ÜBER DEN AUTOR
Sven Rohde, geboren 1961, lebt als freier Autor, Coach und Musiker in Hamburg. Er hat verschiedene Bücher geschrieben, dies ist seine erste Biographie. Ruth Rupp lernte er anlässlich einer Reportage für das Magazin stern kennen und fragte sie nur wenige Tage später, ob sie ihm ihr Leben erzählen würde. Sie willigte sofort ein.
von Ulrich Tukur
Wann genau ich Ruth kennenlernte, kann ich gar nicht mehr sagen. Es muss so um 1934 gewesen sein, jedenfalls zu einer Zeit, als ich noch Theater spielte und mich auf irgendeiner Hamburger Bühne verausgabte, vermutlich der der altehrwürdigen Kammerspiele. Ruth war damals eine begeisterte Theatergängerin und passionierte Après-Theater-Kneipenbummlerin. Und so konnte man gar nicht umhin, mit ihr Bekanntschaft und endlich Freundschaft zu schließen.
Ich war einigermaßen verblüfft, einen Menschen kennenzulernen, im gleichen Jahr wie mein Vater geboren, der den Irrsinn des Zweiten Weltkriegs, die Apokalypse des Zusammenbruchs und die dunklen Hungerjahre danach erlebt und durchlebt hatte, so wach und detailreich davon erzählen konnte und dabei so jung und neugierig geblieben war.
Als wir im Jahre 2004 die völlig unbekannte und fast noch nie gespielte „Dreigroschenoper“ auf den Spielplan des St. Pauli Theaters hievten (das einzige Theater, das schon stand, als es Ruth noch nicht gab), schlug ich vor, einige Szenen des schrägen Stücks mit Personen zu besetzen, die aus dem wirklichen Leben kamen und denen man sofort ansähe, dass sie Originale waren. Da sagte mir die junge Frau, die ich im Jahr zuvor in Italien geheiratet hatte, wie aus der Pistole geschossen: „Nimm die Ruth, die muss nichts spielen, die ist vom Leben ausgebildet, die kann singen, hat Humor, sieht umwerfend aus und wird bestimmt mitmachen“. Ruth war damals 77, und ich dachte, wenn sie Brechts „Und die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht...“ singt, eine alternde Ballerina, ins Licht eines einsamen Bühnenscheinwerfers getaucht, wird das nicht nur sehr bewegend sein, es wird die Zuschauer dort unten im Dunkeln von ihren Sitzen reißen.
So geschah es, und Ruth Rupp begann eine beeindruckende Alterskarriere als Schauspielerin, die vierzehn Jahre später, mit 91 Jahren, immer noch anhält.
Dass all das, was sonst unerhört verklingt und verloren geht, nun in eine Form gebracht und erhalten wird, ist ein großes Glück. So erfährt der Leser in den hier vorliegenden Lebenserinnerungen, dass Humor, Herzensbildung und Bescheidenheit die wesentlichen Voraussetzungen sind für ein glückliches, gelungenes, erfülltes Leben.
Geborgene Kindheit
in Pommern und am Rhein
Ein kleines Mädchen fährt mit dem Roller über die Rheinpromenade in Emmerich. Eine zierliche Figur hat es und strohblonde Haare, die zu einem Pagenkopf geschnitten sind. Vergnügt gibt es dem Roller Schwung, der auf dem Asphalt so gut vorankommt. Links an den Anlegestellen liegen die Binnenschiffe, die im letzten deutschen Hafen vor der holländischen Grenze auf ihre Abfertigung warten, rechts die Kneipen, in denen die Schiffer ihre Wartezeit verbringen. Manchmal tönt lauter Gesang heraus, und das Mädchen spitzt seine Ohren. Dann erklingt ein bekanntes Lied, eine vertraute Stimme: „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben? Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran.“ Das kleine Gesicht leuchtet auf. „Papa“, sagt das Mädchen, lächelt und fährt weiter. Jetzt weiß es, wo er ist, und kann es der Mutter sagen, die sie auf Erkundung geschickt hatte: „Ruthchen, geh doch mal deinen Vater suchen“. Es ist ja ganz gut zu wissen, wo der Ehemann mal wieder abgeblieben ist.
