Das Nebelmädchen von Mirrors End

Fabienne Siegmund

Das Nebelmädchen von Mirrors End

 

 

Impressum

 

 

Copyright © 2020 Art Skript Phantastik Verlag

Copyright © 2020 Fabienne Siegmund

 

1. Auflage 2020

Art Skript Phantastik Verlag | Salach

 

Korrektorat » Seitenreise | Melanie Schneider

www.seitenreise.de

 

Gesamtgestaltung » Art Skript Phantastik Verlag

 

Druck » BookPress | www.bookpress.eu

 

Auch als Buch erhältlich

 

Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de

 

 

 

Content Note

Gewalt an Kindern

 

 

 

 

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Über die Autorin

 

 

Fabienne Siegmund, geboren 1980, flog schon als Kind liebend gerne auf dem Rücken eines Glücksdrachen über Phantasién oder sprang mit Begeisterung in literarische Kaninchenlöcher. Mit der Zeit wurden phantastische Geschichten mehr und mehr ihre Leidenschaft, und so begann sie irgendwann selbst damit, Welten zu bauen und Geschichten zu weben. Seit 2009 finden diese regelmäßig den Weg ins Universum der Bücher, so erschien unlängst beispielsweise »Herbstlande 2 - Verklingende Farben«, das sie mit Stephanie Kempin, Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser schrieb. Ihr Herz für Kurzgeschichten lebt sie immer wieder als Herausgeberin von Anthologien aus. Ende 2015 war sie Mitbegründerin des Phantastik-Autoren-Netzwerk (PAN) e.V., in dem sie seit 2017 die Position der Schatzmeisterin übernommen hat.

Für alle Träumer und Narren.

Sie haben es verdient.

 

 

 

Prolog

 

Die Nacht war finsterdunkel.

Ja, das genau war das richtige Wort, denn finster und dunkel allein hätten für die tiefe Schwärze, die den Himmel färbte, nicht ausgereicht.

So finsterdunkel war die Nacht, dass selbst das Licht der Straßenlaternen zu sterben schien, noch ehe es die gläsernen Leuchtkörper verlassen konnte.

Und genau in diesen finsterdunklen Himmel starrte Eliza Willows. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was diese Nacht so dunkel machte, dass selbst tiefstes Schwarz hell dagegen schien.

Nicht damals, als sie auf dem Beifahrersitz des alten Volkswagens gesessen hatte, der sie und ihre Mutter zu dem Ort brachte, der in jener Nacht nichts als eine vage, missmutige Vorstellung gewesen war und nie und nimmer das Zuhause, das er einmal sein würde.

Nein, damals hätte Eliza nicht einmal geglaubt, dass das Haus mit den vielen Giebeln, Erkern und Türmchen jemals ein Zuhause sein würde, dass sie es einmal lieben würde wie keinen Ort sonst auf der Welt.

Aber das war vor dem Speicher gewesen, vor dem Trödelmarkt der Träume und den verlorenen Erinnerungen; vor dem Wissen um den Schmied, der Träume fing und in kleine Käfige aus Stahl, Magie und Glas sperrte und vor all den anderen Dingen – wie dem alten Weiblein aus Papier, an deren Existenz sie nie zuvor geglaubt hätte. Vor allem aber vor dem Nebelmädchen mit den goldgrünen und silberblauen Augen aus Meeresleuchten und Himmelssehnsucht.

Erst später erfuhr sie, dass der Nacht die Sterne gefehlt hatten und dass es Tränen gab, die schwerer wogen als salzig schmeckendes Wasser.

In diesem Moment, damals auf dem Beifahrersitz, war einfach alles finsterdunkel gewesen.

Nicht nur die Nacht. Auch die Welt. Das ganze Leben.

November war es gewesen, und wie jeder November hatte auch dieser sein Lied aus winterkaltem Regen und herbstvergessenem Sturm gesungen.

Ein Lied, das Eliza Willows niemals mehr vergessen würde.

 

 

Kapitel 1

Ein neues Haus, ein neuer Anfang

 

Es gibt Orte, die schweigen, so viele Stimmen sie auch bevölkern.

