Für Petra
Für Demis, Dominik und Anna
Für Sina und Ronja
Für meine größten Fans, Vanessa und Josephine die mich immer wieder anstacheln, neue Geschichten zu schreiben.
Für Basti, der am Sonntagnachmittag zu mir am Telefon sagte, ich solle in einer halben Stunde wieder anrufen, denn er wolle Maromier in Ruhe fertig lesen, und er kann jetzt unmöglich aufhören zu lesen.
Für Coop und Rita.
Ein ganz großes Dankeschön an Tascha und Rapha. Die beiden haben ihr Bestes gegeben, alle Fehler auszubessern. Leider habe ich dann, sobald ich die korrigierte Fassung wieder in den Händen hatte weiter geschrieben was das Zeug hält.
Wenn ihr also einen Fehler findet, egal ob Rechtschreib-, Komma-, Grammatik-, Linguistische-, Zeit- oder Ablauf Fehler, schreibt diesen auf einen Fünfhundert Euro Schein und schickt ihn mir zu. Nach Erhalt und Prüfung eurer Info, geht das Sorgerecht für den Fehler sofort an den Adressaten über. Mehrfacheinsendungen sind erlaubt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Ein besonderer Dank geht an die Sina. Deine Bilder sind der Wahnsinn. Jedes Mal wenn ich im Buch deinen Falken aufschlage, meine ich der fliegt mir entgegen.
Zu guter Letzt, tausend Dank an Bekki aus dem Paradiesgarten, für deine Zeit, Hilfe und dem letzten Feinschliff.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2017 Lotter Thomas
Illustration: Sina Lotter, Thomas Lotter
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7448-6187-8
Die Magie ist eine Kunst, und in der Kunst liegt Magie. So kann uns ein Lied verzaubern, es macht uns fröhlich oder gar mutig. Die Kunst zu gestalten und zu erfinden. Die Kunst des Bildes. Jeder hat eine Gabe, die einen weniger und die anderen mehr.
Jeder kann mit dem Bleistift ein Bild malen, einige können sogar naturgetreue Bilder malen, aber nur wenige können den Augenblick einfangen.
Genauso ist es mit der Magie der Zauberei. Jeder kann, wenn er möchte, einen Kartenzauber erlernen, einige können sogar einen Kochlöffel schweben lassen, aber nur wenige können wirklich sinnvolle Magie, wie Warzen abbeten, Fieber senken, Schmerzen nehmen und Ängste bannen, oder mit dem inneren Auge sehen, was keiner sieht.
Die Magie des Zaubers ist also was ganz Normales, wenn auch nicht jeder die gleiche Begabung hat und sie oft nur als Spinnerei abgetan wird.
Ihr glaubt mir nicht? Noch nie verzaubert worden? Zum Beispiel vom bestaussehenden Jungen oder von dem schönsten Mädchen, das es für dich auf der Welt gibt?
Ja, in der Liebe liegt jede Menge Magie. Aber das hier soll kein Buch werden, das sich mit dem Zauber der Liebe befasst. Na ja, ein wenig vielleicht.
Doch jetzt gebrauchen wir die Magie die uns allen innewohnt. Die Magie der Phantasie und Vorstellungskraft.
Leider wird es immer schwieriger die Kinder hinter dem Fernsehgerät hervorzulocken und raus in die Natur zu bringen.
Also plant Papa Thomas den ganzen Samstagabend eine Schatzsuche. Er nimmt ein Pergament und malt mit Tusche den Grundriss der Burgruine Hohenfreyberg.
Thomas kennt aus unzähligen Besuchen auf der Burg ein geheimes Loch in einer Wand mit einer tiefen Rinne. An dieser Stelle malt er ein großes, schwarzes X auf die Karte.
Anschließend wird die Karte noch auf alt gemacht, indem er sie über eine brennende Kerze hält, um sie zu vergilben. Danach wird die Karte eingerollt, einen roten Wollfaden drum herumgewickelt, ein paar Tropfen heißes Wachs zum Versiegeln darauf und fertig ist die Schatzkarte.
Jetzt packt er noch ein wenig Glitzerkram in ein Holzschächtelchen, mit ein paar Gummibärchen und fertig ist der Schatz.
Diesen Schatz muss er nur noch morgen, vor allen anderen, in der Wand auf der Burg verstecken.