Friedrich Rupp ist Zollbeamter. Er liebt es, wenn die Kapitäne der Binnenschiffe ihn nach den Formalitäten der Zollabfertigung einladen, gemeinsam einen zu heben. Und das Preußenlied ist sein Trinklied. Hedwig Rupp, seine Frau, ist die geduldigste, die er sich wünschen kann. Nie stellt sie ihren Mann zur Rede, wenn er mal wieder mit unsicheren Schritten in die Wohnung am Rheinufer heimkehrt. Auch wenn er drei Tage nicht zu Hause erscheint oder von anderen an die Wohnungstür getragen werden muss – er hört kein tadelndes Wort, muss erst recht keine Szene über sich ergehen lassen. Und die kleine Ruth, Ruthchen, lernt früh, wie entspannt das Leben sein kann, wenn man die Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen einfach akzeptiert. Zumal die Männer.
Ruth ist das einzige Kind von Hedwig und Friedrich Rupp, geboren am 13. April 1926 in Belgard, einer Stadt zwischen Stettin und Stolp nahe der Ostsee. Hedwig Rupp ist eine ehemalige Diakonissenschwester und 27, als die Tochter zur Welt kommt, Friedrich Rupp zwei Jahre älter und Soldat. Er hat sich für zwölf Jahre bei der Kavallerie verpflichtet. Ruthchen nimmt er morgens mit in die Ställe, wo sie mit ihren Lippen immer so schnaubt, dass ein Lätzchen ihr Kleid vorm Vollsabbern schützen muss. Die Bilder von damals sind ihr auch fast 90 Jahre später noch präsent, genauso wie das Gefühl zwischen den Zähnen, wenn sie in eine sandige Mohrrübe beißt. Die Mutter hat sie im eigenen Garten geerntet und gründlich unter der Pumpe gesäubert, aber die Tochter zieht sie, wenn sie unbeobachtet ist, einmal durch den Sand: Sie mag das Knirschen zwischen den Zähnen so gerne.
Als Friedrich Rupps Zeit bei der Reichswehr abläuft, hat er zwei Möglichkeiten: in den Staatsdienst gehen oder sich vom Staat auszahlen lassen und sich mit dem Kapital selbstständig machen. Ihm schwebt vor, eine Gastwirtschaft zu eröffnen. Aber seine Frau ist nicht nur geduldig, sondern auch klug. „Ohne mich“, sagt sie kurzerhand. Und so wird Friedrich Rupp Beamter, zunächst bei der Feuerwehr, was ihm aber zu aufreibend ist, und zwei Jahre später beim Zoll.
