Der Darwinismus-Streit
in der deutschen Botanik
Evolution, Wissenschaftstheorie
und Weltanschauung im 19. Jahrhundert
Books on Demand
Foto: Evelin Frerk
Prof. Dr. Thomas Junker
Studium der Pharmazie an der Universität Freiburg und Promotion in Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Marburg
1992-95 Associate Editor im Charles Darwin Correspondence Project (Cambridge, England) und Post-doc bei Ernst Mayr am Department of the History of Science der Harvard University (Cambridge, Mass.)
1996-2002 Forschung und Lehre zur Geschichte und Theorie der Biologie am Lehrstuhl für Ethik in der Biologie, Universität Tübingen
2003 Habilitation für Geschichte der Naturwissenschaften
2006 Heyne-Haus-Gastprofessor am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Göttingen
Seit 2006 apl. Professor an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen
Stellv. Vors. der AG Evolutionsbiologie im VBIO
Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung
Bücher (Auswahl):
Die Entdeckung der Evolution – Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte. 2. Aufl. Darmstadt: WBG, 2009 (mit Uwe Hoßfeld)
Geschichte der Biologie: Die Wissenschaft vom Leben. München: Beck, 2004
Die zweite Darwinsche Revolution. Geschichte des Synthetischen Darwinismus in Deutschland 1924 bis 1950. Marburg: Basilisken, 2004
Die Evolution des Menschen. 2. Aufl. München: Beck, 2008
Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. 2. Aufl. München: Beck, 2009 (mit Sabine Paul)
Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution. München: Beck, 2011
Die erste Auflage erschien 1989, im Jahr der Wende, unter dem Titel Darwinismus und Botanik: Rezeption, Kritik und theoretische Alternativen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Die Reaktionen waren gemischt. Während sie in Westdeutschland weithin auf Desinteresse und offene Ablehnung stieß, waren die Biologiehistoriker aus der DDR sehr viel wohlwollender und aufgeschlossener. Mit besonderem Interesse wurde meine Arbeit aber in England und den USA aufgenommen. Charles Darwin war dort ein großes Thema, eine Vielzahl von historischen Artikeln und Büchern war erschienen, man editierte seine Notizbücher und begann die Briefe herauszugeben. Dabei wurde die wichtige, in manchen Bereichen zentrale Bedeutung deutschsprachiger Biologen deutlich. So machen die deutschen Wissenschaftler unter Darwins nicht-englischsprachigen Korrespondenten den mit Abstand größten Anteil aus (Junker & Richmond 1996; Montgomery 1987; CCD; Darwin correspondence project). Da man sich in Westdeutschland kaum für die Geschichte des Darwinismus im eigenen Land interessierte, gab es hier aber niemand, der dieses Thema mit der nötigen Sprachkenntnis bearbeitet hätte.
Darwins europäischer Briefwechsel (ohne Großbritannien); Zahl der Briefe pro Land (P.: Portugal) (Junker & Richmond 1996: XXXV).
Von all dem wusste ich nichts, als ich mich im Jahr 1985 für ein Dissertationsthema entscheiden musste. Ich hatte gerade das zweisemestrige Promotionsstudium „Geschichte der Naturwissenschaften“ am Institut für Geschichte der Pharmazie der Universität Marburg beendet. Nachdem ich zunächst an Themen aus der Geschichte der Hormonforschung bzw. der Chemie des frühen 19. Jahrhunderts gedacht hatte, lenkte eine Radiomeldung meine Interesse in eine andere Richtung. In den USA hätten die Kreationisten, so wurde berichtet, mit tatkräftiger Unterstützung durch Ronald Reagan erstaunliche Erfolge in ihrem Kampf gegen die Evolutionstheorie errungen. Hier war eine spannende Kontroverse versteckt, das war offensichtlich, obwohl noch nicht abzusehen war, wie ergiebig sie aus biologiehistorischer Sicht sein würde.
Mein Doktorvater, der Pharmaziehistoriker Rudolf Schmitz (1918-1992), war bald überzeugt. Er hatte damals bereits um die 100 Dissertationen erfolgreich betreut und verließ sich auf die Eigeninitiative der Doktoranden. Bei der inhaltlichen Arbeit war ich also auf mich selbst gestellt und Literaturrecherchen mussten die fachliche Betreuung weitgehend ersetzen. In allen anderen Belangen konnte ich mir der Unterstützung durch Rudolf Schmitz aber sicher sein, und dies, obwohl er meinen Ergebnissen und der „schonungslosen Offenheit“, mit der ich sie seinem Empfinden nach präsentiert hatte, reserviert gegenüberstand (vgl. „Geleitwort“). Dies rechne ich ihm hoch an.
Damals hörte ich dann auch von Ilse Jahn (1922-2010). Um genau zu sein nicht direkt, sondern über den damals unter Biologiestudenten üblichen, bewundernd gemeinten Spitznamen ‚Dicke Ilse’. Bei der ‚Dicken Ilse’ handelte es sich um die zweite Auflage der Geschichte der Biologie, die gerade erschienen war, von Ilse Jahn, Rolf Löther und Konrad Senglaub herausgegeben wurde, und – daher der Spitzname – an die 900 Seiten umfasste (vgl. Junker 2002b). Dass es sich dabei um ein DDR-Buch handelte, störte mich nicht, im Gegenteil, Bücher aus der DDR waren dafür bekannt, dass sie hohe Qualität zu einem erstaunlich günstigen Preis lieferten.
