brisante Informationen, zumindest aus Sicht des Verantwortlichen, einschwärzte. Dass dies nicht nach genauer Anleitung oder einem genauen Konzept erfolgte, zeigte sich, als Frisch eine ungeschwärzte Kopie verlangte, die er zwar so nicht erhielt, aber dafür eine minder eingeschwärzte. Dies und der Zeitpunkt der Lieferung – die meisten Antragssteller bekamen ihre Fiche erste Monate danach – , hatte mit der Bekanntheit des Schriftstellers zu tun, was einige Hebel mehr und etwas schneller in Bewegung setzte. So konnte Frisch, vom Krebs schon stark gezeichnet und lebensmüde, sich noch einmal ans Schreiben machen und ein weiteres Mal zur Politik seines Geburtslandes Stellung beziehen. Er tat dies anhand der ersten Version der Fiche; die zweite traf erst nach seinem Tod ein.

Das Datum also, an dem Max Frisch seine Fiche erhielt, mochte symptomatisch sein, es hatte aber durchaus seine Brisanz: Es war eben nicht nur der jährlich wiederkehrende Nationalfeiertag, sondern auch der letzte vor dem großen Jubiläum von 1991, dem Jahr, das wegen des mythenumwobenen Rütlischwurs von 1291 (man lese seinen Schiller) zur 700-Jahr-Feier bestimmt worden war, obwohl es die Schweiz als modernen Staat ja erst seit 1848 gibt. Und Frisch sah sich eben unter anderem wegen seiner Fiche und der ganzen Ungeheuerlichkeit hinter dem Skandal dazu veranlasst, die offiziellen Feierlichkeiten von 1991 völlig zu boykottieren, zusammen mit weiteren 500 Kulturschaffenden, die ebenfalls überwacht worden waren. Das war das eine.

Was aber trieb den Schriftsteller, der in seinen letzten Monaten fast keine Zeitungen mehr las und sich vor allem auf das Musikhören und die Massagen freute, zum anderen zuvor noch an, einmal mehr ein Manuskript zu beginnen, sein allerletztes größeres Werk? – Es war die Fiche selbst, die schriftstellerische Energien bei ihm freisetzte, die Art, wie da sein Leben von 1948 bis 1990 vor ihm lag. Eine Art, die ihm, der doch gerade in seinem Werk immer wieder der Frage der Identität nachgegangen war, schlagartig klarmachte, dass eben nicht nur das Subjekt sich ein Leben zurechtlügen mochte, sondern dass auch und gerade von außen eine Biographie geschrieben werden konnte, die mit dem wahren Leben nun wirklich nicht viel zu tun hatte. Das musste Frisch, mit Blick auf sein schon zum Greifen nahes Nachleben, zusätzlich beunruhigen. Es musste ihm klarwerden, dass die Möglichkeit bestand, dass das, was in der Fiche stand, theoretisch eines Tages als das Wahre gelten würde, als die Essenz seines Lebens.

Aber was setzt man einem solchen Konstrukt entgegen, krebskrank und inzwischen völlig desillusioniert (das Manuskript wurde ja zu Lebzeiten nicht mehr publiziert, und in seiner letzten Veröffentlichung vor dem Tod schimpfte Frisch auf den verluderten Staat, mit dem ihn nur noch der Reisepass verbinde, den ich nicht mehr brauchen werde)? Das muss man sich meiner Meinung nach deswegen fragen, weil im Zusammenhang mit dem Manuskript mehrfach der Vorwurf auftauchte, Frisch habe praktisch das System der Akte übernommen, als er die Fiche zerschnitt und so zu einzelnen Einträgen Stellung bezog. Gerade aber der Umstand, dass er am Ende des Manuskripts noch Einträge anfügte, die aufzählen, was seiner Meinung und teilweise zu seiner Überraschung in der Fiche fehlt, weist darauf hin, dass er mit der Collage nicht zufrieden war, dass es ihm aber schlicht an der Energie fehlte, ein völlig anderes Werkformat anzugehen. Uns Nachfolgenden auf jeden Fall gibt es so eben zusätzlich zu den Kommentaren Frischs die Möglichkeit, das Faksimile seiner Fiche zu sehen, zu sehen, wie das tatsächlich eine Ungeheuerlichkeit war, was da im Namen des Staates getan wurde. Was das Leben des spezifisch hier Fichierten betraf, wie auch die Folgerungen, die man allgemein aus der Affäre ziehen durfte.

