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Zweite, überarbeitete Ausgabe 2017
© Peter Döge
Umschlagsgestaltung: Peter Döge
Lektorat: textarbeit Kassel
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7448-0379-3
Keinen verderben zu lassen, auch nicht sich selber Jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das ist gut.
Bertolt Brecht
Der vorliegende Text berichtet von einer politikwissenschaftlichen Denk-Reise, die vor etwa 35 Jahren bei MARX begann und nun bei LAOTSE ein Ende findet. Zwischenstationen der Reise bildeten die Analyse des Zusammenhangs von Politik, Technik und Wissenschaft, des Zusammenhangs von Männlichkeit, Politik und Geschlecht sowie von Politik, Kultur und Normalität. Dabei kreiste die Reise im Wesentlichen immer um die folgenden Fragen: Was ist Politik? Warum ist Politik so wie sie ist? Was ist gute Politik, bzw. wie muss Politik aussehen, damit sie die Welt (wenigstens ein bisschen) besser machen kann?
Aber muss man die Welt überhaupt besser machen? Ein Blick auf den Zustand unseres Planeten zu Beginn des Jahres 2016 führt zu einem eindeutigen Ja: Die Zerstörung der natürlichen Lebensräume und mit ihr der Artenvielfalt schreitet ungehindert voran, Kriege gehören in vielen Regionen der Welt immer noch und schon wieder zum Alltag, Millionen von Menschen hungern, sind auf der Flucht, haben keinen Zugang zu Trinkwasser oder sanitären Anlagen, haben keine angemessene Unterkunft. Nach Angaben von UNICEF sterben allein 8.000 Kinder täglich an den Folgen von Unterernährung! Dieser Zustand ist vor allem Folge einer schon fast epidemisch um sich greifenden Gewinn-Sucht, begleitet von Gewalthandeln und grassierender Geistlosigkeit – Geistlosigkeit, die sich zum einen in Getrenntheits-Denken, zum anderen in einer wenig ausgeprägten Bereitschaft zum Nachdenken über das Denken ausdrückt. Dies alles führt zu einer Ethik des Mehr-Mehr, Billig-Billig und Ich-Ich, die mittlerweile annähernd sämtliche Lebensbereiche erfasst und schon totalitäre Züge angenommen hat, die gutes Handeln darin sieht, respektlos und ausbeuterisch mit Mensch und Natur umzugehen, die Menschen zu Kostenfaktoren und Natur zu einer leblosen Ressource degradiert.1
Die Welt ein bisschen besser machen würde demgegenüber bedeuten, einen ressourcenschonenderen und -sparenden Lebensstil zu pflegen, sich darum zu bemühen, Konflikte zwischen Menschen, Gruppen und Staaten gewaltfrei zu lösen und mehr Bewusstheit über die enge Verwobenheit unser allen Seins in die Politik und ins alltägliche Leben zu bringen. Aber wie soll das geschehen?
Die besten Antworten auf diese Frage sowie auf die Fragen nach dem Wesen und den Bestimmungsfaktoren von Politik, deren Beantwortung für die Grundlegung einer nicht-zerstörerischen politischen Handlungsethik wiederum von äußerst großer Bedeutung sind, habe ich auf meiner Denk-Reise ausgehend von der Begegnung mit MARX vor allem in meinen Begegnungen mit DARWIN und der Evolutions-biologie, einem Schmetterling, der mir aus den Befunden der Chaostheorie und der Quantenphysik entgegen flatterte, sowie in der Begegnung mit LAOTSE und der daoistischen Philosophie erhalten. DARWIN, der Schmetterling und LAOTSE gaben mir nicht nur befriedigende Antworten auf die eingangs genannten politikwissenschaftlichen Fragen, sondern zudem auch auf die von Immanuel KANT formulierten Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen? Was ist der Mensch? sowie auf drei großen metaphysischen Fragen des Woher (kommen wir), Wohin (gehen wir – nach dem Tod), Wozu (gibt es das alles). Mit dem vorliegenden Buch möchte ich meine Antworten auf diese Fragen weitergeben – denn besteht nicht der zentrale Sinn des Lebens im Weiter-Geben von Genen und/oder Memen?