Nachdem ich meine Dissertation Anfang 1989 fertiggestellt hatte, erfuhr ich durch Zufall von einem Vortrag, den Ilse Jahn am 9. Januar 1991 im Pharmazeutischen Institut der Universität München hielt. Im Anschluss an den Vortrag konnte ich mich persönlich vorstellen und mein Exemplar der Geschichte der Biologie mit einer Widmung versehen lassen. Wenig später bot mir Ilse Jahn an, das Kapitel über Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert für die dritte Auflage der Geschichte der Biologie zu überarbeiten bzw. neu zu schreiben. Dies war eine große Ehre und ein enormer Vertrauensbeweis; Ilse Jahn kannte zwar meine Dissertation und hatte eine freundliche Besprechung für die Biologische Rundschau verfasst, aber ansonsten hatte ich noch wenig publiziert und beschäftigte mich hauptberuflich mit dem Verkauf von Medikamenten. Dass sie mir trotz alledem diese Chance gab, rechne ich ihrem legendären Engagement für Nachwuchswissenschaftler zu.
Die DDR und ihre Traditionen waren aber bald Geschichte und so blieb Westdeutschland. Hier aber näherte man sich allem, was nur im entfernten an den Darwinismus erinnerte, mit äußerster Zurückhaltung. Selbst unter Biologen und Biologiestudenten wurde die Darwinsche Evolutionstheorie mit Sozialdarwinismus, Rassismus, Sexismus, Biologismus, Eugenik und anderen Negativbegriffen gleichgesetzt und galt als ideologisch höchst verdächtig. In der politisch aufgeheizten Stimmung nach der Wende verschlimmerte sich dies noch und man kann sich heute kaum mehr vorstellen, mit welcher Erbitterung beispielsweise die Gentechnik mit dem Argument bekämpft wurde, dass entsprechende Forschungen in Deutschland wegen der NS-Verbrechen nicht durchgeführt werden dürfen. Diese Ablehnung wurde auch auf meine Dissertation übertragen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass man dabei völlig übersah, dass ich nicht nur Darwins Anhänger sondern auch seine Gegner gewürdigt hatte und ebenso sehr eine Geschichte des Anti-Darwinismus in der Botanik des 19. Jahrhunderts vorgelegt hatte. Aus diesem Grund und weil die von den Botanikern im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie diskutierten Themen weit über ihre Forschungen an Pflanzen hinausreichten und auch philosophische, wissenschaftstheoretische und weltanschauliche Fragen einbezogen, erscheint die zweite Auflage unter dem neuen Titel Der Darwinismus-Streit in der deutschen Botanik.
Für meine Dissertation erwies es sich in dieser Situation als großer Vorteil, dass das Motto des Marburger Instituts für Geschichte der Pharmazie ‚zurück zu den Quellen’ hieß. Denn so legte ich bei meinen Recherchen den Schwerpunkt nicht auf die Sekundärliteratur, sondern wandte mich den Originalarbeiten aus dem 19. Jahrhundert zu und suchte nach vergessenen und übersehenen Texten. Dabei ging ich beispielsweise systematisch alle Jahrgänge der Botanischen Zeitung und der Flora aus den Jahren 1859 bis 1882 durch. Alles in allem fand ich auf diese Weise 43 Botaniker, die sich mehr oder weniger ausführlich mit Darwins Theorien auseinandergesetzt hatten; viele von ihnen waren bis zu diesem Zeitpunkt in der biologiehistorischen Literatur übergangen worden.
Nichtsdestoweniger hätte meine Dissertation wohl das Schicksal ihres Gegenstandes geteilt und wäre ungelesen in den Bibliotheken verstaubt, wenn sich die Situation in den englischsprachigen Ländern nicht anders dargestellt hätte. Zum einen waren meine Ergebnisse für die Darwin-Forscher in England von großem Interesse und ich wurde wenig später eingeladen, als Assistant Editor an der Correspondence of Charles Darwin in Cambridge (England) mitzuarbeiten. Von unschätzbarem Wert für meinen weiteren Lebensweg war es zum anderen, dass Ernst Mayr (1904-2005) meine Arbeit für „höchst wichtig“ und „gut recherchiert“ hielt. Er war so überzeugt von ihren Qualitäten, dass er meinen Antrag für ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung unterstützte, das es mir ermöglichte, meine Forschungen als Postdoc am Department of the History of Science der Harvard Universität weiterzuführen.
Dass das länderspezifisch höchst unterschiedliche Interesse an meiner Arbeit nicht nur ein subjektiver Eindruck ist, zeigt ein Blick auf die Rezensionen. Während in DDR-Zeitschriften immerhin zwei wohlwollende Besprechungen veröffentlicht wurden (Biologische Rundschau, Hercynia), wäre in Westdeutschland nicht eine einzige erschienen, wenn Fritz Krafft, der Herausgeber der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte und Nachfolger meines Doktorvaters Rudolf Schmitz am Institut für Geschichte der Pharmazie nicht so freundlich gewesen wäre, meine dementsprechende Anregung aufzugreifen. Bezeichnenderweise war die Besprechung von Änne Bäumer-Schleinkofer in den Berichten aber dann die mit Abstand kritischste. Während hier die zweifellos vorhandenen Mängel betont wurden, legte man in den englischsprachigen Rezensionen größeren Wert auf ihre Stärken. Allgemein wurden deutschsprachige Bücher im British Journal for the History of Science, im Journal of the History of Biology und in den Annals of Science ansonsten eher selten besprochen (eine Ausnahme ist hier nur die Isis).