Mirrors End war kein solcher Ort. Im Gegenteil. Alles hier schien eine Stimme zu haben.

Die Weiden, die einen Wald aus wirr hängenden Zweigen und Ästen bildeten, der bis an den kleinen Fluss reichte und bei deren Anblick sich Eliza fragte, ob die Mutter dieses Haus ausgesucht hatte, weil die Weiden so gut zu ihrem Nachnamen passten.

Das Bächlein selbst, das rauschte und plätscherte und Worte raunte, die in seinen Wellen untergingen.

Und das Haus, dieses kleine, absolut verwinkelte und verbaute Haus, das ein wenig so wirkte, als hätte jemand versucht, ein Schloss in einem Fachwerkhaus unterzubringen, ja, vor allem das Haus schwieg mitnichten.

Das Erste, was Eliza vernahm, war das Knarzen der hölzernen Eingangstür. Lang gezogen war es, wie ein leidvolles Aufstöhnen. Durch Mark und Bein ging es.

Die dunklen, ausgetretenen Dielen im Flur quietschten.

Die Kacheln in der Küche, von denen manche so viele Risse hatten, dass der Boden wie mit schwarz gesponnenen Spinnweben bedeckt schien, knirschten schmirgelnd unter ihren Schritten.

Die Fensterläden schlugen leise im Takt des Windes, und der Wind selbst verfing sich heulend in Kaminfängen und Hohlräumen.

Nein. Es war nicht leise, und die Geräusche, die der Dunkelheit zu entspringen schienen, verstummten auch nicht, als Elizas Mutter das Licht anschaltete.

»Da sind wir!« Sie strahlte Eliza an. Von all den Geräuschen schien sie nichts bemerkt zu haben, oder sie verschwieg es einfach, aber wahrscheinlich war es das Erstere.

»Was sagst du?«

Eliza zuckte mit den Schultern. Was sollte sie schon sagen?

Dass sie nicht hier sein wollte? Dass die Welt finsterer als finster und dunkler als dunkel geworden war? Das konnte sie nicht, denn das würde ihre Mutter nur traurig machen, und Margaret Willows war schon traurig genug, seit Elizas Vater beschlossen hatte, dass das Leben mit einer Anderen schöner sei als das mit seiner Frau und der sechzehnjährigen Tochter, die er stets nur mit abschätzig seltsamen Blicken bedacht hatte, weil sie eben nicht der Cheerleadertyp war, nicht das beliebte Mädchen, das jedes Wochenende auf einer anderen Party tanzte.

Nein, ihre Mutter war traurig genug, und Mirrors End war ihr Versuch, dieser Traurigkeit zu entkommen, die innere Leere mit etwas Neuem zu füllen.

Also sagte Eliza Willows nur: »Nett.«

Die Augen ihrer Mutter, die ebenso blau waren wie ihre, strahlten. »Nicht wahr? Es ist bezaubernd. Warte, bis du es bei Tageslicht siehst.« Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie durch das Haus. Sie zeigte ihr den Raum, der als Wohnzimmer dienen sollte, das Esszimmer, ihr eigenes Schlafzimmer und einige kleinere Kammern. Dann ging es in den ersten Stock, und auch hier ächzten die ausgetretenen Stufen unter jedem Schritt, der sie berührte.

Fünf Zimmer gab es, und eines davon sollte ihr gehören, sollte ihr neues Reich werden.

»Such dir eins aus«, flüsterte Margaret Willows, drückte ihre Hand noch einmal und ließ dann los, als wäre ihre Tochter ein kleiner Vogel, der zum Fliegen animiert werden sollte, und Eliza betrat ein Zimmer nach dem anderen.