Friedrich Rupp ist 1,63 Meter groß, aber kräftig. Er liebt es, seine Frau mit der einen, seine Tochter mit der anderen Hand hochzuheben und als starker Mann zu posieren. Er hat eine schöne Stimme, singt gerne und kann ausgezeichnet tanzen. Auf Bällen ist er in seinem Element. Anstandshalber absolviert er den ersten Tanz mit seiner Frau und hält dann alle anderen Frauen in Bewegung. Damals sind zwischen den Tänzen Spiele üblich. Eines davon geht so: Es fängt an zu regnen, und die Herren müssen die Damen vor dem Regen schützen. Zuerst legen sie der Dame ein Taschentuch auf den Kopf, dann ziehen sie ihr Jackett aus und legen es der Dame um die Schultern. Ganz zum Schluss steht das Wasser schon so hoch, dass sie ihre Hosenbeine hochkrempeln, die Dame hochheben und auf den Armen durch das Wasser tragen müssen. Bei einem Ball hat Friedrich Rupp eine sehr üppige Dame im Arm und muss die nun hochheben. Hedwig Rupp, mit ihren 1,44 Meter klein und zierlich, kann sich einen Kommentar nicht verkneifen: „Das hast du nun davon, dass du immer mit allen anderen Frauen tanzt.“
Sie hält ihn an der langen Leine und weiß, dass er, ein Mann voller Kraft und Energie, nicht im möblierten Zimmer sitzt und erbauliche Bücher liest, wenn er manchmal für Monate in einer anderen Dienststelle eingesetzt ist. Ruth Rupp erinnert sich an einen besonderen Besuch: „Da stand eine Dame vor der Tür. Es stellte sich heraus, dass mein Vater mit ihr eine Affäre gehabt hatte, ohne davon zu erzählen, dass er eine Familie hat. Das wollte die Dame nun ergründen. Sie hatte meiner Mutter sogar ein Geschenk mitgebracht, eine sogenannte Filetdecke, die zu jener Zeit sehr modern war. Die lag dann jahrelang bei uns auf dem Wohnzimmertisch. Meine Mutter ist einfach zur Tagesordnung übergegangen. Sie war eine sehr lebenskluge, eine tolle Frau, und mein Vater wusste, was er an ihr hatte. Deswegen hat die Ehe gut funktioniert.“
Hedwig Rupp ist schlagfertig. Als ihr Mann eines Nachts sturztrunken von Freunden die Treppe hochgetragen werden muss, was nicht ohne Lärm abgeht, wird sie am nächsten Morgen von der Nachbarin angesprochen. Maliziös fragt die, was das denn für ein grauenhaftes Gepolter gewesen sei. Ob der Gatte ...? Weiter kommt die Nachbarin nicht. „Stellen Sie sich vor“, gibt Hedwig Rupp ohne Zögern zurück, „wir haben vergangene Nacht doch tatsächlich ein Klavier bekommen.“
Als Vater ist Friedrich Rupp streng und unnahbar. Umarmungen, Zärtlichkeit oder gar Küsse gibt es nicht. Manchmal sagt seine Frau zu ihm: „Ach, umarm uns doch mal“, aber das tut er nicht. Später als Heranwachsende bekommt die Tochter kräftig Schläge. Das gilt als normal und angemessen. „Ich erinnere mich aber an eine Situation mit sechs oder sieben, als ich im Bett lag und noch zu schlafen schien“, erzählt sie heute. „Da hat mein Vater mir ganz sanft einen Kuss auf die Stirn gegeben, weil er dachte, ich schlafe noch. Ich sollte das aber nicht wissen.“ Die Mutter dagegen ist ausgesprochen liebevoll, aufgeschlossen und interessiert. Sie liest viel, auch Zeitungen, und ist Mitglied in der Buchgemeinschaft. Zum Einschlafen singt sie und betet, als Diakonissenschwester sehr christlich erzogen. Sie kann sehr schön vorlesen, ein Talent, das sie der Tochter vererbt. Märchen sind Ruthchens Liebstes, vor allem die „Gänsemagd“. Wenn sie ihr beim Abendessen vorgelesen wird, auf dass sie besser esse, kullern dicke Tränen in die Milchsuppe.
Ruthchen ist ein lebhaftes Kind, wissensdurstig, unternehmungslustig, fröhlich, heiter. Und vollkommen ohne Angst. Die Bindung zur Mutter ist eng und unverbrüchlich, sie gibt ihr ein Urvertrauen ins Dasein und in die eigene Unverletzlichkeit. Was sie ihr Leben lang begleiten wird: Sie ist die Kleinste. Aber auch das macht ihr die Mutter vor – wie man fehlende Zentimeter an Körpergröße mit Witz und Schlagfertigkeit, vor allem aber mit innerer Größe vergessen macht. Das Mädchen spürt es instinktiv: Wer klein ist und leicht übersehen wird, muss eben anders auf sich aufmerksam machen. So ist sie oft auch die Lustigste. Und singt bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit klarer und schöner Stimme. Das Vortragen von der Mutter, das Singen vom Vater: Für die Bühne ist sie gut ausgestattet. Und das zeigt sich früh.