Mittlerweile beginnt sich in Deutschland die ablehnende Einstellung dem Darwinismus gegenüber abzuschwächen. Inwiefern dieser Umschwung echt oder eher labil und oberflächlich ist, sei an dieser Stelle dahingestellt (vgl. aber Junker & Paul 2009b). Jedenfalls haben einzelne Autoren und Episoden aus der Geschichte der Evolutionstheorie nun die ihnen angemessene Aufmerksamkeit erfahren. So ist es ausgesprochen erfreulich, dass das Leben und Werk des bedeutenden Blütenbiologen Hermann Müller (1829-1883) in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Blickwinkeln intensiv erforscht wurde (vgl. die Beiträge in Münz & Morkramer 2010; Schmidt-Loske et al. 2011). Für die meisten der von mir behandelten Autoren ist dies indes nicht der Fall. Dies und die Tatsache, dass meine Untersuchung die bis heute einzige zusammenfassende Darstellung ist, macht eine Neuauflage sinnvoll.
Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt auf der Rezeption von Darwins allgemeiner Evolutionstheorie in der Botanik. Auf seine botanischen Arbeiten gehe ich nur im Zusammenhang mit der Blütenbiologie näher ein.1
Nur am Rande behandelt wird auch Gregor Mendel (1822-1884). Weitgehend unbemerkt von den zeitgenössischen Wissenschaftlern hatte er 1866 Beobachtungen publiziert, die nach ihrer Wiederentdeckung im Jahr 1900 die Vererbungstheorie revolutionieren und die Evolutionstheorie auf eine neue Basis stellen sollten.2 Ab den 1920er Jahren gelang es dann, die anfänglichen Widersprüche zwischen Genetik, Mutations- und Selektionstheorie zu überwinden und die moderne (synthetische) Evolutionstheorie zu formulieren (vgl. Mayr & Provine 1980; Junker 2004b).
Mendel war bereits vor Darwins Origin of species von seinem Wiener Lehrer Franz Unger (1800-1870) mit naturphilosophischen Ideen über eine natürliche Entstehung der Arten bekannt gemacht worden. Mendel hat sich auch intensiv mit Darwins Theorien auseinandergesetzt. So diskutierten die Mitglieder des Naturforschenden Vereins in Brünn 1861 über die neue Theorie und Mendel kaufte sich alle Werke Darwins gleich nach deren Erscheinen; seine Randbemerkungen zeigen, dass er Origin of species (1863) und Variation (1868) in deutscher Übersetzung sehr gründlich las.3
Nichtsdestoweniger haben Mendels berühmte Vererbungsversuche wenig mit Evolution zu tun. Sie zeigen, dass die erblichen „Elemente“ (Allele) in der Generationenfolge durchmischt werden, aber ansonsten unverändert bleiben. Dieser Fund lässt sich erst dann sinnvoll für die Evolutionstheorie verwerten, wenn er mit der Entstehung neuer Elemente (Mutationen) kombiniert wird. Dies aber erfolgte erst Anfang des 20. Jahrhunderts, d.h. nach dem von mir untersuchten Zeitraum.
Darwinismus und Botanik ist auch ein Zeitdokument. Das eine oder andere sehe ich mittlerweile anders, und manches würde ich anders schreiben. Alles in allem ist meine Dissertation aber bis heute eine Pionierarbeit mit einer Fülle an interessanten Details und Zusammenhängen, die anderswo nicht zu finden sind. Aus diesem Grund habe ich den Text auf Fehler überprüft, an die neue Rechtschreibung angepasst und kleinere sprachliche Korrekturen vorgenommen. Ansonsten wurde er nicht verändert. Die Fußnoten wurden dagegen völlig neu bearbeitet, da die damals übliche Zitierweise am Institut für Geschichte der Pharmazie heute nur noch schwer nachzuvollziehen ist und dies zudem die Möglichkeit eröffnete, neuere Literatur einzufügen. Völlig überarbeitet und ergänzt wurde auch das Verzeichnis der Original- und Sekundärliteratur. Nicht zuletzt ermöglicht es die Neuausgabe, den Text mit Abbildungen zu illustrieren.
Frankfurt am Main, Mai 2011 Thomas Junker
Rezensionen von Darwinismus und Botanik (1989)
Änne Bäumer-Schleinkofer.
Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 14 (1991): 55-57.
Eugene Cittadino.
Isis 82 (1991): 579-80.
Mario A. Di Gregorio.
British Journal for the History of Science (1992): 483-85.
Ilse Jahn.
Biologische Rundschau 28 (1990): 327-28.
Ernst Mayr.
Journal of the History of Biology 23 (1990): 335-36.
Marsha Richmond.
„Essay Review: Darwin in Germany,“ Annals of Science 49 (1992): 87-90.
Erich Weinert.
Hercynia N. F. 27 (1990): 413.
Thomas Junker, Darwinismus und Botanik: Rezeption, Kritik und theoretische Alternaien im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Quellen und Stadien zur Geschichte der Pharmazie, vol. 54 (Stuttgart: Deutscher Apotheker Verlag, 1989), 367 pp.