Außerdem muss seine Tochter Maromier morgen irgendwie die Schatzkarte finden und es muss so aussehen, als hätte die Karte schon seit Jahren darauf gewartet, von Maromier gefunden zu werden.
Papa nimmt die zusammengerollte Karte, steckt sie in eine Flasche und legt sie im Garten unter die Wurzel einer alten Esche. Dann geht er ins Bett.
kurz nach halb sieben, die Schlafzimmertür wird aufgerissen und Maromier hüpft Papa auf den Bauch.
„Papa, Papa!“, ruft sie.
„Pfffffffff“, prustet Thomas, „untervoneinembauch!“
„Was?“, fragt Maromier.
„Geh bitte runter von meinem Bauch und sag mir dann, was los ist“, stöhnt Papa.
„Ach so, aber schau mal, was ich im Garten gefunden habe“, sagt Maromier und hält ihrem Vater die Flasche vor die Nase. „Schau, ich habe eine Flaschenpost im Garten gefunden!“
Mama Petra, die jetzt auch wach ist, fragt nur: „Wie bitte, eine Flaschenpost in unserem Garten?“
„Ja“, meint Maromier und zeigt Petra zum Beweis die Flasche mit dem eingerollten Pergament.
Thomas meint nur: „Ja, dann werden wir mal probieren, die Post aus der Flasche zu bekommen; gleich nach dem Frühstück.“
Das ganze Haus duftet nach frisch gebackenem Korianderbrot, das Petra heute Morgen gebacken hat.
An dem runden Tisch sitzen Maromiers ältere Brüder Demis und Dominik, die Eltern Petra und Thomas und natürlich Maromier beim Frühstück. Die Katzen liegen auf der Fensterbank und dösen.
Das Pergament aus der Flasche geht von einem zum anderen.
Demis sagt: „Das ist eine Landkarte, das erkennt man an der Windrose. Das hatten wir erst neulich in Erdkunde.“
Dominik meint daraufhin: „Sieht eher aus wie... wie ein Bauplan von einer Burg.“
Maromier fragt in die Runde: „Kann mal einer von euch vorlesen, was da steht? Die Zeichen sehen zwar aus wie Buchstaben, aber ich kann sie nicht lesen.“
Petra nimmt das Pergament in die Hand und erklärt: „Kein Wunder, dass du es nicht lesen kannst, denn die Schrift ist in altdeutsch.“ ...Und sie denkt sich: „Oh Mann, Thomas, hast du da viele Fehler reingehauen.“ Sie liest laut vor: „Burg Freyberg, Anno 1646, Geheimversteck.“
Thomas schlürft genüsslich seinen Kaffee und murmelt laut vor sich hin: „Hmm, hmmmm, Burg, hmm, Geheimversteck, hmm, Burg, Geheimversteck? Wofür? Wozu? Für was?“
„Na für was wohl, Papa?“, ruft Maromier, „Na, für Gold, Silber, Diamanten und Perlen. Wir müssen sofort los und den Schatz finden, bevor ihn ein anderer findet!“
Kurz nach halb neun, macht sich Familie Liebkrempel auf den Weg zur Burgruine Hohenfreyberg. Es ist ein wunderschöner Morgen und der Tag verspricht heiß zu werden. Der Weg führt von Pfronten-Ried über Pfronten-Rehbichl, Richtung Zell. Hoch zu den Burg Ruinen Hohenfreyberg und Eisenberg.
Irgendwo aus einem Wäldchen ruft ein Kuckuck. Petra schüttelt sofort ihren Geldbeutel, so dass das Kleingeld nur so klimpert. Die Jungs schauen ihre Mutter nur fragend an. Petra erklärt: „Wisst ihr, wenn der Kuckuck ruft, soll man das Geld klimpern lassen, dann hat man das ganze Jahr Geld in der Tasche.“
Demis meint: „Kannst du uns auch etwas Kleingeld geben? Nur für den Fall, dass der Kuckuck nochmals ruft.“ Und schon stehen die Kinder vor ihrer Mutter Schlange, um ein paar Groschen zu bekommen.
Ein wenig später, die Liebkrempels sind schon am Burgberg angekommen, hören sie aus dem Wäldchen ein Tock-tock-tock-tock-tock und die Kinder lassen ihr Geld in ihren Hosentaschen klimpern.