1929 zieht die Familie von Pommern ins Rheinland. Der Vater tritt in Duisburg seine erste Stelle als Beamter an. Ruthchen ist drei Jahre alt – und am Tag des Einzugs in die Duisburger Wohnung auf einmal im Umzugstrubel verschwunden! „Ruthchen ist weg“, heißt es voller Schrecken, die Aufregung ist groß, wo ist nur das Kind? Die Eltern finden sie schließlich in einem Nachbarsgarten, inmitten einer großen Kinderschar. Dort steht sie ganz alleine und singt den anderen vor: „Häschen in der Grube“. Im Alter von drei Jahren ihr erster Auftritt.
Bei den Rheinländern mit ihrem offenen Wesen gefällt es dem kleinen Mädchen sehr. Die Nachbarn im Erdgeschoss des neuen Hauses haben ein Radio, und weil sie fröhliche, gastfreundliche Leute sind, darf sie bei ihnen mit Kopfhörern Radio hören. Am liebsten sanfte, zarte Klänge: „Engelein-Musik“.
Der technische Fortschritt macht große Sprünge. Ein spektakuläres Ereignis, das die Menschen auf die Straßen treibt und auf das kleine Mädchen einen gewaltigen Eindruck macht, ist der Flug eines Zeppelins. Eine große Belastung in Duisburg sind allerdings die Industrieabgase. Immer wieder liegt eine fingerdicke Schicht von rostrotem Staub auf dem Fensterbrett. Darunter leidet Ruths Gesundheit. Ohnehin sehr klein, wird sie immer blasser und dünner. Der Vater, trotz aller Kraftgebärden ein ängstlicher Mensch, ist voller Sorge und ruft immer wieder: „Aus dem Kind wird ja gar nichts.“ Also wird sie zu Oma Auguste aufs Land geschickt. Die wohnt in Alt Schlawe in Pommern, ist eine liebe Omi und dazu gelernte Schneiderin, die schöne Kleidchen näht.
Schon die Fahrt dorthin, später in vielen Sommern wiederholt, ist ein Genuss. Wenn es vom Stettiner Bahnhof in Berlin mit dem Zug nach Pommern geht, steckt Ruthchen den Kopf aus dem Fenster, saugt die Luft ein und sagt: „Oh Mutti, das riecht schon nach Oma.“ Es ist die wunderbar frische Luft einer Region, in der es keine Industrie gibt, nur Güter mit riesigen Kornfeldern und Landwirtschaft, Kiefernwälder und die Ostsee mit den Kreidefelsen. Ein einzigartiger Geruch, der Ruth Rupp heute noch in der Nase steht. Ein seliges Lächeln liegt auf ihrem Gesicht, wenn sie davon erzählt: „Dort war für mich das Paradies auf Erden. Als Erstes habe ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Von da an ging ich nur noch barfuß oder in den hübschen Pantoffeln, die es im Kolonialwarenladen des Dorfes zu kaufen gab. Bei Regen oder gar Gewitter lief das Wasser die Dorfstraße herunter, und wir sind voller Freude im Matsch herumgepatscht. Abends gab es dann eine strenge Regel: Füße waschen in der Waschschüssel. Zähneputzen war völlig unwichtig, aber mit ungewaschenen Füßen durfte man nicht ins Bett.“
Es ist herrlich auf dem Land. Besonders gerne erinnert sie sich an die Ernte, wenn Heu gemacht wurde und in gewaltigen Stapeln auf dem Wagen lag. „Dann lagen wir Kinder oben auf dem Heu, fuhren durch eine Straße, die mit Kirschbäumen gesäumt war. Und wenn diese Kirschen reif waren, dann mussten wir nur den Mund aufmachen, und die wunderbar süßen Früchte fielen uns praktisch hinein. Das war so schön, eine selige Erinnerung an sinnliche Freuden: das sanfte Schaukeln, die Sonne, die Kirschen.“
1931 zieht die Familie von Duisburg nach Emmerich am Niederrhein, weil Friedrich Rupp seine erste Stelle beim Zoll antritt. Sie wohnen sehr schön dort. Vor dem Haus fließt der Rhein, dahinter liegen große Parkanlagen. Obwohl es kaum Autos gibt, ist die Straße am Fluss asphaltiert – ideal zum Rollerfahren. Auch die Anlegestellen der Rheinschiffe eignen sich wunderbar, um mit richtig viel Schwung herunterzurasen und kurz vor dem Wasser zu bremsen. Der Vater kann es kaum aushalten. „Das Kind fährt in den Rhein!“, ruft er. Nie passiert etwas, aber die Angst ist immer da. Äußerlich ist er der starke Mann, innerlich von Sorge und Unsicherheit gepeinigt. Heute erscheint es Ruth Rupp geradezu zwangsläufig, dass er später tödlich verunglücken sollte. Vielleicht habe er das immer gespürt.