DARWIN begegnete mir – einmal abgesehen von meinem Schulunterricht – zunächst zu Beginn meines Politikwissenschaft-Studiums bei der Lektüre von Karl MARX. Zu MARX und daran anschließend zur marxistischen Staatstheorie war ich auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage gestoßen, warum Politik so ist, wie sie ist, warum sie ausbeuterisch gegen Mensch und Natur ist, warum sie ausbeuterisches Handeln fördert und legitimiert.2 MARX sah in der DARWIN‘schen Theorie die naturgeschichtliche Grundlage seines Ansatzes zur Erklärung der Entwicklung von Gesellschaften: „Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes […]“.3 Wie DARWIN sieht auch MARX alles Seiende als etwas Gewordenes – und damit auch als etwas Veränderbares.4 In diesem Zugang zur Analyse des Sozialen liegt aus meiner Sicht nach wie vor das besondere Verdienst der MARX‘schen Soziologie und Philosophie – sie ist keine Kopfgeburt, sie bindet gesellschaftliche Entwicklung an die Bewegungsgesetze von Materie zurück.
Leider blieb MARX – ganz Kind seiner Zeit und vielleicht auch unbewusst Kind der jüdischen Kultur, der er entstammte – in einem historischen Teleologismus gefangen, der die gesellschaftliche Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin orientiert sah: auf den Kommunismus. Kombiniert wurde dieser Geschichtsteleologismus, der die Vorstellung von einem offenen und niemals endenden Evolutionsprozess in der Evolutionstheorie DARWINs fallen lässt, mit einem autoritären Politikmodell, das einer vermeintlichen Avantgarde – der Partei der Arbeiterklasse – die Führung der Massen in diese verheißungsvolle Zukunft übertrug. Und für den Fall, dass die Massen nicht wollen und das Proletariat seine historische Mission nicht erkennt, muss sie eben zum Glück gezwungen werden. In diesem Denkmuster ist bereits der ganze Unsinn begründet, der dann in den sogenannten real-sozialistischen Staaten politisch umgesetzt wurde.5
Eine zweite Denkfigur von MARX hatte auf den erstens Blick nicht ganz so dramatische Folgen für die Weltgeschichte, aber sie führte dazu, dass DARWIN und mit ihm auch der geringste Ansatz einer evolutionstheoretischen Reflexion menschlichen Handelns und Verhaltens aus den kritischen Sozialwissenschaften verbannt wurde und bis heute weitgehend verbannt ist. In der 6. FEUERBACH-These konstatiert MARX, dass das menschliche Wesen „[…] das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse […]“ sei.6 Das menschliche Wesen wird also ausschließlich durch die sozialen und kulturellen Umstände bestimmt. Es ist von Natur her eine Tabula rasa. Diese Hypothese von MARX ging im weiteren Verlauf der Geschichte eine ungute Verbindung mit der sogenannten behavioristischen Psychologie ein, die sich in den 1920er Jahren entwickelte und menschliches Verhalten ausschließlich als Reaktion auf Umwelt-Impulse betrachtete, wobei unterstellt wurde, dass gleiche Umstände bei allen Menschen gleiches Verhalten erzeugen. Im Zuge dieser milieutheoretischen Verengung der Sozialwissenschaften wurden menschliche Individuen mehr oder weniger vollständig aus der Analyse politischer Prozesse verdrängt, und so war in den mir begegnenden Arbeiten der marxistischen Staatstheorie weitgehend nur noch die Rede von Strukturen, Institutionen, Dispositiven oder Akteursnetzwerken, die den Staat zu einem kapitalistischen Staat machen und für Ausbeutung von Mensch und Natur verantwortlich seien. Soziale Prozesse werden verdinglicht, bestenfalls gibt es noch Subjekte, jedoch kein menschliches Individuum mehr.