Papa lacht und meint nur: „Tock-tock-tock-tock-tock ist kein Kuckuck, sondern ein Specht und nicht jeder Vogel bedeutet Geld.“
Maromier fragt: „Hat denn jeder Vogel eine Bedeutung?“
Thomas antwortet: „Bestimmt, aber leider kenne ich nur ein paar. Wenn die Schwalben tief fliegen, gibt es Regen; oder wenn im Frühjahr die Gimpel nahe ans Haus kommen, kannst du davon ausgehen, dass es bald wieder kalt wird und es anfängt zu schneien;
ein Storch auf dem Dach bringt Kindersegen und wenn die Raben laut krähend fliegen, liegt irgendwo ein totes Tier. Eure Uroma hat sogar geglaubt, dass jemand gestorben sei, wenn die Raben fliegen und krähen. Ob das alles stimmt? Keine Ahnung.“
Weiter wandern sie den steilen Berg hinauf. Dann endlich, auf halber Höhe, hören sie aus Richtung Schlossweiher Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck und aus fünf Hosentaschen hört man das Kleingeld nur so klimpern. Na, wenn dieser Tag sich nicht schon jetzt gelohnt hat!
Die Felder ringsum erinnern an ein fließendes Blütenmeer aus gelben Löwenzahn. Leicht bergauf geht es durch den Wald. Weil es noch früh im Jahr ist, lässt das zarte Grün der Buchen noch jede Menge Licht bis zum Boden durch, wo Schlüsselblumen blühen und die ersten grünen Farne sich ausrollen. Inmitten der Farne stehen junge Schachtelhalme, die fast so aussehen wie kleine türkische Minarette.
Am Wegesrand blühen weiße Buschwindröschen, während sich im Wald blau leuchtende Leberblümchen wiegen.
„Du Papa“, fragt Maromier, „sollten wir nicht langsam die Schatzkarte rausholen?“
Demis meint: „Sag mal Pa, hast du auch eine Hacke und ‘ne Schaufel dabei zum Graben?“
Dominik: „Und wo sollen wir anfangen zu graben?“
Petra nimmt die Karte zur Hand und sagt bestimmend, während sie auf einen Punkt der Karte zeigt: „Hier, hier machen wir erst mal Brotzeit. Denn mit vollem Bauch sucht es sich besser.“
Also gehen sie durch das Haupttor im Westen, quer durch die Burg, am Burgfried vorbei zur Geschützplattform im Osten. Sie setzen sich hin und Mutter packt die Brotzeit aus.
Papa sagt, dass er mal „müssen muss“, und verschwindet im Nordteil der Burg. Hier versteckt er den Schatz, in einem Loch in der Wand. Pa schiebt das Kistchen so tief in das Loch hinein, dass es,
Schmunzelnd geht er zurück. Die Kinder lachen und sind fröhlich. Demis und Dominik haben sich aus Stöcken Schwerter gebastelt und kämpfen gegen unsichtbare Feinde, während Maromier mit ihrer Mutter die Karte studiert.
„Na endlich Papa, bist du wieder da, ich glaube, ich weiß wo wir hin müssen.“
Sie nimmt ihre Eltern bei der Hand und geht zielsicher durch die Burg. Petra ruft ihren Jungs noch zu: „Demis, Dominik wollt ihr auch mit?“ Doch die antworten nur: „Leider nein, wir müssen doch die Burg verteidigen.“
Also gehen nur Maromier, Petra und Thomas zu dem Versteck. Die Eltern sind erstaunt, wie sicher Maromier das Versteck anhand der Karte findet.
„Papa, kannst du mich mal hochheben, sodass ich in das Loch der Wand gucken kann?“
Thomas hebt die Kleine hoch, sie schaut in das Loch, greift hinein und zieht eine Holzschachtel heraus. Dann guckt sie nochmals rein und sagt: „Du Papa, da ist noch was drinnen, aber ich komme nicht ran.“
Verdutzt lässt Thomas Maromier auf den Boden runter und schaut Petra fragend an. Diese zuckt nur unwissend mit den Schultern. Vorsichtig tastend, greift Thomas in das Loch. Er muss sich ganz schön lang machen, dann spürt er etwas. Er greift zu und zieht einen Lederbeutel aus der Wand.
Thomas öffnet den Lederbeutel und zieht ein sehr, sehr altes Buch heraus. Zuerst denkt er, Petra hätte sich einen Scherz erlaubt. Fragend sieht er sie an, doch Petra schiebt nur ihre Lippe vor und schüttelt verneinend den Kopf.
Neugierig stehen die drei da und starren auf das Buch.