This is a most important and well researched analysis of the reaction of Germany’s nineteenth-century botanists to Darwin’s theories. The first third of the volume (140 pp.) is devoted to the reception of Darwinism by the various botanical subdisciplines, represented by twelve plant morphologists, eleven systematists, five paleobotanists, eight geobotanists, and three flower biologists. Most of these scientists were strongly or at least somewhat skeptical of the validity of Darwinism. Eduard Strasburger was one of the few who accepted without reservation not only common descent but also the theory of natural selection.
The second third of the monograph is devoted to a detailed analysis of the writings of four leading German botanists – Carl Nageli, Albert Wigand, Julius Sachs, and Hermann Müller – who published copiously on Darwin and Darwinism. Wigand, of course, is notorious as the most vicious of the anti-Darwinians. He abandoned a successful botanical career to devote the rest of his life to a refutation of Darwin, culminating in a three-volume (1300 pages!) work on Darwinism (which Junker reviews in detail). Julius Sachs was an enthusiastic evolutionist, but as a physicalist – and hence a determinist – he found the chance element in variation and natural selection unacceptable. The botanist who in his thinking and in his interests was closest to Darwin was Hermann Müller (brother of Fritz Müller).
In a final section (44 pp.) the author studies how the attitude toward Darwinism changed between 1860 and 1900 (and later); how the age, the political views, and the religion of the various botanists influenced their position; and the relation between philosophy, history, and scientific theories.
There are extensive bibliographies of the primary and the secondary literature, and a person as well as a subject index.
Ernst Mayr
1) Zu Darwin als Botaniker vgl. Gardeners’ Chronicle 1882; Ward 1882; Detmer 1909; Britton 1909; Lüttgendorff 1909; Wichler 1936, 1960; Heslop-Harrison 1958; Haustein 1960; Barlow 1967; Ghiselin 1969; Allan 1977; Browne 1980; Ornduff 1984; Pancaldi 1990; Mayr 1992a; Kohn et al. 2005; Ayres 2008; Boulter 2008; Kohn 2008; Stöcklin & Höxtermann 2009; Harley 2010.
2) Zur Geschichte der Genetik vgl. Barthelmess 1952; Dunn 1965; Stubbe 1965; Krizenecky 1965; Olby 1966; Jacob 1970; Bowler 1983: 182-226; Churchill 1987; Orel & Hartl 1994; Junker 2001; Rheinberger & Müller-Wille 2009.
3) Zu Leben und Werk von Gregor Mendel (1822-1884) vgl. Correns 1905; Hoppe 1971a; Iltis 1924; Olby 1967; Löther 1990; Orel 1995.
Wenn der Grundgedanke des Darwinismus, unsere belebte Welt sei das Ergebnis einer immerwährenden Evolution, heutzutage auch gesichertes Allgemeingut zu sein scheint, so war dies vor 50 Jahren noch keineswegs der Fall. Vor allem Theologen und Philosophen vermochten sich selbst in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg nicht mit dem Gedanken abzufinden, dass der biblische Schöpfungsakt in weiteren Dimensionen zu sehen sei, als es den bisherigen Anschauungen entsprach. Eine Abwehrhaltung wie diese muss zur Zeit der Proklamierung der Darwinschen Ideen naturgemäß noch sehr viel stärker gewesen sein. Dabei zeigte sich unter den Gelehrten schon früh eine deutliche Spaltung in eine geisteswissenschaftlich-theologische und eine naturwissenschaftliche Richtung. Gerade in Marburg trat mit Julius Albert Wigand, dem damaligen Ordinarius für Botanik (einem Apothekerssohn aus Treysa), der in seiner wissenschaftlichen wie religiösen Grundhaltung stark theistisch geprägt war, ein besonders engagierter Gegner Darwins auf. Rückschauend stellt sich die Figur Wigands und seines literarischen wie wissenschaftlichen Einflusses allerdings bei weitem als nicht so bedeutend heraus, wie man das lange, möglicherweise auch unter dem Einfluss lokalen Wunschdenkens, vermutet hat. Ganz allgemein aber ist die zoologische Seite des Darwinismus von der Wissenschaftsgeschichte viel intensiver bearbeitet worden als die botanische. So kam der Wunsch auf, dieses offenkundig vorhandene Defizit in der botanikgeschichtlichen Forschung zu beseitigen. Um es zu präzisieren: Es waren also zwei Motive, einmal der mit Wigand verbundene lokalhistorische Aspekt, sodann die Erkenntnis, dass im Zusammenhang mit der Botanikgeschichte des 19. Jahrhunderts hier etwas nachzuholen sei, was im Grunde zu der nun vorliegenden Arbeit von Herrn Junker führte.
Nach einer allgemeinen Einführung in Begriffe und Wesen des Darwinismus, setzt der Autor sich mit den botanischen Disziplinen auseinander und versucht aufzuzeigen, wie sich in ihnen, sei es Morphologie, Systematik, Paläo- oder Geobotanik bzw. Blütenbiologie die Darwinschen Auffassungen durchzusetzen begannen bzw. abgelehnt wurden (Teil II). Ein interessantes Ergebnis ist, dass zwar in den einzelnen Disziplinen die verschiedensten Botaniker zu Wort kommen, es aber nur selten geschieht, dass sie sich in ihren Meinungen oder Forschungen überschneiden. Dies gilt sowohl für dominierende Köpfe wie Schleiden oder Strasburger als auch für Ernst Krause, Heinrich Robert Göppert oder Karl Müller bzw. Ludolph Christian Treviranus. Die den einzelnen Kapiteln angefügten Zusammenfassungen erleichtern es ungemein, im Bereich einer Einzeldisziplin einen Überblick zu erhalten und sich über den zeitgenössischen Stand der Diskussion zu informieren.