Aber auch außerhalb der marxistischen Theorie wurde das Lebende aus dem Sozialen verbannt und so geht Niklas LUHMANN, der die Ent-Menschlichung in der Mainstream-Soziologie aus meiner Sicht auf die Spitze getrieben hat, davon aus, „[…] daß die sozialen Systeme nicht aus psychischen Systemen, geschweige denn aus leibhaftigen Menschen bestehen“.7 Er betrachtet es sogar als eine wesentliche Erkenntnisblockade, wenn Soziologie annimmt, „[…] daß eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe“.8 Kein Wunder also, dass eine auf diesen Konzepten aufbauende politische Ethik menschenleer und von daher – wie etwa bei RAWLS – eine abgehobene Kopfgeburt ist und bleiben muss.
DARWIN und mit ihm die Evolutionsbiologie sowie -psychologie bringen den Menschen wieder zurück in die Politikwissenschaft und machen Soziologie wieder zu dem, was sie eigentlich ist: die Wissenschaft vom gesellschaftlichen Miteinander lebendiger menschlicher Wesen.9 DARWIN und die Evolutionsbiologie tragen dazu bei, schlüssig erklären zu können, was Politik ist, warum es überhaupt Politik gibt, warum Menschen immer politische Wesen sind und warum diese Menschen immer wieder ähnliche Handlungsmuster reproduzieren – wie etwa die gegenwärtig zu beobachtende Fremdenfeindlichkeit. Die DARWIN‘sche Theorie führt dabei keineswegs – wie fortdauernd unterstellt – zu einem genetischen Determinismus, der Menschen zu Apparaten macht, oder gar zu einer sozial-darwinistischen Ethik. Vielmehr kann – aufbauend auf einem Naturverständnis, das Natur immer als verwobenes, dynamisches Netzwerk versteht, dessen Teil wir sind und mit dem wir Menschen unsere Evolutionsgeschichte teilen – aus der Begegnung mit DARWIN eine politische Handlungsethik entspringen, die sich auf Respekt gegenüber den menschlichen und nicht-menschlichen Mit-Wesen als gleichwertige Schöpfungen des Evolutionsprozesses gründet und die dabei keine Kopfgeburt bleibt.
Ausgehend von einem darwinistisch begründeten Menschenbild und Politikverständnis kann uns der Schmetterling – gemeint sind damit die Befunde der Quantenphysik, deren philosophische Interpretation sowie die Komplexitäts- bzw. Chaostheorie – dann erklären, warum Politik so ist wie sie ist. Der Schmetterling begegnete mir das erste Mal in einem verregneten Sommerurlaub im Altmühltal im Jahr 1999. In einer Buchhandlung in Eichstätt kaufte ich das Buch Eine kurze Geschichte der Zeit von Stephen HAWKING. Ich griff zu diesem Buch, da ich mich im Rahmen meiner Analysen staatlicher Forschungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik im Kontext der Debatte um Nachhaltige Entwicklung sowie im Zusammenhang meiner Arbeiten zur Technikkritik stets mit naturwissenschaftlichen Theorien beschäftigt habe.10 Das Buch von HAWKING gab mir den Anstoß, hier noch einmal in die Tiefe zu gehen, eine Gastprofessur an der Technischen Universität Braunschweig bot mir dazu einen angemessenen Rahmen.