Auf dem Einband aus Leder ist ein Pentagramm eingraviert. Vorsichtig öffnet Thomas das Buch. Auf der ersten Seite steht mit einer feinen Mädchenhandschrift in Tusche geschrieben:
Tagebuch von Anna Johanna Stick - Aufzeichnung zur Heilung und Abwendung von Unheil.
Die zweite Seite beginnt mit den Worten:
Hallo Maromier,
ich habe heute Nacht von dir geträumt. Mein Name ist Anna Johanna, ich war bis gestern Nacht noch gefangen auf der Burg und sollte heute Morgen als Hexe verbrannt werden. Doch die Tiroler haben heute Nacht die Burgen Hohenfreyberg, Eisenberg und den Falkenstein in Brand gesetzt. Ich konnte mich in dem Durcheinander befreien.
Maromier, ich bin eine gute Hexe und ich weiß auch, dass du eine gute Hexe sein wirst. Ich vererbe dir hiermit all mein Wissen in meinem Tagebuch und wenn du mich brauchst, teile ich meine Träume mit dir.
Thomas und Petra schauen sich fragend an. Sie wollen das Buch schon wieder wegpacken, da sie glauben, es könnte mit schwarzer Magie zu tun haben.
Doch Maromier blättert um und liest laut weiter: Herr und Frau Liebkrempel, Eltern von Maromier, das ist kein Buch der Schwarzen Magie. Habt keine Angst! Es ist wichtig, dass Maromier dieses Buch bekommt, daraus liest und lernt.
Ich stehe hier in eurer Vergangenheit und sehe Maromier als große weise Hexe in der Zukunft.
Nun zu dir Maromier, lies bitte jeden Tag eine Seite des Buches, lerne sie wenn nötig auswendig und lebe danach.
Jetzt bringe ich dir die erste Zauberformel bei: Lächle über das ganze Gesicht, bis deine Augen strahlen. Das Lächeln muss von Herzen kommen. Spüre den Wunsch, mit deinem Lächeln alle anzustecken. Sieh deinem Gegenüber in die Augen und sprich die magischen Worte:
Bitte darf ich…, oder
Bitte kann ich…,
und die Formel endet immer mit einem Danke. Also probiere es gleich mal aus.
Maromier sieht ihre Eltern an und strahlt über das ganze Gesicht. Ihre Augen leuchten und sie spricht: „Bitte darf ich das Buch behalten?“
Petra und Thomas nicken nur mit einem Lächeln.
Maromier umarmt beide und sagt dann „Danke“.
… sind Leseratten. Es gibt im ganzen Haus keine Ecke, in der sich nicht die Bücher stapeln.
Ist es nicht herrlich, sich über die Helden in den Büchern zu unterhalten? Am Anfang des Buches denkst du manchmal noch: „Oh Mann, ist das ein dicker Wälzer.“
Dann betrittst du fremde Orte, lernst neue Kulturen kennen, fieberst mit deinen Helden mit, fühlst ihre Ängste, Schmerzen, Liebe. Noch ehe du dich versiehst, ist das Buch auch schon wieder zu Ende - schade. Maromier hat so ihre Probleme mit ihrem neuen Buch. Sie hat es komplett durchgeblättert doch es sind nur die paar Seiten vom Anfang beschriftet. Der Rest besteht aus weißen Seiten. Aber enttäuscht ist sie nicht. Sie hat ja ein „Hexenbuch“ bekommen, und das wird bestimmt mit Zaubertusche geschrieben worden sein. Morgen wird sie sich schlau machen um herauszubekommen wie man die Tusche wieder sichtbar machen kann.
Sie denkt sich: „Immerhin sollte mir das Buch Zaubersprüche beibringen, ...und auf jeden Fall das Fliegen auf Besen, …und wer weiß, was sonst noch alles? Da muss ich mich schon ein bisschen anstrengen.“
„Aber ohne zu lesen ins Bett? Geht ja gar nicht!“ denkt sie. „Okay, dann muss ich eben wieder Prinz Bongerich zum Einschlafen lesen.“
Langsam überkommt Maromier der Schlaf: Sie sieht sich, wie sie heute wieder durch den Wald auf die Ruine Hohenfreyberg geht. Sie hört den Kuckuck rufen. Maromier kommt aus dem Wald heraus und sieht beide Burgen in der Abenddämmerung brennen.