Teil III, der sich mit den Persönlichkeiten der wichtigsten Befürworter und Gegner Darwins auf deutschem Boden auseinandersetzt, geht von den Biographien der einzelnen Botaniker aus. Hier wird am Beispiel Carl Nägelis, J. Albert Wigands, Julius Sachs’ oder Hermann Müllers der Versuch unternommen, sich von deren Herkunft sowohl in sozialer als auch wissenschaftlich-religiöser und philosophischer Sicht Zugang zu der wissenschaftlichen oder privaten Einstellung der einzelnen Botaniker zu verschaffen. In diesem Rahmen werden übersichtliche und straffe Besprechungen der Hauptwerke der genannten Autoren vorgelegt, die am Schluss eines jeden Kapitels in eine kurze Theoriediskussion münden. Dabei wird deutlich, dass der Autor die Auseinandersetzung mit dem Problem Darwinismus im Bereich der Botanik noch nicht für voll abgeschlossen hält.
Teil IV stellt eine Diskussion der Rezeption des Darwinismus dar, wie sie sich hauptsächlich von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. Hier scheint besonders Kapitel B, IV interessant zu sein, das wiederum auf die sozialen, wissenschaftlichen und persönlichen Konditionen der angeführten Autoren eingeht. Dieser Abschnitt lässt nachdenklich werden, weil mit einer gewissen schonungslosen Offenheit Faktoren angesprochen werden, die normalerweise einem Tabu unterliegen. Die Arbeit endet dann auch mit einem Satz von Sigmund Freud, der darauf aufmerksam machte, dass der Menschheit in ihrer Eigenliebe eigentlich nur zwei große Kränkungen zugefügt worden seien, nämlich die, dass nicht unsere Erde den Mittelpunkt des Alls bilde, sondern nur ein winziges Teilchen davon sei und die zweite, dass Darwin das so lange für unantastbar gehaltene Schöpfungsvorrecht des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen zunichte gemacht habe. Wenn Freud sodann auf die heraufkommende dritte große Kränkung, nämlich diejenige durch seine Tiefenpsychologie hinweist, so ist dies zwar verständlich, dürfte aber kaum etwas mit einer fundamentalen Revolution, wie Darwin sie auslöste, gemein haben.
Herr Junker sucht die Auseinandersetzung, die kritische Betrachtung. Er will Anstöße vermitteln, soweit dies auf historisch-retrospektivem Weg überhaupt möglich ist. Vor allem die ausgedehnte Diskussion seiner Ergebnisse in Teil IV lässt dies bewusst werden. Zugleich aber wird deutlich, dass vom wissenschaftshistorischen Standpunkt aus die Rezeptionsgeschichte des Darwinismus in der Botanik noch keineswegs befriedigend bearbeitet worden ist. So steht zu vermuten, dass im Zusammenhang mit den Entwicklungen im gentechnologischen Bereich das vorläufig letzte Kapitel noch nicht geschrieben ist.
Marburg, im April 1989 Rudolf Schmitz
Charles Darwin, 1840
(nach einer Skizze von George Richmond; Darwin 1933)
Die faszinierende Geschichte des Darwinismus hat schon früh Historiker angeregt, die verschiedenen Momente dieser Theorie zu beschreiben, die verschlungenen Wege ihrer Rezeption zu verfolgen und die Ursachen ihres wechselhaften Schicksals zu erhellen.1 Bereits in den 1870er Jahren wurde die Aufnahme der Theorien Darwins als geschichtliche Tatsache beschrieben und seit dieser Zeit wird der Diskussion des Darwinismus und seiner Folgen in biologiehistorischen Werken eine überragende Bedeutung beigemessen. Trotz dieser Wertschätzung, die sich in einer Unzahl von Werken zu Charles Darwins (1809-1883)2 Leben und zur Geschichte seiner Theorien niederschlägt, wurden bestimmte Bereiche und Epochen nur am Rande behandelt. So erfuhr die Krise des Darwinismus und das Aufblühen konkurrierender Theorien um die Jahrhundertwende bis vor wenigen Jahren nur eine sehr verengte Darstellung.
Ein weiterer Bereich der Biologie, der nur stiefmütterlich untersucht wurde, ist die Botanik. Zwar wurde und wird der Beitrag weniger Botaniker zur Kritik des Darwinismus erwähnt, eine detaillierte Untersuchung wurde indes bis auf einzelne Ausnahmen nicht angestellt. Eine Ursache für diese Geringschätzung mag in der Tatsache begründet sein, dass die Biologiehistoriker in ihrer Mehrheit Zoologen sind. So konnte sich die Einschätzung, dass die Rezeption des Darwinismus in der Botanik ein vergleichsweise ruhiger und ereignisloser Vorgang war, bis in die Gegenwart behaupten.
Darwins Origin of species (1859) gab den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der neuen Wissenschaft der Evolution. Erstmals gelang es hier überzeugend nachzuweisen, dass es möglich ist, die Existenz, die Eigenschaften und die Zweckmäßigkeit der Organismen auf natürliche Weise zu erklären. Dies macht es zu einem der wichtigsten Werke der Menschheitsgeschichte und Darwin zu einem der bedeutendsten Biologen aller Zeiten.