Was getan wurde … : Was verängstigte Frisch und muss uns heute noch verängstigen, wenn man das Leben des Schriftstellers in der Fiche betrachtet? Zuerst einmal verwundert einen schon auf der ersten Seite das Fehlen von allgemein bekannten Daten. Neben der fehlenden Fahrzeugnummer etwa (es gab Register dafür) oder dem ebenfalls fehlenden Vermerk über seine zweite Scheidung (konnte im Einwohneramt nachgesehen werden) muss vor allem das Fragezeichen der Bundesbeamten hinter dem Stichwort «Militär» verblüffen. Frisch hatte im Zweiten Weltkrieg insgesamt 650 Tage Dienst geleistet und darüber unter anderem in Blätter aus dem Brotsack (1940) oder Dienstbüchlein (1974) berichtet. Wenn schon diese direkte Leistung für den Staat den Staatswächtern nicht bekannt war (Ein Aktiv-Dienst ohne einen Tag im Arrest ist in der Taubenstrasse 16, 3003 Bern, nicht bemerkt worden.), wie mochte es da um Frischs späteres Engagement für den Schweizer Staat stehen, das zwar stetig kritischer wurde, mit dem er sich aber als wacher Bürger bewies, der bereit war, an der Zukunft seines Landes mitzuwirken? Tatsächlich musste der Schriftsteller der Akte entnehmen, dass ihn die offizielle Eidgenossenschaft hier für eine potentielle Gefahr für die Interessen des Landes gehalten und seinen kritischen Patriotismus mit Denunziation und Überwachung beantwortet hatte, wobei ausschließlich negativ beurteilte Ereignisse oder vielleicht noch negativ sich auswirkende Tätigkeiten ihren Eintrag in der Fiche gefunden hatten. Das Höchste, was Frisch in der Akte zugesprochen wurde, sind Handlungen, über die laut den Beamten «Nichts Nachteiliges bekannt» war. Was immerhin die Möglichkeit offen ließ, dass Nachteiliges noch auftauchen könnte. Nicht aber Wohlbeurteiltes.

Diese «Nichts nachteiliges» (sic) und Ähnliches bestätigten aber neben den eindeutig negativ gemeinten Einträgen vor allem, dass auch alle anderen Einträge irgendwie als negativ aufgefasst beziehungsweise gelesen werden mussten. Sie mussten also eigentlich etwas darüber sagen, warum man Frisch für eine potentielle Gefahr gehalten hatte. Genau hier aber wurde und wird der große Skandal daraus: Nirgends wird explizit ersichtlich, was denn die Beamten an Max Frisch so beunruhigte. Natürlich reiste er zum Beispiel 1948 an den Weltkongress der Intellektuellen für die Sache des Friedens in Polen, also zwar hinter den sogenannten Eisernen Vorhang; aber erstens fehlte er da am letzten Tag, weil er bei einer öffentlichen Beschlussfassung ohne Protokollverzeichnis, wer davon abwich, nicht mit dabei sein wollte – er überlegte sich dies also gut (und hatte dafür sogar ein Alibi, nämlich den bewussten Besuch des Schweizer Botschafters in Polen). Und zweitens gab er nach seiner Reise das Statement ab: Ich bin nicht für den amerikanischen Frieden und nicht für den russischen Frieden, sondern für den Friede. (sic)

Doch wenn man hier noch glauben mag, ein Kongress hinter dem Eisernen Vorhang sei halt schon ein Verdachtsmoment, der wird wohl eines Besseren belehrt bei einem Eintrag vom 20. September 1976: «aus‹National Zeitung› Nr. 293: Max Frischs Frankfurter Friedensrede›. F. wurde in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.» (sic) Denn was also musste Frisch hierbei und aus weiteren Einträgen in der Akte herauslesen? Diesen konkreten Beispielen gemein war eine einzige Sache: Das Einstehen für den Frieden (FRIEDE, allein diese Vokabel genügt, um dich verdächtig zu machen für den Staatsschutz.)