„Bloody Hell!“ Diesen Satz, neben einigen anderen Schimpfworten, murmelte Charles immer wieder vor sich hin, während er das Gaspedal seines BMWs durchdrückte und mit quietschenden Reifen um die nächste Kurve fuhr, die roten Ampeln geflissentlich ignorierend. Für menschliche Regeln hatte er jetzt wirklich keine Zeit. Gerade geschah etwas, das sich diesen Regeln enthob, darüber stand.
Er hatte es schon bei der Universität versucht, doch dort war alles geschlossen und kein öffentliches Telefon in Sicht. Kurz fragte sich der Solani, ob es überhaupt noch öffentliche Telefone gab, wusste darauf aber keine Antwort, nahm sich aber auch nicht die Zeit, lange darüber nachzudenken. Er brauchte ein Telefon, irgendetwas, damit er die anderen erreichen konnte. Er würde auch Rauchzeichen, Morse Code oder ein Bat-Signal benützen, wenn eines davon in seiner Reichweite wäre - es aber nicht war.
Es grenzte an ein Wunder, dass er überlebt hatte. Nur mit Mühe und Not hielt Charles den Nim mit der Sig Sauer - sie benutzten immer eine Sig Sauer oder Heckler und Koch, als hätten sie ein Abonnement dafür - auf Abstand, während dessen Kumpel versuchte nach ihm zu schlagen. Aber der Silver schaffte es, seinen Schlägen auszuweichen und ihm einen Arm mit der scharfen Klinge seines Säbels abzutrennen. Aus der Wunde schoss das Blut, bis sie sich mit dem bitteren Geruch nach verbranntem Fleisch schloss und kleine Stichflammen die Ränder entlang züngelten. Diese Ablenkung, in der der Nim zurück wankte, seine ihm noch gebliebene Hand auf die Wunde gepresst, reichte Charles, um ihn zu packen und gegen seinen Freund zu treten. Ein Schuss, der kein Ziel hatte, löste sich. Der Silver sprang nach vorne und durchbohrte beide mit seinem Säbel, stieß die Klinge mitten durch ihre Brust. Schwer atmend lehnte er sich gegen sie, drückte die beiden mit seinem Körpergewicht nach unten, bis sie auf dem Rücken lagen, einer über den anderen, festgehalten durch seine Waffe. Blut klebte an seinem Anzug, doch er ignorierte es. Schnell zog er den silbernen Dolch hervor und vernichtete die beiden Nim. Er nahm die Waffen an sich - auch in so einer Situation durfte er keine Beweise hinterlassen - und wandte sich um, wollte sein Telefon suchen und endlich Verstärkung rufen. Aber als er das Smartphone entdeckte, musste er entsetzt feststellen, dass sie im Kampf darauf getreten waren. Der Bildschirm war vollkommen zersplittert, das Gehäuse deformiert. Es war tot und damit auch seine Möglichkeit, jemanden anzurufen. Lange hatte Charles nicht überlegt. Schwer atmend rannte er zum Cork Lough, sich seines geschwächten Körpers unangenehm bewusst, und stieg in sein Auto.
Nun suchte er noch immer nach einem Telefon und steuerte die Stadt an, in der Hoffnung einem Menschen zu begegnen, dem Technik-Wahn und der Smartphone-Sklaverei zum ersten Mal dankbar. Wieder um eine Kurve, dann hielt er mit quietschenden Reifen. Der Geruch nach heißem Gummi brannte in seiner Nase. „Das ist ein Alptraum!“, stöhnte Charles, als er die Baustelle sah, die ihm den Weg versperrte. Wütend schaltete er den Rückwärtsgang ein und drückte aufs Gas, fuhr mit einem Ruck zurück, wendete und setzte mit quietschenden Reifen seinen Weg fort.
Es war vier Uhr und sollte Oz noch leben, blieb ihnen nicht viel Zeit. Sie mussten ihn finden und zurückbringen, bevor die Sonne aufging. Charles’ Herz raste, sein Atem kam nur noch in kurzen, gepressten Stößen. Liz würde ihm die Ohren lang ziehen. Dann endlich fand er eine kleine Bar, deren grüne Neonröhren Zeugnis davon ablegten, dass sie noch neue Gäste aufnahm. Der Solani sprang aus dem Auto, hielt jedoch inne, bevor er eintrat. Das dunkelrote, fast schwarze Blut auf seiner Anzugjacke könnte ihm Probleme machen. Mit fahrigen Bewegungen zerrte er den Stoff von seinen Schultern, achtete gar nicht darauf, wie einige Nähte rissen. Zusammen mit seinem Säbel warf er die Jacke auf den Beifahrersitz. Erst dann trat er ein, bemüht ruhig atmend.