Plötzlich fasst ihr jemand von hinten an die Schulter und sagt sanft: „Wie ich sehe, hast du mich in deinen Träumen gefunden, Maromier.“
Vor ihr steht eine junge Frau, in einem einfachen grauen Kleid. Ihre pechschwarzen Haare fließen um ihre Schultern und ihre braunen Augen strahlen wie polierte Knöpfe. In ihnen spiegelt sich der Schein der brennenden Burgen wieder. Von ihrem roten Mund geht etwas freundlich-freches aus.
Maromier sieht sich erstaunt um. Ihr Blick sucht nach einer Erklärung. Sie fragt: „Was ist denn hier los!?“, und Anna antwortet: „Die Tiroler brennen die Burgen Freyberg, Eisenberg und den Falkenstein nieder. Sie wollen nicht, dass die Burgen intakt den Schweden in die Hände fallen, wenn sie hier durchziehen.“
Maromier sagt: „Aber die Schweden werden hier gar nicht vorbeikommen“, und Anna erwidert: „Ich weiß Maromier, aber Maromier, du kannst die Vergangenheit nicht verändern. Du kannst nur deine Zukunft beeinflussen.“
„Du Anna?“, fragt Maromier, „sag mal, müssen wir uns eigentlich nicht verstecken? Ich mein' ja nur, schließlich solltest du ja heute als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.“
Anna lächelt wieder schelmisch. „Nein Maromier, das ist nur ein Traum“, und zum Beweis zwickt sie Maromier in den Arm. „Na, was gespürt?“
Maromier antwortet erleichtert: „Nö, aber sag' mal, Anna, was hat es denn mit dem Hexenbuch auf sich? Da steht ja gar nichts drin.“
Anna erwidert: „Maromier, das ist ein Hexenbuch. Hexenbücher liest man nicht einfach so wie Liebesromane. Hexenbücher lehren dich, ohne dich zu überfordern. Sie schreiben sich selber, Stück für Stück, Kapitel für Kapitel. Die erste Lektion hast du bereits erfolgreich gelernt, also kannst du sie auch Lesen.
Die zweite Lektion ist das Auswendiglernen von langen Texten oder Gedichten. Sie ist deshalb so wichtig, da viele der Zaubersprüche und Formeln endlos lang sind.
Am besten lernst du auswendig, indem du den Text einmal im Sitzen liest und dann den Text nochmals liest und zwar im Rückwärtsgehen. So kannst du alles lernen, schnell und genau. Und du wirst dich immer daran erinnern.“
Langsam verschwindet Anna vor Maromiers Augen. Zum Abschied zwinkert Anna mit ihren braunen Augen und ruft ihr zu: „Und wenn du mich brauchst, findest du mich in deinen Träumen.“
Das Feuer knistert, die Funken fliegen in den Himmel und werden eins mit den Sternen. Familie Liebkrempel sitzt rund ums Lagerfeuer am Kögelweiher.
Coop, Petras Bruder, spielt auf der Gitarre und Tascha, seine Freundin, singt dazu: „Ich möchte wieder an die Nordsee.“
Coop und Tascha sind ein hübsches und gleichzeitig ein buntes Paar. Wenn beide nicht gerade Dienst tun, im Krankenhaus und beim Arzt, verbringen sie viel Zeit damit, professionell Musik zu machen. Allerdings jeder in einer anderen Band.
Die Kinder sind ausgelassen und singen die Lieder von Tascha und Coop mit, egal ob der Text auf Deutsch, Bayerisch, Englisch oder Denglisch (= Mischung aus Deutsch und Englisch) ist.
Es riecht nach geröstetem Brot, das die Kinder mit Stöcken über das Feuer halten.
Heute Nacht ist eine besondere Nacht, denn im ganzen Allgäu ist der Strom ausgefallen. Kein elektrisches Licht stört die Dunkelheit und keine Wolke verdeckt den Nachthimmel. Die Sterne funkeln wie ein Meer aus Diamanten. Ein warmer Wind trägt den Duft von frischem Heu in sich.
Am Waldrand bewegen sich kleine Lichter auf und ab. Dominik sagt zu Demis: „Du, ich glaube, wir kriegen Besuch“, und zeigt auf den Waldrand.
Mama Liebkrempel stupst ihre Tochter an und sagt: „Schau mal, Maromier, da sind Glühwürmchen.“
Gebannt schaut Familie Liebkrempel dem Treiben der Glühwürmchen zu.