Und es gibt Vorboten heraufziehenden Unheils. Auf immer eingebrannt ist ihr die Erinnerung an eine Straßenschlacht in Duisburg zur Zeit der späten Weimarer Republik. „Wir gingen eines Tages die Straße entlang, als offene Lastwagen mit Männern der SA hupend heranrasten, anhielten und die Männer laut grölend und pöbelnd begannen, auf andere Männer einzuschlagen. Das waren offenbar Kommunisten. Eine wilde Schlägerei begann. Meine Mutter zog mich schnell in einen Hauseingang, damit uns nichts passierte. Das war sehr bedrohlich, ein großes Erschrecken, aber dann war es auch wieder vorbei.“
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten steht kurz bevor.
... und ein Mädchen, dem Engelein-Musik lieber ist
Wer klein ist, hält sich besser aufrecht. Am besten reckt er auch noch den Kopf. Dann verschenkt er keinen Zentimeter Wirkung. Und wird so in Zeiten Schwarzer Pädagogik, die keine Scheu vor rabiaten Erziehungsmethoden kennt, sogar zum Vorzeigeobjekt: „Guck mal, wie gerade die kleine Ruth geht, nicht so krumm wie du.“ Das hören die Nachbarskinder und Mitschüler von ihren Eltern häufiger, als ihnen lieb ist. Wenn sie nicht parieren und wieder zusammensacken, bekommen sie wahlweise eine gelangt oder ein Lineal ins Kreuz gesteckt. Bei Ruth völlig unnötig.
Auch bei ihrer Einschulung im April 1932, noch keine sechs Jahre alt, ist sie wie immer die Kleinste. Sie hat den Tag herbeigesehnt. Von 4 Uhr morgens an ruft sie regelmäßig nach der Mutter: „Darf ich nun endlich aufstehen?“ Dann geht es zur Schule, und die Schultüte ist fast größer als das kleine blonde Mädchen, das vor Vorfreude vibriert. Der Empfang ist liebevoll. Die Lehrerin, Fräulein Bardwijk, ist vom Typ her alles andere als einnehmend, ja, eher von grober Statur und fast männlich, mit Füßen, die über den Boden platschen. Aber sie ist eine Seele von Mensch und hat zum ersten Schultag mit Kreide fast lebensgroße Märchenfiguren auf die Wände des Klassenzimmers gemalt. Die Kinder sollen sich willkommen fühlen.