Im Inneren roch es nach Bier, Schweiß und Erbrochenem. Es war sehr voll. Charles schob sich Ausschau haltend durch die Menschen, die mit ihren Gläsern in den Händen herum standen, vor sich hin lallten oder sich zur Musik bewegten, ohne den Takt zu halten. Seine Augen sahen so gut, als würden sie im hellen Tageslicht stehen, anstatt in der schummrigen Finsternis, die soviel mehr verzieh. Aber er registrierte die Schweißperlen, die verlaufene Schminke, bemerkte jede Pore, jeden Fleck und ein Teil von ihm wollte nicht durch dieses Meer aus Leibern. Aber er brauchte ein Telefon, also schluckte er den Ekel herunter und kam bei der Theke an.
„Was kann ich für dich tun, Süßer?“, fragte die Frau hinter der Bar. Sie konnte nicht älter als dreißig sein, auch wenn ihr Gesicht bereits verlebt aussah. Ihre Haut war unrein und kleine Falten kräuselten sich um Augen und Mund. Auch ihr Blick schien verbraucht.
„Ein Telefon, bitte.“, presste Charles hervor, der am liebsten geschrieen hätte. Aber stattdessen sah er der Frau fest in die Augen und sie verlor sich in ihnen.
„Gerne doch, hier nimm meines, Hübscher.“, säuselte sie. Charles nahm das Smartphone entgegen und begann sofort die erste Nummer einzutippen.
„Wer ist da?“, blaffte Patrick.
„Charles. Hör zu.“, begann der Solani und beobachtete die Frau hinter der Theke, um sie weiterhin unter seiner Kontrolle zu halten. „Wir wurden angegriffen. Sieben Nim. Oz ist alleine unterwegs. Ich musste erst ein Telefon suchen. Kommt zum Cork Lough. Ich warte dort auf euch. Schnell.“ Charles hatte alles mit einem Atemzug erzählt.
„Sind gleich da!“, kam die rasche Antwort von Patrick, dann legte er auf.
„Danke.“, sagte der Brite und brachte ein Lächeln zustande, denn die Bardame trug nicht die Schuld an der Situation. Sie errötete, als sie das Telefon entgegennahm. Ohne ein weiteres Wort wandte sich Charles um, froh aus der Bar heraus zu kommen und erleichtert, Patrick sofort erreicht zu haben. Müde und erschöpft stieg er zurück in sein Auto und fuhr weit über dem Tempolimit zurück zum Cork Lough, wo er die anderen erwarten würde.
„Oz, du Idiot, wehe du bist tot!“, knurrte er beim Aussteigen. Es dauerte nicht lange, da rollte das erste Auto an ihm vorbei und hielt. Es stiegen Patrick und Lani aus. Danach stießen Mary, Liz und Derek zu ihnen. Sandro, Alessa und Cole befanden sich in der Innenstadt und waren gar nicht angerufen worden. Patrick erklärte seine Entscheidung nicht, musste es auch nicht. Sie alle hatten nicht vergessen, wie aufgelöst Alessa wegen Charles gewesen war. Und Oz war ihr Freund. Es war besser, sie von hier fern zu halten. Für den Fall der Fälle. Wenn ihre Emotionen überschäumten, wäre sie nur in Gefahr und zudem eine Last für alle anderen. Stattdessen war es Titus, der sich zu ihnen schwang, ein Schatten in der Nacht, furchteinflößend und flink wie immer.
„Auf die Dächer. Wir teilen uns auf, aber so, dass ihr immer rechts und links von euch noch jemanden sehen könnt.“, befahl ihr König und keiner von ihnen sagte ein Wort dagegen. Nicht einmal Mary, die nur grinste, als er sprach und nickte, als er endete. Charles war froh, dass er hier war. Vielleicht war es die Hoffnung eines Verzweifelten, aber die Anwesenheit seines Anführers gab ihm eine irrationale Sicherheit, dass am Ende alles gut werden würde - weil Titus kein anderes Ende akzeptieren würde, keinen Verlust dulden könnte. „Los!“, knurrte dieser und war der erste, der auf das Dach sprang.