Physik kann allgemein verstanden werden „[...] als die Wissenschaft von der Materie“.11 Auch Menschen sind Materie – Materie mit (Selbst-)Bewusstsein, die Peter CORNING zufolge versucht, den Entwicklungsprozess von Materie sinnvoll zu regulieren.12 Demzufolge müssen auch für Politik die Ordnungsprinzipien von Materie gelten, wie sie insbesondere von der Quantenphysik seit den 1920er Jahren und der Chaostheorie seit den 1960er Jahren formuliert werden: Unbestimmtheit, Uneindeutigkeit, Verwobenheit. Eine politische Theorie, die sich an den Befunden von Chaostheorie und Quantenphysik orientiert, bietet drei schlüssige Antworten auf die Frage, warum Politik so ist wie sie ist und löst – wie ich in meiner Studie Politik neu denken gezeigt habe – alle mechanistischen Vorstellungen von Politik und politischem Handeln auf.13 Der Schmetterling lenkt den Blick auf Handlungs- und Gruppendynamiken, die jeden politischen Prozess bestimmen. Er macht deutlich, dass sich aus diesen Dynamiken jederzeit Ungeplantes, Ungewolltes und Neues ergeben kann. Kontrolle ist stets eine Illusion, eine zielgenaue politische Planung sozialer Prozesse eine Unmöglichkeit. Der Schmetterling betont dabei weiterhin die Nicht-Trennbarkeit von Subjekt und Objekt: Mensch und Politik, Staat und Gesellschaft sind immer verwoben, das Handeln von Menschen, die alltägliche Mikropolitik, erzeugt stets die Probleme, die staatliche Politik bearbeiten muss und lösen soll. Politik ist dem Schmetterling zufolge so wie sie ist, weil die Menschen so handeln wie sie handeln, wobei die Bilder, die sich Menschen bei ihrer Entscheidungsfindung von der Wirklichkeit machen, ein weiterer bedeutender Bestimmungsfaktor von Politik sind.
Kann es in einer derart verwobenen und unbestimmten Welt überhaupt gute Politik geben? LAOTSE und mit ihm die daoistische Philosophie sagen eindeutig Ja, denn ihre politische Ethik baut auf einer Metaphysik auf, die wesentliche Befunde der Quantenphysik und der Chaostheorie ebenso enthält wie den prozesshaft-systemisch-kontextualisierenden Denkansatz DARWINs. LAOTSE begegnete mir zum ersten Mal bei der Lektüre von Fritjof CAPRAs Tao der Physik. Auch zu diesem Buch war ich vor allem durch meine Arbeiten zur Wissenschafts- und Technikkritik gelangt. Als ich daraufhin zum ersten Mal im Tao Te King las, blieb ich am zweiten Vers hängen, in dem ich genau das ausgedrückt fand, was der (Quanten-)Physiker Niels BOHR als Komplementarität fasste und was die neue Weltsicht der Physik ausmacht – die Einheit und gegenseitige Bedingtheit von Gegensätzen, eine durchgängige Nicht-Dualität:
Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, // so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt. // Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, // so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. // Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. // Schwer und Leicht vollenden einander. // Lang und Kurz gestalten einander. // Hoch und Tief verkehren einander. // Stimme und Ton sich vermählen einander.// Vorher und Nachher folgen einander. [...].14
Aber LAOTSE begegnete mir nicht allein, denn etwas später gesellte sich noch BUDDHA dazu. Diesen traf ich, als ich im Jahr 2001 mein Buch Geschlechterdemokratie als Männlichkeitskritik abgeschlossen hatte.15 In der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE las ich einen Überblicksaufsatz zum buddhistischen Konzept der Achtsamkeit.16 Dieses sprach mich sehr an, denn hier fand ich einen Anschluss zu meinem Verständnis von geschlechterdemokratischer Politik bzw. zu meinem Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit, das eine durchgängige Aufwertung von Vor- und Fürsorge in allen Bereichen sowie auf allen Ebenen von Gesellschaft und Politik fordert. Vom Konzept der Achtsamkeit ausgehend, beschäftigte ich mich in den folgenden Jahren mit buddhistischen sowie hinduistischen Schriften und gelangte über diese zum ZEN. In der Philosophie des ZEN fand ich zum einen die Nichtdualität des Schmetterlings, zum anderen aber auch LAOTSE wieder.