Horst, der Banknachbar von Ruth, hat trotzdem große Angst. Die beiden kennen sich aus der Nachbarschaft, und die Mutter hat ausdrücklich darum gebeten, dass er in der Klasse neben ihr sitzen kann. Als die Mütter irgendwann aus dem Klassenzimmer gebeten werden, beginnt Horst vor lauter Verzweiflung zu brüllen. Ruth schaut ihn ganz entgeistert an und fragt sich, was mit ihm wohl los sei. „Ich war doch so froh, dass meine Mutter endlich gegangen war. Alleine in der Schule zu sitzen – einfach großartig!“
So liebevoll Fräulein Bardwijk ist, so gründlich ist sie auch. „Eine vorbildliche Lehrerin, die beste, die ich in meinem Leben hatte.“ Sie ist überaus geduldig, auch wenn die Kinder Schreiben lernen sollen. Erst wenn jeder in der Klasse einen Buchstaben wirklich beherrscht, beginnt sie mit dem nächsten. Die Schrift ist Sütterlin, lateinische Schrift kommt erst in der Oberschule dran. Die Kinder lieben ihre Lehrerin heiß und innig und begleiten sie auf dem Heimweg. Um die Ehre, ihre Tasche tragen zu dürfen, gibt es jedes Mal heftiges Gerangel.
Ruths Stärken sind von Beginn an das Lesen und Vorlesen. Einmal stibitzt sie aus dem elterlichen Bücherschrank „Quo Vadis?“, den Historienschinken über die Verbrennung der Christen unter dem römischen Kaiser Nero (in der Verfilmung zwanzig Jahre später großartig gespielt von Peter Ustinov), liest ihn und erzählt davon in der Schule. Fräulein Bardwijk kann es nicht glauben. „Ruthchen, stimmt das auch wirklich?“ Also bringt sie am nächsten Tag das Buch mit und liest der Klasse daraus vor. Die Lehrerin ist angemessen beeindruckt.
Am 30. Januar 1933 ändert sich schlagartig das Klima in Deutschland. Den historischen Einschnitt der Machtergreifung Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten erleben schon die Kleinsten. Die Umerziehung des deutschen Volkes zu linientreuen Untertanen kann nicht früh genug beginnen, sie ist umfassend und verfehlt ihre Wirkung nicht. Wurde vor diesem Tag bei Schulbeginn gebetet, müssen die Kinder von nun an vor und nach jeder Stunde strammstehen und laut „Heil Hitler“ rufen. „Weil wir unseren Führer, der alles für uns tut, ja so über alles liebten“, erinnert sich Ruth Rupp. Sie zeigt einen Brief, den ihr eine Freundin im Januar 1934 geschrieben hat. In krakeligen, aber großen Lettern ist er mit „Heil Hitler“ unterzeichnet. Aus derselben Zeit stammt ein Brief einer anderen Mitschülerin, die bedauert, dass sie zu Hause leider kein Bild von Hitler oder Hindenburg an der Wand hängen haben. Aber sie besitze das Bild eines SA-Mannes, das sie heute, am Jahrestag der Machtergreifung, mit Tannengrün geschmückt habe. Der SA-Mann solle stellvertretend für Adolf Hitler sein.
Ein kleines Kind hinterfragt nicht. Das sei das Perfide an Regimen wie dem der Nazis, sagt Ruth Rupp heute: Sie gewinnen zuerst die Kinder und Jugend für sich. Und wissen, wie das gelingt. Da sind zum Beispiel die Reichsjugendwettspiele. Abgesehen von den gegrölten Liedern, die nichts für ihre musikalischen Ohren sind, hat Ruth großen Spaß an Sportwettkämpfen. Sie ist gut trainiert und bekommt jedes Mal eine Siegernadel. Ihre Parade-Disziplin ist Werfen, auch Laufen gelingt ihr gut. Nur beim Hochsprung hapert es, dazu sind die Beine einfach zu kurz. Gebannt hängt sie 1936 auch am Volksempfänger, als sich das Regime mit den Olympischen Spielen in Berlin schmückt, und weiß noch heute, welche Weite der legendäre Jesse Owens für seinen Sprung zu Gold überwand: 8,06 Meter.