Am Ende entschied sie sich für das Zimmer mit der Treppe, die zum Speicher führte. Es lag etwas höher als die anderen, abgegrenzt durch einen kleinen Flur, den man über eine schmale Treppe erreichte. Warum wusste sie noch nicht einmal so genau. Da waren größere Zimmer, die nicht so verwinkelt und verbaut waren und deren Decke sich nicht durch eine Dachschräge nach oben hin verjüngten, Zimmer, in denen es halbwegs normal große Fenster gab und nicht nur ein einziges, das in einem Erker lag und kaum Licht in den Raum spendete. Dazu kamen noch kleine, kachelgroße bunte Fenster, die in der Wand der turmartigen Ausbuchtung wie eine Wendeltreppe aus Glas nach oben führten. Wie eine Spiegelung zu den bunten Glasquadern wand sich die Treppe, die in einer anderen runden Ausbuchtung lag, in der gegenüberliegenden Ecke nach oben. Eliza vermutete, dass dies das zweite von außen sichtbare Erkertürmchen war und dass diese Treppe auf den Speicher führte.

Und obwohl es wirklich, wirklich schönere Zimmer in diesem Haus gab, wählte Eliza genau dieses.

Ihre Mutter versuchte, ihr ein anderes Zimmer schmackhaft zu machen, aber sie hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Die einzige Bitte, die sie hatte, war, ihre Bücher in dem kleinen Flur davor aufstellen zu dürfen, denn Eliza hatte viele Bücher. Bilderbücher, Kinderklassiker, Kriminalromane und Geschichten voll von Geistern und Gestalten, deren Existenz nie bewiesen werden konnte. Liebesschmöker, Western und Abenteuer außerhalb bekannter Universen. Erzählungen aus anderen Zeiten, längst vergangenen oder noch unendlich fernen.

Eliza Willows liebte Bücher.

Schon immer hatte sie ihre Zeit lieber in der Gesellschaft von Büchern als in der von Menschen verbracht. In ihren Augen war es so: Bücher konnten einem nicht wehtun, und wenn doch, wenn sie wie ein Spiegel waren, der einem das eigene Leben unbarmherzig vor Augen führte, konnte man sie einfach zuklappen. Menschen aber verletzten einen, genauso wie manchmal das Wetter und vor allem die Wirklichkeit, und nichts von alledem konnte man einfach zurück in ein Regal stellen. Natürlich wusste sie, dass Bücher auch schmerzliche Erinnerungen hervorrufen konnten und dass es für andere nicht so funktionierte, bei ihr klappte es.

Sie wusste daher auch nicht, warum dieser Umzug sie so wütend machte. Es gab niemanden, den sie vermisste und ihre ehemaligen Mitschüler hatten wahrscheinlich schon vergessen, dass es sie je gegeben hatte, denn dort war sie immer schon die Außenseiterin gewesen, die, die ihre Nase immer lieber in Bücher steckte als in Puderdöschen.

Wahrscheinlich, gestand sie sich ein, war es die Veränderung, das Neue und all die Angst, die sich damit in ihr Leben geschlichen hatte, in ein Leben, das vielleicht nicht makellos schön gewesen war, aber dennoch alles, was sie kannte.

Nun kannte sie nichts und niemanden mehr.

 

***

Sie half ihrer Mutter, ihr Bett aus dem Keller hochzutragen und zusammenzuschrauben. All ihre Möbel standen im Keller, und erst nach und nach würden sie ihren Platz in Mirrors End finden.

Elizas Bett war das Erste, das den seinen bekam.

Sie stellte es in den Turm mit den bunten Fenstern, und auch wenn ihre Mutter meinte, das könne sie doch auch noch am nächsten Morgen machen, holte sie noch das kleine Regal, das ihr als Nachtschränkchen diente, und füllte es mit Büchern, die sie in der Tasche mit sich herumgeschleppt hatte.

Sie mochte keine Räume ohne Bücher. Sie fand, das machte Räume traurig.

 

 

Kapitel 2

Licht und Schatten

 

Man sagt, Träume, die man in der ersten Nacht in einem neuen Heim hat, werden wahr.

Eliza Willows erinnerte sich nicht daran, was sie geträumt hatte.

Was ein Glück war. Oder ein Unglück, denn schließlich konnte Träumen beides anhaften.

Kurz fragte Eliza sich, welche Geheimnisse der Speicher wohl hütete, doch dann hatten sie das Bett ihrer Mutter zusammengeschraubt und sich noch zu einer Tasse Tee auf den Boden des Wohnzimmers gesetzt, genau vor den Kamin, in dem ihre Mutter ein kleines Feuer entfacht hatte – ein Feuer, das der Nacht gerade genug von ihrer Dunkelheit stahl, um den Eindruck von Gemütlichkeit zu erwecken.