Hieraus resultierte eine nochmalige intensive Beschäftigung mit der daoistischen Philosophie, wobei sich bei mir mehr und mehr die Überzeugung verstärkte, dass die daoistische Philosophie eine besonders geeignete Grundlage für eine politische Ethik jenseits von Mehr-Mehr, Billig-Billig und Ich-Ich bildet. Denn im Gegensatz zu westlichen politischen Philosophien denkt LAOTSE Mensch, Natur und Kosmos immer als einen untrennbaren Zusammenhang. Das SEIN – die Gesamtheit aller Dinge und Wesen – ist ein verwobenes und dynamisches Ganzes. Gute Politik ist Politik, die sich an den Ordnungsprinzipien dieses SEINs ausrichtet. Dies ist aber nur dann möglich, wenn der (politisch) handelnde Mensch seine Körper- und Geisteskräfte durch Achtsamkeitspraxis entsprechend schult.
Aus den Begegnungen mit DARWIN, dem Schmetterling und LAOTSE sowie vor dem Hintergrund meiner langjährigen Erfahrungen in der Politik- und Organisationsberatung konnten nun drei Bausteine für gute Politik formuliert werden: systemisches Denken, dialogisches Kommunizieren und Achtsamkeit im Handeln. Systemisch denken bedeutet, sich immer in einem dynamischen Geflecht von Wechselbeziehungen zu anderen Menschen und zur natürlichen Umwelt zu denken. Dialogisch kommunizieren bedeutet, die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen von Begriffen sowie unterschiedliche Denkmuster und Wirklichkeitsdeutungen zu klären, zu reflektieren, nachvollziehen und verstehen zu wollen. Achtsamkeit im Handeln bedeutet, sich bei allen Entscheidungen seiner mentalen Bilder, seiner Vorannahmen sowie seiner Motive, Interessen, Werte und Emotionen bewusst zu sein.
Aber warum sollen wir überhaupt systemisch denken, dialogisch kommunizieren und achtsam handeln? Welches Motiv für gute Politik, für eine Politik der Genügsamkeit, Gewaltfreiheit und Bewusstheit kann es überhaupt geben? Eine Antwort auf diese für jede politische Ethik so entscheidende Frage gibt uns wieder die Begegnung mit DARWIN: Auch wenn es paradox erscheint – wir sollten uns um Nachhaltigkeit, Gewaltfreiheit und Bewusstheit bemühen, weil wir eigennützige Wesen sind. Eigennutz darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit Egoismus und auch nicht auf materiellen Eigennutz verengt werden. Eigennutz zielt generell auf subjektives Wohlbefinden. In der Kombination mit der buddhistischen Achtsamkeitspraxis und daoistischer Selbstkultivierung wird aus Egoismus weiser Eigennutz – Eigennutz aus einem zutiefst eigennützigen Nachdenken darüber, was Wohlbefinden ist und was Wohlbefinden in einer verwobenen Welt auf lange Sicht ermöglichen kann.
Auf das Konzept des weisen Eigennutzes stieß ich bei dem US-amerikanischen Philosophen Archie BAHM – gemeinhin als einer der Begründer der interkulturell vergleichenden Philosophie gesehen – sowie in den ethischen Überlegungen des DALAI LAMA. Weiser Eigennutz ist möglich, da wir Lebewesen sind, die über ihr Denken nachdenken können – und sogar nachdenken müssen, weil wir uns Sinn geben müssen, weil wir ein Sinn suchendes Wesen sind. Und so gehört zum weisen Eigennutz immer auch ein sinnvolles Bild vom guten Leben, das zugleich Grundlage von gutem Handeln, also auch von guter Politik, ist. Aus der Begegnung mit DARWIN, dem Schmetterling und LAOTSE lassen sich dann drei Bausteine eines guten Lebens formulieren, mit denen weniger Ausbeutung von Mensch und Natur, weniger Gewalt und mehr Bewusstheit möglich wären: Freude, Stille, Lebendigkeit. Mit der Darstellung dieser Bausteine guten Lebens endet die Denk-Reise in zusammenfassenden Überlegungen zum Konzept von Care als durchgängigem Leitbild guter Politik.