In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, das Schicksal der Darwinschen Theorie in der Botanik nachzuzeichnen. Das Schwergewicht liegt dabei auf den ersten zwei Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von Charles Darwins epochemachender Entstehung der Arten (1859). Um ein umfassendes Bild zu gewinnen, wurden möglichst viele Autoren herangezogen, ohne jedoch die Hoffnung zu haben, damit alle relevanten Stimmen, geschweige denn alle Publikationen zu erfassen. Die Entwicklung der Einstellung derjenigen Botaniker, die sich bis etwa 1875 zu Darwins Theorie öffentlich geäußert haben, wurde, um den biographischen Aspekt nicht zu vernachlässigen, auch über diesen Punkt hinaus verfolgt (längstens bis in die 1890er Jahre). Autoren, die den Darwinismus erstmals in den 1880er Jahren oder später in ihren Schriften erwähnen, wurden dagegen nicht berücksichtigt.
Ziel dieser Vorgehensweise war es, diejenigen Botaniker auszuwählen, die die erste Phase der Rezeption des Darwinismus bestimmten. Da diese Autoren ihre wissenschaftliche Ausbildung in der Regel vor 1860 erfuhren, ist ein beträchtlicher Anteil der Kritik am Darwinismus durch das vordarwinsche Wissenschaftsverständnis geprägt. Es lassen sich aber, soviel sei bereits an dieser Stelle bemerkt, auch fast alle wichtigen neuen Konzepte, die später in Konkurrenz zu Darwins Theorie treten sollten, beobachten.3 Als geographischer Rahmen wurde der deutschsprachige Raum gewählt, wobei der Schwerpunkt auf dem Gebiet des entstehenden Deutschen Reiches liegt.
Bevor in einem ersten Schritt die wesentlichen Positionen beschrieben werden sollen, die von den untersuchten Botanikern im Zusammenhang mit Darwins Theorie vertreten wurden, sei der Begriff ‚Darwinismus’ eingegrenzt. Schon Mitte der 1860er Jahre wurde dieser Terminus verwendet, und bereits zu dieser Zeit hatte er mehrere unterschiedliche Bedeutungen.4 In einer üblichen Verwendung steht er für die Evolutionstheorie, ohne Rücksicht auf den zugrunde gelegten Mechanismus.5 Andere Autoren wollten ihn dagegen nur für die Selektionstheorie verwenden.6 Schließlich wurden mit ‚Darwinismus’ weltanschauliche und ideologische Konstrukte bezeichnet, die sich auf Darwins Prinzip der natürlichen Auslese berufen.7
In der vorliegenden Arbeit soll der Begriff für die Gesamtheit derjenigen Theorien stehen, die Darwin in der Entstehung der Arten dargelegt hatte. Ich konzentriere mich dabei auf die für die Rezeption des Darwinismus in der Botanik wichtigsten Punkte: das Prinzip der gemeinsamen Abstammung, die Theorie der (graduellen) Evolution und die Theorie der natürlichen Auslese. Als Darwinisten im eigentlichen Sinne sind also nur Botaniker zu bezeichnen, die sowohl das Evolutions- als auch das Selektionsprinzip vertreten.
Jede der oben genannten Thesen wurde von Darwin in der Entstehung der Arten diskutiert, jede erfuhr eine unterschiedliche Wertschätzung durch einzelne Botaniker, und schließlich rief jede ein anderes Spektrum rivalisierender Theorien hervor. Im Folgenden soll versucht werden, die grundlegenden Positionen, von denen aus die Theorien Darwins beurteilt wurden, zu umreißen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass die einzelnen Standpunkte in sich keineswegs homogen waren, dass vielfältige Berührungspunkte zu und Kombinationen mit anderen, auch scheinbar gegensätzlichen Theorien bestanden, und dass verschiedene Botaniker ihre Meinung änderten. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass einzelne evolutionstheoretische Begriffe trotz ihrer großen Bedeutung zum Teil nicht eindeutig definiert wurden und so, bedingt auch durch die Veränderung der biologischen Gedankenwelt selbst, unterschiedliche Vorstellungen mit ihnen verknüpft wurden. Es handelt sich um folgende Positionen:
1. Theorie der Konstanz der Arten: Die Arten sind unveränderlich, sie sind scharf voneinander abgegrenzt und jede Art besitzt ein ideelles Wesen.
Die Theorie der Konstanz der Arten ist eng verknüpft mit dem idealistischen Artbegriff. Materielle Verwandtschaft soll es nur innerhalb der Art (zwischen den Varietäten) geben, da die möglichen individuellen Variationen durch das ideelle Wesen der Art in engen Grenzen gehalten werden. Die Theorie der Konstanz der Arten ist ein Spezialfall der typologischen Theorien.
2. Typologische Theorie: Es gibt eine begrenzte Zahl unveränderlicher ‚Ideen’ (Typen oder Baupläne), die Ursache und Ziel der materiellen Erscheinungen sind.
In typologischen Theorien wird davon ausgegangen, dass es Gruppen von Organismen gibt, die durch einen gemeinsamen ideellen Bauplan determiniert sind. Der Begriff ‚Typus’ oder ‚Bauplan’ hat auch in der darwinistischen Biologie eine Bedeutung. Er wird hier als passive Folge der gemeinsamen Abstammung interpretiert, während er in den typologischen Theorien als Ursache der materiellen Erscheinungen angesehen wird. Der Bereich, dem ein gemeinsamer ideeller Typus zugrunde liegen soll, wurde unterschiedlich weit gefasst. Die engste Eingrenzung wurde auf der Ebene der Art (= Konstanz der Arten) vorgenommen, aber auch andere systematische Kategorien wie Gattungen oder Familien wurden als durch einen gemeinsamen Bauplan ausgezeichnete Einheiten aufgefasst.