„Du, Papa“, fragt Maromier, „was sind denn eigentlich Glühwürmchen?“
„Weißt du, Maromier“, antwortet Thomas, „Glühwürmchen sind eigentlich Leuchtkäfer. Sie benutzen das Licht, um miteinander zu reden. Sie produzieren das Licht selbst in ihrem Unterkörper, mittels Biolumineszenz. Und...“
„Papa!“, rufen die Jungs dazwischen, „Weißt du eigentlich keine Geschichte über die Glühwürmchen?“
„Na klaro“, antwortet Thomas, „also passt mal auf: Eure Urgroßmutter hat mir mal erzählt, Glühwürmchen wären Irrlichter und suchende Seelen von verstorbenen Menschen, die den Weg ins ewige Licht Gottes oder den Himmel nicht finden.
In ihren Geschichten gab es gute Irrlichter, die dem verirrten Wanderer in der Dunkelheit den richtigen Weg leuchteten.
Auf alle Fälle gab es freche Irrlichter, die den Tunichtguts und den Säufern den falschen Weg leuchteten. Immer weiter in den dunklen Wald oder ins Moor, bis diese in ihrer Verzweiflung, ihrem falschen Lebenswandel abschworen und Besserung gelobten.
Jedenfalls: für ein „Vergelt`s Gott“ von einem Wanderer war das Irrlicht erlöst und konnte so seinen Frieden finden und in den Himmel einziehen.
Aber es gab auch durch und durch böse Irrlichter, die unvorsichtigen Fuhrleuten, welche nachts in der Fremde ohne Laterne unterwegs waren, den Weg ins Moor leuchteten, wo sie samt Ross und Reiter untergingen und von da an selber als Irrlichter ihr Dasein auf der Erde fristeten, bis sie erlöst wurden.“
„Du, Papa“, fragt Dominik, „glaubst du an Geister?“
Thomas guckt auf die Uhr, es ist jetzt 22 Uhr 30. Er zieht die Stirn in Falten und überlegt, wie er anfangen soll.
„Hm, also an Geister im Allgemeinen glaube ich nicht. Außerdem habe ich nur einen einzigen kennen gelernt und das beweist rein gar nichts.“
„Wie?“, meint Demis. „Du hast einen Geist kennengelernt? Das ist ja ends cool! Erzähl doch mal!“
„Na, so ends cool war das auch nicht und es ist schon ewig her, noch bevor ich eure Mutter kennengelernt habe. Es war in einem Haus, hier ganz in der Nähe, einem ehemaligen Schulhaus. Ich übernachtete damals bei einer Bekannten, der Uta.
Es war Winter. Draußen war es bitterkalt und bei Uta im Zimmer war es auch nicht viel wärmer. Mitten in der Nacht bin ich dann durch ein Geräusch aufgewacht, das sich anhörte, als wenn jemand auf einem Amboss hämmert. Ich hörte eine Stimme zwischen den Schlägen:
„Die Kette,
die ich für dich geschmiedet habe,
hält mich hier auf ewig fest.
Kein Schlüssel,
den ich je gefertigt,
passt in dieses Schloss.“
„Am nächsten Morgen habe ich Uta gefragt, ob sie denn vergangene Nacht nichts gehört habe. Uta hat dann nur mit einem knappen „Nein“ geantwortet.
Aber das sei ganz normal, hatte sie angefügt, weil dieser Geist bis jetzt jedem, der in diesem Haus übernachtet hatte, nur einmal erschienen sei. Außerdem wäre er harmlos.
Das alte Schulhaus wurde auf den Grundmauern einer Schmiede aufgebaut, die im 30 Jährigen Krieg abgebrannt ist. Alle in dem Haus, der Schmied, sein Sohn und die kleine Tochter seien verbrannt.
Uta hat dann auch erzählt, dass die kleine Tochter so um die fünf Jahre alt sei und hin und wieder hell erleuchtet durch die Decke gefallen wäre.
Der Sohn stehe in klaren Vollmondnächten im Garten und starre mit seinen leuchtenden Augen auf die Burg. Er spreche voller Elend:
„Hände, die heilen
Lippen so rot
Mein Herz auf der Burg
Erwartet den Tod.“
„Ach Thomas“, unterbricht Petra, „jetzt hör aber auf mit deinen Gruselgeschichten, sonst können die Kinder heute Nacht nicht schlafen und bekommen Alpträume.“
„He, wo ist denn Maromier hin?“, will Demis wissen. Dominik antwortet: „Da, vor dem Waldrand bei den Glühwürmchen!“
Maromier beschreibt mit ihren Händen einen Bogen und wie durch Geisterhand folgen die Glühwürmchen ihren Bewegungen. Aus den einzelnen Lichtpunkten entsteht das Bild einer jungen Frau.