Für eine Denk-Reise, die interdisziplinär und interkulturell angelegt ist, folglich auch für die Lektüre des vorliegenden Buchs, braucht es einen offenen Geist – einen Geist, der Verunsicherungen zulässt und Ungewohntes aushalten kann. Der sich nicht an Althergebrachtes klammert, sondern neue Denkbewegungen als etwas Positives schätzt, der nicht aufhört, zu fragen: „Die Philosophie, die wir brauchen, muß flüssig und beweglich sein“.17 Aber gerade ein solch offener Geist ist mir bei meiner Denk-Reise äußerst selten begegnet. Begegnet sind mir vielmehr undurchlässige Fach- und Disziplinengrenzen sowie starre Ideologeme, die nicht in Frage gestellt werden durften und in denen ein interkultureller und interdisziplinärer Ansatz von Politiktheorie hierzulande kaum einen Ort hat. Begegnet sind mir Denk-Schulen, die quasi selbstreproduktiv immer dasselbe denken und diejenigen, die vermeintlich das Richtige denken, sagen und schreiben, mit Posten und Positionen belohnen. Und so ist es auch kein Wunder, dass politische Philosophie und Ethik in Deutschland weitgehend eurozentrisch denken, philosophische Ansätze aus Asien oder aus dem arabischen Raum kaum zur Kenntnis nehmen – und dies, obwohl der Zeitgeist immer wieder von Globalisierung und Interkulturalität schwadroniert.18 Kein Wunder auch, dass Politiktheorie und Politikanalyse weitgehend in der dualistisch-mechanistischen Denkkultur des 17. Jahrhunderts verharren. Die Aufforderung des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers William Bennett MUNRO aus dem Jahr 1927, die Befunde der Quantenphysik in die politikwissenschaftliche Theoriebildung einzubauen, ist hierzulande ebenso unberücksichtigt geblieben wie die Erkenntnis von Auguste COMTE, dass sich in der Soziologie als „organische Physik“ „[…] unmittelbare Beziehungen zu Physik, Chemie und Astronomie […]“ einstellen und ein Gesellschaftswissenschaftler immer transdisziplinär arbeiten sollte.19
Denk-Schulen sprechen auch Denk-Verbote aus. Solche Denk-Verbote in den Wissenschaften werden umso massiver, je weltanschaulicher ein Fachgebiet aufgeladen ist. Besonders deutlich zeigten sich mir Denk-Verbote dieser Art in der Geschlechterforschung. Zur Geschlechterforschung stieß ich wiederum über meine Analysen staatlichen Handelns in der Forschungs- und Technologiepolitik sowie auch durch meine Arbeiten zur Technik- und Wissenschaftskritik.20 Denn es immer öfter trat die Frage auf, warum die Handelnden in der staatlichen Forschungs- und Technologiepolitik sowie insbesondere in der naturwissenschaftlichen Forschung und den Ingenieurwissenschaften überwiegend Männer sind.