Bis ins 19. Jahrhundert wurde weithin angenommen, dass biologische Arten unveränderlich und von anderen Arten scharf abgegrenzt sind: „Wir zählen so viele Arten, wie verschiedene Formen im Anfang [in principio] geschaffen worden sind“ (Linnaeus 1751, These 157).
Gemeinsame Abstammung soll es gewöhnlich nur innerhalb der Typen geben, während zwischen den Typen nur sprunghafte Übergänge, nicht aber kontinuierliche Entwicklungen möglich sind (siehe auch zur Saltationstheorie). Die hier untersuchten typologischen Theorien versuchten, die Prinzipien der gemeinsamen Abstammung und der Evolution mit einer idealistischen Theorie der Verwandtschaft zu verbinden, indem sie beiden Sichtweisen verschiedene systematische Bereiche zuordneten. So soll es beispielsweise innerhalb von Gattungen evolutive Prozesse geben, zwischen und über diesen Gruppen dagegen keine materielle Verbindung existieren.
3. Theorie der gemeinsamen Abstammung: Die systematische Verwandtschaft der Arten ist verbunden mit einer materiellen Kontinuität.
Eine wesentliche Grundannahme der Theorie der gemeinsamen Abstammung besagt, dass sich die Vielfalt der heutigen Pflanzen und Tiere aus wenigen einfachen Vorfahren durch Veränderung der Gestalt und Lebensweise entwickelt hat. In der materialistischen Variante wurde die Verwandtschaft als passive Folge der Abstammung gesehen, während in der idealistischen Interpretation die ideelle Verwandtschaft die materielle Abfolge ursächlich determinieren soll.
4. Saltationstheorie: Neue Typen (Arten) entstehen durch einen spontanen, sprunghaften Übergang.8
Theorien, die von einem sprunghaften Übergang eines Typus in einen anderen ausgehen, entstanden als Kompromissbildung zwischen der Abstammungstheorie und dem typologischen Denken. Saltationstheorien sind eigentlich keine Evolutionstheorien, da unter ‚Evolution’ allgemein eine allmähliche Entwicklung verstanden wird. Die Schwierigkeit der Saltationstheorien besteht darin, dass der postulierte, unvermittelte Sprung weder aus der Eltern- noch aus der Tochtergeneration zu erklären ist, sondern eine rein formale Anknüpfung darstellt. Da die Veränderung der Arten nicht als ein natürlicher Entwicklungsprozess verständlich gemacht werden konnte, lag es nahe, hier in der Tradition theistischer Schöpfungstheorien einen Beweis für göttliches Wirken zu sehen.9
5. Evolutionstheorie: Die Arten entwickeln sich allmählich weiter (Transformation) und auseinander (Diversifikation).10
Die meisten Evolutionisten konzentrierten ihre Aufmerksamkeit nur auf eines dieser beiden Elemente der Evolution. Während Jean-Baptiste de Lamarcks (1744-1829) Interesse vorwiegend der Transformation der Arten galt, untersuchte Darwin in besonderem Maße ihre Vervielfältigung (Diversifikation). Die unterschiedliche Betonung von einer der beiden Komponenten in der Evolution der Arten spielte auch in der Botanik eine Rolle; sie war meist abhängig von der spezifischen Fragestellung der einzelnen Autoren.
6. Selektionstheorie: Die Evolution wird durch einen zweistufigen Mechanismus hervorgerufen. Im ersten Schritt entsteht durch einen Zufallsprozess genetische Variabilität. Der zweite Schritt besteht darin, dass sich aus der Vielzahl der so entstandenen Individuen wegen der begrenzten Ressourcen der Natur nur wenige selbst wieder fortpflanzen können. Der Fortpflanzungserfolg soll abhängig von den spezifischen Eigenschaften des Individuums sein (= natürliche Auslese).