»Warum heißt das Haus eigentlich Mirrors End?«

Irgendwann hatte Eliza diese Frage gestellt, hatte sie einfach stellen müssen.

Zu sehr klang der Name nach einer Geschichte.

Ihre Mutter hatte nur mit den Schultern gezuckt.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es gab hier eine Frau, die Spiegel sammelte.«

Eliza nickte enttäuscht und bald darauf war sie ins Bett gegangen.

Das Haus hatte immer noch geflüstert und gewispert - knirschend, knarzend, quietschend, heulend. Unter ihre Decke hatte sie sich gekuschelt, ganz fest und sie bis zur Nasenspitze hochgezogen.

Doch obwohl sie müde war, hatte sich der Schlaf lange Zeit nicht einstellen wollen, und als er kam, war er nicht sonderlich tief und, zumindest soweit sie sich erinnern konnte, traumlos.

Erst mit dem Nebelmädchen kam die Erinnerung an jene erste finsterdunkle Nacht zurück, die Erinnerung daran, dass Eliza erwacht war, einfach so, und sie in der Dunkelheit ein Mädchen gesehen hatte, direkt neben ihrem Bett, blass und mit Augen voll Traurigkeit.

So aber hatte der Morgen diese Szene weggespült, so wie es manchmal die Art des Morgens war und Elizas Tag war voller Möbel und Kisten gewesen, für die und deren Inhalt es einen Platz zu finden galt.

Mit jedem Buch, das sie in ein Regal stellte, jedem Teil von Besteck und Geschirr, das sie in der Küche einsortierte, verschwand die Dunkelheit, die ihr Herz umklammert hatte, denn im Tageslicht sehen die Dinge immer gleich völlig anders aus als in der Nacht und die Angst verliert in der Helligkeit ihre furchterregende Kraft.

 

***

 

Eliza und ihre Mutter lachten gemeinsam, als sie sich mit den Kissen bewarfen, die sie eigentlich nur hatten auf das Sofa legen wollen, das nun neben dem Kamin stand. Es war ein Lachen, das vielleicht zu laut war, aber es vertrieb auch noch die letzten Reste der Schatten, die sich um sie beide gelegt hatten. Wie lange hatten sie nicht mehr gemeinsam gelacht?

Während sie die Schränke im Wohnzimmer einräumten, erzählte Margaret Willows Eliza eine Geschichte, wie sie es auch früher immer getan hatte, wild und frei und gedankenwirr, wie spontan ausgedachte Geschichten eben waren, und Eliza spann sie fort, bis es ein glückliches Ende gab, wie es sich für Geschichten gehörte, die man erzählte, um Dunkelheit und Kälte aus Herzen zu vertreiben.

 

***

 

Mit der Nacht aber kehrte die Dunkelheit zurück, und als Eliza in ihrem neuen Zimmer saß und aus dem Erkerfenster sah, unter das sie ihren Lesesessel mit der kleinen, glasblumenverzierten Stehlampe aufgestellt hatte, stellte sie fest, dass es kaum Sterne gab, weniger noch als in der Stadt mit all ihren Lichtern. Sie schob es auf Wolken, die gewitterschwarz den Himmel verhangen, doch hielt diese Erklärung in ihr nicht lange stand, war doch den ganzen Tag über kein Wölkchen am Himmel zu sehen gewesen, und wieder gab es nur ein Wort, das diese Nacht zu umschreiben vermochte: finsterdunkel.