Allerdings konnten mir die politikwissenschaftliche Geschlechterforschung im Besonderen sowie die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung im Allgemeinen keine befriedigenden Antworten auf diese Fragen geben. Denn neben einem kruden Konzept von Geschlechterhierarchie, das Frauen und Männer als homogene Blöcke mit gegensätzlichen Interessen und Männer dabei durchweg als Täter und Frauen als Opfer versteht, begegnete mir vor allem die Denk-Figur der sozialen Konstruktion von Geschlecht, die insbesondere von den Arbeiten Judith BUTLERs genährt wurde. Das Theorem besagt – ganz im Sinne der Feuerbach-These von MARX –, dass Geschlechterunterschiede im Handeln, im Fühlen sowie in der körperlichen Erscheinung von Frauen und Männern ausschließlich das Produkt von Sozialisation, von Kultur seien. Biologische Geschlechtsunterschiede gebe es nicht, Männer und Frauen seien im Wesentlichen gleich, eine Angleichung der Sozialisationsbedingungen von Jungen und Mädchen würde ganz im Sinne der behavioristischen Psychologie zu einer Angleichung der Geschlechterrollen führen. Folglich wurde jeder Verweis auf körperlich-physiologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern – wie etwa die Verteilung der Gebärfähigkeit zwischen den beiden menschlichen Wesen, der Verweis auf Phänomene wie Menstruation, Schwangerschaft und Menopause, auf Unterschiede im Körperbau wie Muskelmasse und Beckenform, auf physiologisch bedingte Unterschiede wie den Stimmbruch oder im Erleben von Sexualität – von den mir begegnenden GeschlechterforscherInnen als Biologismus abgetan. Dasselbe Verdikt traf Verweise auf das nach wie vor unterschiedliche Berufswahlverhalten junger Frauen und Männer – insbesondere in solchen Staaten, die wie etwa Schweden seit rund 40 Jahren einen staatlichen Gleichheitsfeminismus praktizieren –, ebenso wie Verweise auf unterschiedliche Vorlieben und Lebensmuster, die sich paradoxerweise umso stärker ausdifferenzieren, je gleicher eine Gesellschaft die Sozialisationsbedingungen der Geschlechter gestaltet.21
Aber trotz – oder gerade wegen – all der Auseinandersetzungen im Rahmen meiner wissenschaftlichen und beratenden Aktivitäten in der Geschlechterforschung und -politik war die Befassung mit Gender ein wichtiger Meilenstein auf der Denk-Reise.22 Denn Geschlechterforschung führt – sobald von ihren ideologischen Scheuklappen befreit – zu einem äußerst differenzierten Verständnis der Konstruktion von und des Umgangs mit Unterschiedlichkeiten, davon ausgehend zu einem komplexen Verständnis des Zusammenhangs von Politik, Natur und Kultur sowie zu einer differenzierteren Sicht auf Bestimmungsfaktoren des Politischen und sozialer Dynamiken.23 Denn schließlich beschreibt das Geschlechterverhältnis das grundlegendste Verhältnis zwischen Menschen, mit dem seine Reproduktion und damit sein Fortleben als Spezies, aufs Engste verbunden ist: „Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen“.24 So war die Geschlechterforschung für mich Anstoß zur Beschäftigung mit den Arbeiten der Soziobiologie, die kritische Männerforschung war Ausgangspunkt von Überlegungen zum Zusammenhang von Politik, Normalität und Normalitätskulturen, die mich zum Konzept des Diversity Management sowie zum Ansatz der Multikulturalität führten25; die feministische Wissenschafts- und Androzentrismuskritik – insbesondere die Arbeiten von Evelyn Fox KELLER, Judy WAJCMAN, Carolyn MERCHANT sowie von Sandra HARDING und Carol PATEMAN – gab den Anstoß zum kritischen Nachdenken über den klassischen Politikbegriff sowie über die epistemologischen Grundlagen der politischen Ethik und der politischen Philosophie des politikwissenschaftlichen Mainstreams.26
Den im Folgenden dargestellten Denk-Weg konnte ich also nur beschreiten, weil ich mich sowohl in der Geschlechterforschung als auch in der Politikwissenschaft niemals einer Denk-Schule angeschlossen, Denk-Verbote niemals beachtet, sondern im Sinne guter Wissenschaft immer wieder Fragen gestellt habe.
Damit der Text auch wirklich „mein Buch“ bleiben und meine Gedanken unverfälscht wiedergeben kann, habe ich mich bewusst für Self-Publishing entschieden. Gegenüber der Ausgabe vom August 2016 ist die vorliegende an einigen Stellen leicht überarbeitet und durch aktuelle Beispiele ergänzt worden.