Sie teilten sich auf, wie sie angewiesen wurden. Am Ende standen sie in vier Gruppen, wobei Titus alleine ging, je circa 500 Meter auseinander und deckten so eine gute Fläche ab, die sie nun absuchten. Kein Laut drang aus ihren Mündern, keine Geräusche verursachten ihre Schritte. Sie waren still und ruhig, obwohl die Unruhe in jedem von ihnen tobte, wie immer, wenn sich einer von ihnen in Gefahr befand.
Zuerst begannen sie dort, wo Charles und Oz sich getrennt hatten. Dann folgten sie dessen Geruchsspur, die allerdings von den Nim überlagert wurde. Dazu kam der Wind, der den Duft mit sich nahm, verdeckte, wo er genau hingehörte, und die Suche erschwerte.
Die Stunden verstrichen, aber sie fanden nichts Brauchbares. Keine Spur. An einer Stelle entdeckten sie Blut, doch es war nur dort und führte nicht weiter, keine Tropfen, nur ein blutiger Fleck. Dazu kam der Zeitdruck, der ihnen kaum erlaubte, die Umgebung so abzusuchen, wie sie es müssten. Ein Kloß bildete sich in Charles’ Hals, setzte sich dort fest und erschwerte ihm das Atmen.
„Das ist meine Schuld.“, flüsterte er, als sie alle wieder zusammenstanden und sich ratlos anblickten. Zuletzt kam ihr König zu ihnen, die Kapuze zurückgeschoben, sodass sein Gesicht zu sehen war.
„Wir sind Kämpfer. Es passiert. Du trägst keine Schuld.“, sagte er mit fester Stimme, seine Augen zwei Splitter aus Eis, die Charles beobachteten.
„Ich glaube allerdings nicht, dass er tot ist.“, fuhr Titus ruhig fort. Die Silver um ihn starrten ihn irritiert an, halb ungläubig, halb hoffnungsvoll. „Wir kehren in der nächsten Nacht zurück. Jetzt müssen wir gehen.“
„Aber wir können doch nicht aufgeben!“, rief Lani aus. Patrick schüttelte nur stumm den Kopf. Titus bedachte sie einen Moment mit seinen kühlen Augen, bis die junge Kämpferin ein paar Schritte zurückwich. Dann wandte er sich ab und verschwand in der Nacht, die langsam heller wurde. Am Horizont färbte sich der Himmel nach und nach grau.
„Los kommt. Wir sollten in den Unterschlupf.“, murmelte Derek und sie setzten sich alle in Bewegung.
Etwas berührte ihn. Warme Haut streifte seine kühle. Dann das Geräusch von sich entfernenden Schritten. Eine Tür, die sich schloss.
Das Dröhnen in seinem Kopf war unerträglich. Er hatte noch nicht die Augen aufgemacht und doch empfand er schon Schmerzen. Seine Haut spannte. Seine Muskeln hatten sich verhärtet. Als Oz versuchte, seine Arme zu bewegen, weil seine Hände kribbelten, als wären sie eingeschlafen, stieß er auf ein Hindernis. Er ruckelte daran, aber konnte die Arme nicht senken. Schließlich öffnete er doch die Augen und blinzelte einige Male verwirrt. Die Sterne, die vor seinen Augen tanzten, versperrten ihm den Blick und ließen sich nicht so einfach vertreiben.
„Was ist hier los?“, fragte er flüsternd in die Schatten, erschrocken über seine raue, brüchige Stimme. Aber er war allein und bekam keine Antwort. Stattdessen begann er sich genauer umzusehen. In der Hoffnung, aus seiner Umgebung schlau zu werden. Erst hatte er sich tot geglaubt, aber das schien dem Silver dann doch etwas unwahrscheinlich. Außer man wachte im Jenseits in Schlafzimmern auf.
Sein Blick glitt über eine dunkelblaue, geschwungene Kommode, einen weißen Holzschrank, über weiße, verputzte Wände und Vorhänge aus bedrucktem Leinen, die einen Spalt geöffnet waren und durch die kühles Sonnenlicht fiel, das ihn an früher denken ließ. Als er noch in die Sonne hatte gehen können, als er noch den Sonnenaufgang hatte betrachten können. Als er noch fühlen konnte, wie die Wärme ganz langsam über sein Gesicht kroch. Doch heute, so viele Jahre später, brachte die Sonne keine Wärme mehr, nur Tod. Oz schluckte, zwang sich aber von dem Licht, das noch in die andere Ecke des Zimmers fiel, wegzusehen und weiter seine Situation zu analysieren. Er lag auf einem Bett. Die Matratze war sehr bequem und er spürte die angenehme Kühle von Seide auf der Haut. Jemand hatte ihn zugedeckt. Als er probehalber tief einatmete, spürte er Stoff, der sich enger um seinen Oberkörper schlang.