 

 

Kapitel 3

Ein Gesicht in der Nacht

 

Eliza schlief nicht gut in dieser Nacht. Immer wieder wachte sie auf, und es half auch nichts, zu lesen. Egal, wie oft sie zum Bücherregal neben dem Bett griff, um ihm wieder und wieder ein neues, ein anderes Buch zu entnehmen, in der Hoffnung zwischen den Buchstaben ein wenig Zerstreuung zu finden – es half nichts. Nicht einer ihrer alten Freunde half, denn manchmal konnte man die Welt nicht aussperren, in manchen Momenten brachte es nichts, zu versuchen, sich zwischen Buchdeckeln zu verkriechen, denn es gab Augenblicke, da kroch die Wirklichkeit selbst in Bücher – in Bücher und Träume. Freilich ahnte Eliza nichts davon, da gab es nur dieses unbeschreibliche und ungreifbare Gefühl, einer bösen Vorahnung gleich, als Bilder von Spiegelscherben durch ihre Träume blitzten, Bilder von schwarzen Schemen und glühend heißem Feuer. Töne, die wie hämmernder Herzschlag waren; Schreie, schrill und panisch und so laut, dass sie davon hochschreckte. Das Herz so wild schlagend, dass es ihr den Atem nahm, das Haar schweißnass an der Stirn klebend, starrte sie in die Dunkelheit, in der das Mondlicht bunte Glasschatten an die Wände warf.

Nur langsam beruhigte sie sich, doch gerade, als sie mit einem leisen Seufzer in die Kissen zurücksinken wollte, sah sie es.

Eliza Willows sah ein Gesicht in der Nacht.

Direkt neben ihrem Bett, in der Luft. Schemenhaft spiegelte es sich in den mondbeschienen Buntglasscheiben, wie Nebel, den man in eine Form gegossen hatte.

Nebel - mit Mund, Nase, Augen und Ohren, umrahmt von dunkelgrau schattierten Korkenzieherlocken, die seitlich von zwei blassweißen Schleifen gehalten wurden.

Alles in diesem Gesicht war grau und wirkte wie von Schatten in die Nacht gemalt - nur die Augen nicht. Die Augen hatten die Farbe von Meeresleuchten und Himmelssehnsucht, grüngold und silberblau.

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und voller Unglauben sah Eliza, dass das Gesicht aus Nebel weinte.

Eine einzelne Träne rann die blassgraue Wange herunter, goldglänzend wie ein kleiner Stern, und für einen Moment war ihr, als ob die Nacht noch ein Stückchen dunkler wurde.

Hätte Eliza geahnt, dass dem tatsächlich so war, dass das Mädchen aus Nebel Tränen aus Sternen gebar, sie wäre ihm vielleicht nicht gefolgt, wäre niemals die Treppe zum Speicher hinaufgestiegen.

Nie hätten ihre Ohren dann vom Schmied gehört, nie vom Friedhof der Spiegel. Aber Ahnungen ließen die Menschen oft im Stich, und waren sie doch da, dann so blass, dass man sie mitunter nicht einmal bemerkte.

So schlug Eliza Willows die Bettdecke beiseite und stand auf, als das Gesicht des Mädchens neben ihrem Bett verschwand, nur um einen Wimpernschlag später wieder aufzutauchen, inmitten des Zimmers. Schritt um Schritt folgte Eliza der Gestalt aus Nebel, bis zum Fuße der Treppe.

Dort zögerte sie kurz.

Das Gesicht schwebte über ihr, und im fahlen Mondlicht, das durch das Erkerfenster floss, konnte sie sehen, dass es zu einem Mädchen gehörte, in einem weiß-blassgrauen Kleid, dessen spitzenbesetzter Saum ihm bis an die Knöchel ging. Wie eine Erinnerung an Tüll wirkte es und fiel auf schattendunkle Schuhe, die hier und da glänzten, als wäre ihr Leder einst poliert gewesen.

Wäre sie ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, und nicht nur ein Mädchen aus Nebel und Schatten, Eliza hätte sie vielleicht auf zwölf Jahre geschätzt. So aber, mit den Augen aus Meeresleuchten und Himmelssehnsucht, wirkte sie älter.

Wie alt, vermochte Eliza nicht in Worte zu fassen.

Das Mädchen sah sie an, und wieder kullerte eine goldglänzende Träne an ihrer Wange hinab, und wieder überkam Eliza das Gefühl, dass die ohnehin schon finsterdunkle Nacht noch tiefer wurde, tiefer und kälter.