Der Forderung von Rabindranath TAGORE an eine lebendige Philosophie entsprechend, ist der Bericht von meiner Denk-Reise bewusst knapp gehalten und auf das Wesentliche fokussiert: „[…] Kompliziertheit ist Schwäche, ist Mißerfolg; Vollkommenheit aber ist Schlichtheit“.27 In diesem Sinne habe ich den Text auch in einer Weise verfasst, die sich am Stil meiner vielen Vorträge, die ich in den vergangenen Jahren immer wieder zu unterschiedlichen Teilaspekten des Buchs gehalten habe, orientiert. Für den Leser/die Leserin, die tiefer in die Gedankenwelt von DARWIN, dem Schmetterling und LAOTSE eintauchen möchten, habe ich am Textende weitergehende Anmerkungen und Überlegungen angefügt, in denen auch die genauen Fundstellen der Zitate zu finden sind. Weiterhin habe ich ein nach den Kapiteln sortiertes Verzeichnis von Literaturhinweisen erstellt.
Dank gilt an dieser Stelle den wenigen Menschen, die mir über die Jahre mit einem offenen Geist begegnet sind.
Dass systemisches Denken, dialogische Kommunikation und Achtsamkeit im Handeln auch im Privaten erfolgreich sein können, zeigt sich unter anderem an den mehr als 25 Jahren gemeinsamen Lebens, die ich mit meiner Frau teile. Der Wert ihrer Reisebegleitung lässt sich kaum in Worten ausdrücken – ohne ihre Begleitung hätte meine Denk-Reise niemals so stattfinden können, wie sie stattgefunden hat.
DARWIN sieht den Menschen als Produkt der Evolution. Evolution schreitet voran in einem Drei-Schritt von Mutation – Selektion – Reproduktion. Dieses Gesetzt gilt auch für die Entstehung des Menschen. In diesem Sinne ist der Mensch – wie alle anderen Lebensformen auf unserem Planeten auch – ein über Jahrtausende gewordenes Lebewesen. Evolution vollzieht sich über den genetischen Code eines Lebewesens und schreibt dort auf unterschiedlichen Ebenen erfolgreiche Handlungsmuster fest. Erfolgreich im „Kampf ums Dasein“ ist im Sinne DARWINs ein Lebewesen im Sinne der Evolution dann, wenn es sich fortpflanzen und reproduzieren kann:
[…] dass ich diesen Ausdruck [Kampf ums Dasein; PD] in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen von einander, als auch, – was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in Bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird.28
Um Zugang zu den benötigten Ressourcen zu erhalten, entwickeln die unterschiedlichen Lebewesen unterschiedliche Strategien. Erfolgreich ist aber nicht immer und überall die gleiche Strategie, sondern diejenige, die am besten an die jeweilige Umwelt angepasst ist. Die Umwelt eines Lebewesens besteht dabei aus dem Klima, den Landschaftsformen, der Bodenbeschaffenheit und den anderen Lebewesen. Gerade diese kontextspezifische Angemessenheit von Überlebens- und Reproduktionsstrategien bezeichnet DARWIN als „Survival of the Fittest“. Fit bedeutet niemals stark, sondern angepasst: „Je nach den äußeren Bedingungen ist mal das eine, mal das andere überlegen. Wer der Stärkere ist, kann nicht absolut gesagt werden“.29 DARWIN ist mit seinem Konzept vom „Kampf ums Dasein“ keinesfalls ein reaktionärer Denker, sondern muss vielmehr als Theoretiker einer radikalen Kontextualität gesehen werden. Die enge Verbindung von körperlicher Stärke und sozialem Erfolg im „Sozial-Darwinismus“ geht also nicht auf DARWIN zurück, sondern ist eine Erfindung seiner Interpretatoren.
Auch der Mensch war und ist der natürlichen Selektion unterworfen. Auch Homo Sapiensdie