Zu Hause wird der Indoktrination durch die Nazis kein Widerstand entgegengesetzt. Friedrich Rupp ist absolut linientreu. Aufgrund seiner Erziehung und seiner Prägung als Soldat ist er obrigkeitshörig und als Beamter selbstverständlich Mitglied der NSDAP. Er verehrt Hitler, erst recht nach einem Erlebnis in Nürnberg, wo er ihn aus der Nähe erleben und „das Feuer in seinen Augen“ sehen konnte. Er lobt, wie viel besser es den Deutschen nun geht, dass sie wieder Brot und Arbeit haben und die Autobahnen gebaut werden. Die Mutter ist belesen, gut informiert, eher liberal eingestellt, aber um des häuslichen Friedens willen bereit, ihren Mann nicht zu provozieren. Am Küchentisch – Friedrich Rupp am Kopfende, seine Tochter ihm gegenüber, seine Frau an der Längsseite – werden die politischen Ereignisse besprochen. Was passiert, ist wichtig und wird ausführlich diskutiert. Der Vater schwadroniert, die Mutter bringt immer mal vorsichtige Gegenargumente vor. Ruth, deren Interesse am Zeitgeschehen in ihren Zeugnissen stets lobend erwähnt wird, hört fasziniert zu. „Mein Vater hatte von sich das Bild, dass er als Herr des Hauses immer recht hat, und meine Mutter nahm das einfach hin“, erinnert sie sich. Hedwig Rupp widerspricht auch nicht, wenn sie sich von ihrer Tochter immer wieder deren damaliges Lieblingsbuch vorlesen lassen muss: Mit „Das kleine Hitler-Mädchen“ werden schon die Kleinsten auf Linie gebracht.
1934 zieht die Familie nach Düsseldorf. Hier erlebt das kleine Mädchen zum ersten Mal, wie Menschen in Nazi-Deutschland verschwinden: ein Junge und zwei Mädchen aus der Klasse, jüdische Kinder. Die sind eines Tages weg. Die Lehrerin begründet das nicht, und die Schüler fragen nicht nach. „Der Junge hatte mich gern“, erzählt Ruth Rupp. „Er hat mich nach der Schule manchmal nach Hause begleitet. Dabei haben wir laut Hitler-Lieder gesungen.“ Zum Beispiel dieses:
Es zittern die morschen Knochen
Der Welt vor dem roten Krieg,
Wir haben den Schrecken gebrochen,
Für uns war’s ein großer Sieg.
Wir werden weiter marschieren
Wenn alles in Scherben fällt,
Denn heute gehört uns Deutschland
Und morgen die ganze Welt.
Und dann war dieser Junge einfach verschwunden.
In Düsseldorf erlebt sie auch, wie die Gewalt gegen die Juden eskaliert und die Brutalität der Nazis auch in der Öffentlichkeit immer mehr um sich greift. Schon vor der Reichspogromnacht am 9. November 1938 werden auf der feinen Königsallee die Schaufenster der Geschäfte von jüdischen Kaufleuten eingeschlagen und die Wände mit Hakenkreuzen beschmiert. „Ich habe das als sehr schrecklich erlebt, als beängstigend, aber auch als sehr aufregend. Mit neun Jahren konnte ich das überhaupt nicht einordnen und verstehen.“ Die Eltern helfen dabei nicht.
Es gibt aber auch unvergesslich schöne Momente in Düsseldorf. Die Rupps wohnen nämlich gleich um die Ecke der Königsallee. Ihre Straße gehört zur Route des Karnevalszugs am Rosenmontag. Die Mutter steht auf einem Stuhl am Fenster, Ruthchen auf der Lehne, damit beide den Zug sehen können, und Friedrich Rupp fängt die Bonbons. Ein tolles Spektakel direkt vorm Fenster. Aber das kleine Mädchen ist auch entsetzt von der losen Moral der Feiernden. Als ein Jeck mitten im Karneval auf die Mutter zukommt, sich zu ihr hinunterbeugt und sagt: „Komm, gib mir mal ein Küsschen“, schubst die Tochter ihn wütend weg.