Dann war die schemenhafte Gestalt mit einem Male verschwunden. Gerade eben hatte sie noch vor der alten Holztür mit dem Messingknauf geschwebt, die schwarz beschuhten Füße dicht über der Treppenstufe, dann war sie fort.

Für einen Moment, einen Herzschlag nur, zögerte Eliza, dann folgte sie dem Mädchen, das doch nur ein Traum sein konnte, ein schlafwandlerisches Bild in finsterdunkler Nacht.

Aber als Eliza Willows in jener Nacht das erste Mal den Speicher betrat und von einer Melodie begrüßt wurde, traurig wie sterbende Herbsttage, gespielt von Staub und Licht – ja, Licht, denn der Speicher war von einem seltsamen, silberdunstigen Licht durchflutet - wusste sie, dass es kein Traum war.

 

 

Kapitel 4

Ein Name, dreimal gesprochen

 

Es gab nicht viel auf dem Speicher. Von dem Nebelmädchen war nichts zu sehen. In einer Ecke stand ein Schaukelstuhl, aus dessen Rückenlehne Stücke der Stäbe gebrochen waren, deren Reste wie schiefe Zähne in die Dunkelheit ragten, und davor lag ein aufgeschlagenes Buch, dem sich Eliza, ohne weiter darüber nachzudenken, sofort näherte.

Es war ein Fotoalbum.

Die Seiten waren vergilbt und rissig, und an allen Ecken und Kanten fehlten schon Stücke in dem ausgetrockneten, brüchigen Papier. Es gab kleine Löcher in den Seiten, wahrscheinlich von einem Bücherwurm und hier und da wirkte es, als hätten auch kleine Mausezähne ihren Teil von dem Buch genommen. Das wenige, was vom Einband am Rand zu sehen war, ließ darauf schließen, dass das Buch einst in dunklen Samt eingeschlagen war, doch auch der war ausgefranst und zum Teil nicht mehr als feiner, im Silberlicht des Speichers glitzernder Staub.

Das Einzige, was von all dem unberührt schien, auf dem nicht einmal ein Körnchen Staub lag, war die Fotografie, die in der Mitte der rechten Seite des aufgeschlagenen Buches aufgeklebt worden war, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme mit Passepartout.

Ein Mädchen war darauf zu sehen, vielleicht zwölf Jahre alt. Aufrecht stand es da, gekleidet in ein weißes, knöchellanges Kleid, das an der Taille von einer Schleife gerafft wurde. Die weiß bestrumpften Füße steckten in schwarzen Schuhen, die von einer Schnalle gehalten wurden.

Das Haar des Mädchens war lang und fiel in dunklen Korkenzieherlocken über ihre Schultern, an jeder Seite gehalten von einer Schleife und umrahmte ein schmales Gesicht, aus dem glücklich strahlende Augen in die Kamera lächelten.

Selbst auf der grauen Fotografie wirkten sie nicht farblos, sie leuchteten im Schwarz und Weiß des Bildes, wie sie auch zuvor in der Dunkelheit des Zimmers geleuchtet hatten, denn das Bild zeigte niemand anderen als das Nebelmädchen, dem Eliza bis hierher gefolgt war.

Unter dem Bild stand ein Name, die Tinte, vielleicht einst kräftig und schwarz, nun verwässert und blass, aber immer noch lesbar.

Moira Reeves stand dort in geschwungenen Lettern geschrieben.

Und ehe sie sich versah, sprach Eliza Willows diesen Namen laut aus.

Drei Mal.

Einmal, um ihn zu wecken.

Einmal, um ihn an sich selbst zu erinnern.

Und einmal, um ihn zu rufen.

Sie dachte sich nichts dabei, wie man manchmal eben Dinge einfach so tut, und sich im Nachhinein erst darüber klar wird, wie bedeutsam sie waren oder wie falsch es gewesen war, dass man nicht darüber nachgedacht hatte.

So aber floss der Name in die Nacht.

Drei Mal.

Und kaum hatte die letzte Silbe ihre Lippen verlassen, kniete das Mädchen aus Nebel vor ihr, einem Spiegelbild gleich, auf der anderen Seite des Fotoalbums.