„Nanu“, sagt Maromier, „was machst du denn hier? Oder träume ich schon?“
„Nein“, antwortet Anna, „heute ist nur eine besondere Nacht.“
Maromier: „Bist du etwa auch ein Irrlicht, so wie mein Papa das erzählt?“
Anna: „Aber nein. Das mit den Irrlichtern ist doch Quatsch, den haben die alten Weiber schon zu meiner Zeit den kleinen Kindern erzählt. Der Grund war der, dass die Kinder nicht nachts alleine ins Moor laufen und sich verirren oder gar in schlechte Gesellschaft kommen sollten. Denn Halunken gab es schon immer.“
Maromier: „Ja aber was ist denn nun so besonders an dieser Nacht?“, und Anna antwortet: „Na, dass es so dunkel ist.“ Und beide Mädchen lachen.
… wurde 1626 in einem kleinen Bauernhaus als siebtes Kind in Pfronten-Weißbach geboren. Schon als sie auf die Welt kam, war sie was ganz Besonderes. Ihre Geburt war sehr schwer für ihre Mutter Johanna.
Johanna lag nun schon fast einen Tag in den Wehen. Mit jeder Wehe dachte sie, es könne nicht schlimmer werden.
„Johanna“, hatte die Hebamme schon vor Stunden zu der werdenden Mutter gesprochen, „dein Kind hat sich nicht gedreht.“
Johanna wusste, was das zu bedeuten hatte, nichtsdestoweniger kämpfte sie um das Leben ihres Kindes und um ihr eigenes. Aber mit jeder Wehe wurde sie schwächer.
Jetzt lag sie da, nach der letzten Wehe, nass vom Schweiß, hohlwangig, die geschlossenen Augen tief in den Höhlen. Ihre Lippen waren rau und eingerissen.
„Mayrin“, so rief man die Hebamme, „Mayrin, ich kann nicht mehr.“ Sie wollte nur noch sterben, erlöst sein von den vielen Schmerzen, die sie schon so lange an einem Stück ertragen musste.
Die Hebamme hatte schon einige Mütter im Kindbett sterben sehen und jedes Mal schnürte es ihr das Herz zu. Entweder sie starben bei der Geburt, weil sich das Kind nicht gedreht hatte, oder sie starben, weil sie zu schwach und ausgezehrt waren. Manche verbluteten auch nach der Geburt ihrer Kinder. Auch wenn die werdenden Mütter all diese Komplikationen überlebten, so starben doch noch einige von ihnen am Kindbettfieber.
Die Mayrin trocknete nun Johanna den Schweiß von der Stirn und flüsterte: „Johanna, ich lasse jetzt den Pfarrer kommen.“
Dass die werdende Mutter diese Geburt noch überleben würde, daran verschwendete die Hebamme jetzt keinen Gedanken mehr. Sie wusste, wann sie mit ihrem Können am Ende war. Hier, bei dieser Geburt, half nur noch ein Wunder, wenn überhaupt.
Nun galt es die Seelen von Johanna und des noch ungeborenen Kindes den Weg in den Himmel zu bereiten. Doch dazu musste erstmal der Pfarrer auftauchen, um Johanna die Beichte abzunehmen.
Sie ging hinaus zu Johannas Mann Martin. Dieser starrte sie erwartungsvoll an.
„Und, Mayrin, was ist es? Ein Büblein oder eine Föhl (= in Pfronten ein Mädchen)? Kann ich endlich rein zu Johanna?“
Doch die Mayrin schüttelte nur den Kopf. „Martin, du musst jetzt den Pfarrer holen. Die Johanna schafft es nicht mehr. Beeil dich um ihrer Seele willen.“
Martin wurde ganz blass. „Nein, Mayrin, das darf nicht sein!“, schrie er die Hebamme an.
„Martin, du musst den Pfarrer holen, beeil dich jetzt endlich, das Lebenslicht deiner Frau erlischt, also los mit dir! Wenn du deine Frau im Jenseits wiedersehen willst, hol in Gottes Namen jetzt den Pfarrer!“
Martin wusste, dass die Mayrin Recht hatte. Seine Johanna würde sterben, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Er rannte die zwei Kilometer zum Pfarrhaus und hämmerte an die Tür.