„Jemand hat mich verarztet oder zumindest notdürftig etwas ähnliches gemacht.“, stellte Oz verwundert fest. Dann kehrten seine Gedanken zurück zu seinen Armen, die kribbelten und er nicht bewegen konnte. Er ruckelte, zog, aber alles, was er erreichte, war, dass sich irgendetwas tiefer in sein Fleisch an den Handgelenken fraß. Gleichzeitig fühlte er aber keinen Schmerz, nur Druck, als würde etwas über seiner Haut liegen und diese davor schützen, sich aufzureiben und zu bluten. „Ein sehr aufmerksamer Entführer.“, schmunzelte Oz und seufzte leise vor sich hin. Er hatte schon viel erlebt, sicherlich war es nicht sein erstes Mal als Gefangener, aber normalerweise sperrte man ihn in Zellen, feuchte Keller, aber doch keine Schlafzimmer!
Vorsichtig streckte er sich. Dehnte seine Wirbelsäule so gut es ging und spürte wieder den dumpfen Schmerz in seinen Gliedern, die Starre in seinen Muskeln. Der Solani wusste ganz genau, von was das kam. So hatte er sich nach dem Kampf gegen Derek gefühlt, aber auch immer, wenn er gekämpft hatte, bevor Charles ihn aufgelesen hatte. Erschöpfung - unendlich tief sitzende Erschöpfung nach dem Gebrauch seiner Magie. „Weil du es immer übertreiben musst!“, würde Alessa nun sagen und dabei schief grinsen, obwohl sie nicht besser war, sie hätte das gleiche getan. Als Oz an Charles und Alessa dachte, setzte sein Herz einen Schlag aus. War sein Freund in Sicherheit? Hatte er es geschafft? Dann wanderten Oz' Gedanken weiter: Zurück zu dem Kampf gegen die Nim. Wie lange das wohl schon her war? Er wusste noch, dass fünf Stück ihn verfolgt hatten. Er kämpfte und einen Teil schlug er nieder, aber je länger er sich wehrte, desto verschwommener war seine Sicht geworden. Mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen versuchte der Kämpfer seine Erinnerungen zu ordnen, aber er schaffte es nicht. Da war nur Schmerz, Sorge und Nebel, dichter, dunkler Nebel, der sich über seinen Verstand legte. „Vielleicht hat mir mein Entführer irgendetwas gegeben.“, dachte Oz noch, bevor sich seine Augen wieder schlossen und er in einen traumlosen Schlaf fiel.
Das leise Klopfen an der Tür weckte ihn. Erschrocken fuhr er auf, wollte sich gerade aufsetzen und wurde doch nur wieder in die Matratze gezogen. Sein Blick huschte zu dem Lichtstrahl, nun ein warmer, gelblicher Ton, der sich dem Bett, und damit ihm, immer weiter näherte. Die Tür wurde entriegelt und ging auf, erst einen Spalt, dann weiter. Zunächst war ein Tablett zu erkennen, danach schob sich eine Person in den Raum. Oz konnte nur den Rücken sehen, während sie die Tür wieder schloss und das Tablett auf der Kommode abstellte. Dann drehte sich sein Entführer um und für eine Weile starrte Oz die Frau vor sich nur fassungslos an.
Rotes Haar in einem Bob geschnitten, sodass die Haarspitzen sich um ihre Ohrläppchen kringelten. Braune Augen, die Oz irgendwie komisch vorkamen, als würde darunter noch etwas anderes verborgen liegen, die ihn aber aufmerksam beobachteten. Geschwungene Lippen, eine kleine Nase. Sie war schlank. Ihre Schultern schmal, ihre gesamte Erscheinung in der Jeans und dem grün karierten Männerhemd sah zerbrechlich und zart aus.
„Bist du die Komplizin?“, fragte Oz daher, in seinem üblichen Ton, der seine Emotionen nicht verriet und doch nicht frei davon war, gerade heraus. Viel eher schwangen mehrere Gefühlsregungen gleichzeitig darin mit. Sie blieb ihm eine Antwort schuldig. Lächelte nur schwach, bevor sie das Tablett nahm und zu ihm herüber kam, um sich auf einen Stuhl zu setzen, der seit dem letzten Mal, als er wach gewesen war, hier herein gestellt worden war. Das Tablett stellte sie auf ihrem Schoß ab.