Ihr Körper berührte den Boden nicht und kein Stäubchen wirbelte auf, als sie sich sachte bewegte.

Eliza konnte sie nur anstarren. Fahrig tastete sie mit der einen Hand nach ihrem Arm, um sich zu kneifen, doch auch als der kurze Schmerz verebbte, war das Mädchen noch da.

»Wer bist du?«, flüsterte es, die Stimme kaum lauter als der Schatten einer solchen.

»Eliza«, würgte Eliza irgendwie hervor. »Eliza Willows.«

Das Mädchen schaute sie mit geneigtem Kopf an, in den grüngoldenen, silberblauen Augen ein Ausdruck von zeitloser Traurigkeit.

»Ich bin«, begann sie, nur um sich gleich wieder zu verbessern, »ich war Moira Reeves.«

»Ich habe von dir geträumt.« Eliza erinnerte sich der ersten Nacht in Mirrors End.

Das Nebelmädchen schüttelte den Kopf. »Das war kein Traum. Du hast mich gesehen.« Der Klang von Glück lag in der Stimme, die sanft wie Nieselregen war.

Und weil es in finsterdunklen Nächten manchmal Dinge gab, die man nicht erklären konnte, fand Eliza Willows in diesen Sekunden eine Freundin, die nicht aus Papier und Druckerschwärze, sondern aus Nebel war.

 

 

Kapitel 5

Alte Geschichten, …

 

Manchmal ist die Welt aus Eis und Häuser haben ihren eigenen Herzschlag. Die Zeit, in der Moira Reeves einst gelebt hatte, war so gewesen.

Als sie zur Welt gekommen war, hatte ein Krieg getobt, wie es zu jeder Zeit Kriege gab, angezettelt von Machthungrigen und Gierigen, bezahlt von einfachen Menschen.

Moiras Eltern hatten zu jenen gehört, die diesen Krieg mit ihrem Leben bezahlten, und so kam das kleine Mädchen in die Schmiede. Dorthin brachte man alle Waisen oder solche Kinder, die Waisen zu sein schienen, weil niemand nach ihnen fragte. Jene, die nicht wussten, ob ihre Eltern noch lebten, hofften, dass jemand kam, sie zu holen, doch dies geschah nur selten. Die Zeiten waren hart und die Nahrung knapp.

So blieben die Kinder an jenem Ort, der später Mirrors End heißen würde, später, nach dem Schmied und den Spiegeln.

Doch bis dahin würde noch eine Weile vergehen, und so trug das Haus einen Namen, den niemand mehr aussprach, aus Angst, die Vergangenheit zu wecken.

Auch als Moira, die jetzt auf ihre schwebende Art und Weise in dem Schaukelstuhl Platz genommen hatte, Eliza ihre Geschichte erzählte, nannte sie diesen Namen nicht - ihn nicht, und auch nicht den des Schmiedes, der damals mit eiserner Hand über die Kinder herrschte.

Aber noch ehe diese Geschichte zur Sprache kam, die, das sollte Eliza bald feststellen, keine schöne war, saßen die Mädchen, die gerade einander ihren Namen genannt hatten, als wäre er das größte Geheimnis, das sie besaßen, sich gegenüber, stumm vor Staunen.

Die eine, weil sie wirklich und wahrhaftig einem Geist gegenübersaß.

Die andere, weil sie niemals zuvor gesehen worden war, seit die Ereignisse sie in Staub und Nebel gehüllt hatten.

Erst nach einer Weile wagte Eliza, das Schweigen zu brechen, durch das die ganze Zeit die seltsam melancholische Melodie einer unsichtbaren Spieluhr geklungen war.

»Was bist du?«, fragte sie und kam sich furchtbar dumm vor, keine andere Frage stellen zu können.

Das Nebelmädchen betrachtete eingehend ihre schemenhaften Hände, dann sagte es: »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Geist, vielleicht nur ein Schatten oder ein nicht endender Traum.«

Die traurig leuchtenden Augen schauten hinauf, dorthin, wo ein Fenster das Dach durchbrach und ein Stück fast sternenlose Nacht hineinließ.

Eliza Willows sah sie nur fragend an, als Moira zu erzählen begann.