Als die Tür aufging, waberte Martin der typische Geruch von Schweinebraten mit Majoran, Lauch und Zwiebeln entgegen. Normalerweise hätte der Geruch bei Martin sofort Hunger ausgelöst, doch in seiner Situation drehte es ihm den Magen um, und er erbrach sich vor der geöffneten Tür.
„Gott zum Gruße, Martin. Was ist denn los mit dir?“, fragte der Pfarrer besorgt.
Martin würgte noch völlig außer Atem hastig seine Antwort. „Pfarrer, wir haben keine Zeit, pack dein Zeug zusammen, die Johanna stirbt!“
Gerade ein paar Minuten nachdem Martin los geeilt war, um den Pfarrer zu holen, schrie Johanna.
„Aaahhhhhhrrrr, Gott hilf!“
Die Mayrin war sofort bei Johanna am Bett. Johanna zitterte am ganzen Körper und ihre Lippen waren nur noch weiße Striche in ihrem Gesicht. Sie krümmte sich und jeder Muskel in ihrem ausgemergelten Körper war bis zum Zerreißen gespannt. Sie schrie und fauchte wie ein wildes Tier.
Plötzlich war Ruhe. Aus der Mutter war ein Kind geglitten, ein Mädchen. Johanna war dem Tode schon sehr nahe. Ihr Atem ging nur noch flach und sie war nicht mehr ansprechbar.
Endlich kam der Pfarrer und die Hebamme drängelte: „Schnell, Herr Pfarrer, bevor es zu spät ist, es ist nur noch wenig Leben in der Johanna.“
Der Pfarrer bereitete sich vor. Er legte seine Stola um die Schultern und nahm dann ein Gefäß mit Chrisam, zur letzten Ölung, aus seiner Tasche.
Währenddessen nabelte die Hebamme das Neugeborene ab und wusch es. Dann rieb sie noch Johannas Bauch. Als sie jedoch das Baby der Mutter anlegte, ging das Fieber sofort zurück und die Kräfte kamen wieder. Johanna öffnete die Augen und ein Lächeln umrandete ihr Gesicht. Ihre Haut war weiß und wächsern, doch ihr Atem ging jetzt regelmäßig und ruhig.
Mayrin fragte: „Johanna, wie geht es dir?“
„Mir geht es gut, ja. Ich fühle mich nur noch etwas schwach, aber ich bin glücklich“, antwortete Johanna.
Die Augen der Hebamme wurden groß, fragend sah sie den Pfarrer an. „Habt Ihr das gesehen? Sie war doch schon mehr tot als lebendig! Habt Ihr das schon mal gesehen?“
Der Pfarrer schüttelte nur ungläubig seinen Kopf. „Nein, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Doch glaubt mir, Mayrin, das war ein Wunder, ein von Gott gewolltes, wunderbares Wunder.“
Da der Pfarrer und die Hebamme glaubten, dass die Geburt ein Wunder gewesen sei, wurde das Kind auf den Namen Anna getauft, der Mutter Marias, und auf Johanna, der Mutter des Kindes.
Es waren schlechte Zeiten, denn es herrschte schon seit Jahren Krieg, der als Dreißigjähriger Krieg in die Geschichte eingehen sollte. Der Kaiser forderte alle Männer und Knaben zum Kriegsdienst. Die Soldaten, ob die eigenen oder die feindlichen, fraßen das ganze Land leer, verwüsteten fruchtbare Äcker und schlachteten das Vieh der Bauern. Es herrschte überall Hunger und Gewalt. Und dann kam die Pest.
Die kleine Anna weinte, denn sie hatte Hunger, doch niemand im Haus gab auf ihr Jammern Antwort, oder kümmerte sich um die Kleine. Was Anna noch nicht begreifen konnte, war die Tatsache, dass alle tot waren. Noch ehe Anna Johanna ein Jahr alt war, war sie schon eine Waise.
Sie krabbelte heulend hinaus in den Garten, weiter auf den Weg, der am Garten vorbeiführte, direkt in die Hände des Pfarrers.
Der Pfarrer wollte gerade Reißaus nehmen, denn gegen die Pest halfen nur drei Mittel: Schnell, weit, lange weg.