Die physiologischen Mechanismen, durch die die natürliche Variabilität entsteht, wurden zu Darwins Zeiten nicht verstanden. Erst im 20. Jahrhundert konnten als wesentliche Ursachen dieses Phänomens Mutation und Rekombination identifiziert werden. Zufällig ist dieser Vorgang, weil die Variationen in keinem Zusammenhang mit den augenblicklichen Bedürfnissen des Organismus oder der Art seiner Umwelt stehen. Bis zum Neo-Darwinismus wurde die Selektionstheorie von verschiedenen Autoren mit lamarckistischen Elementen kombiniert.11
7. Lamarckismus: Die Evolution soll durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden, indem die (phänotypischen) Eigenschaften, die ein Organismus während seines Lebens erwirbt, an die Nachkommen vererbt werden.12
Wichtig Elemente des (Neo-)Lamarckismus sind die Betonung der vertikalen Evolution (Transformation) und der Vererbung erworbener Eigenschaften (= indirekte Vererbung). Während die Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch in der Botanik kaum eine Rolle spielte, wurde eine unmittelbare Auslösung von Veränderungen durch die Umwelt (= Umweltinduktion) vertreten. Diese Variante des Lamarckismus wird auch als Geoffroyismus bezeichnet.13 Eine andere Richtung des Lamarckismus betonte den Einfluss geistiger Kräfte auf die evolutive Entwicklung (Psycho-Lamarckismus).14
8. Orthogenetische Theorie: Die Evolution ist ein gerichteter Prozess, der sich unabhängig von den Anforderungen der Umwelt aufgrund innerer Faktoren entfaltet.15
Eine wichtige Annahme orthogenetischer Theorien besagt, dass die durch das innere Prinzip verursachten evolutiven Trends keinen Anpassungsnutzen für die jeweiligen Organismen haben und sogar zum Untergang einer Art führen können. Die Trends sollen entweder zu einer Vervollkommnung führen oder einen der Ontogenese analogen Lebenszyklus bewirken. Die orthogenetischen Theorien werden oft nicht von echten teleologischen Theorien unterschieden. Zwar bestehen enge personelle und inhaltliche Verbindungen, die Vertreter der Orthogenesis versuchten aber, das Zielgerichtetsein durch ein inneres Programm (als teleonomen Vorgang), nicht jedoch durch ein äußeres Ziel zu erklären.16
9. Teleologische Evolutionstheorie: Die Evolution bewegt sich auf ein Ziel zu, das zugleich die letzte Ursache der Entwicklung ist.17
Diese Theorien hatten meist einen theistischen Hintergrund. Sie versuchten, die Idee der Evolution mit der religiösen Vorstellung einer geplanten Welt zu vereinbaren. Als Angriffspunkt für den göttlichen Willen wurde die natürliche Variabilität bestimmt, die nicht zufällig, sondern gerichtet sein soll. Es bestanden fließende Übergänge vor allem zu orthogenetischen Theorien.
10. Ontogenetisches Paradigma: Die evolutionäre Entwicklung ist ein Vorgang, der im Wesentlichen wie die ontogenetische Entwicklung (oder wie Phasen derselben) abläuft. Die Stammesgeschichte wird also nach dem Vorbild der Individualentwicklung gesehen.18
Beim ontogenetischen Paradigma handelt es sich nicht wie bei den anderen Positionen um ein eigenständiges theoretisches Modell. Die ontogenetische Entwicklung wurde vielmehr als Beispiel herangezogen, um einzelnen Theorien zur Evolution Plausibilität zu verleihen. Die Annahme, dass die evolutionäre Entwicklung ein gerichteter Vorgang sei, wurde von einigen Autoren beispielsweise durch die Analogie mit der Sukzession der Blätter bei den Blütenpflanzen untermauert; wie an der einzelnen Pflanze die Entwicklung in geregelter Weise von den Keimblättern über Hochblätter zu den Blüten- und Staubblättern fortschreitet, so soll auch die Evolution der Arten in Form eines Lebenszyklus erfolgen. Nach diesem Modell wurde etwa gefolgert, dass die verschiedenen phylogenetischen Reihen Jugend, Blütezeit, Alter und Tod durchlaufen.
Die Vorstellung, dass die Stammesgeschichte Gesetzen unterworfen ist, die sich auch in der Individualentwicklung finden, hat eine lange Tradition. Sie lag beispielsweise den Entwicklungstheorien der romantischen Naturphilosophie zugrunde. Es ist auffällig, dass die von mir untersuchten Botaniker, die sich auf das ontogenetische Paradigma bezogen, die Berechtigung dieser Vorgehensweise nicht hinterfragten, sondern eine entsprechende Parallele als selbstverständlich voraussetzten.19
Darwins schematischer Stammbaum aus der Entstehung der Arten (1859: 116) zeigt die Weiterentwicklung der Arten in der Zeit und ihre Aufspaltung im Raum.
In dieser Weise beschrieben, wirken die verschiedenen Theorien eindeutig. Es zeigt sich jedoch bei genauerer Betrachtung, dass die einzelnen Positionen ineinander übergehen können und dass zahlreiche Verbindungen zwischen scheinbar unvereinbaren Theorien bestehen. Nichtsdestoweniger soll dieses Raster helfen, die oft sehr eigentümlichen Standpunkte auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen. Darwin selbst verknüpfte in der Entstehung der Arten die Prinzipien der gemeinsamen Abstammung, der Evolution und der Selektion zu einer einheitlichen Theorie. Daneben nahm er an, dass lamarckistische Effekte eine gewisse Rolle spielen.
Viele der oben genannten Positionen hatten bereits eine lange Tradition in der wissenschaftlichen und philosophischen Diskussion, bevor sie nach 1859 unter dem Eindruck von Darwins Theorien neu gefasst wurden, um den erhöhten Anforderungen gerecht zu werden. Sie stellen in diesem Sinne Rückzugspunkte oder Kompromissbildungen zwischen verschiedenen Bestandteilen der Darwinschen Theorie und tradierten Vorstellungen dar. Der Anlass zu diesen Reaktionen war die offensichtliche Überlegenheit der Argumente Darwins, durch die der Biologie ein neuer Bereich der Forschung erschlossen wurde, und die bereits nach kurzer Zeit (spätestens ab Mitte der 1860er Jahre) so populär waren, dass sie auch aus der innerbotanischen Fachdiskussion nicht mehr ausgeblendet werden konnten. Da jedoch in wesentlichen Punkten ein grundlegender Widerspruch zu bewährten wissenschaftstheoretischen und religiösen Vorstellungen bestand, war es für viele Botaniker nicht akzeptabel, sich zu Darwins Theorie zu bekennen.
Sieht man von den wenigen Autoren ab, die sich – unbeeindruckt von der wissenschaftlichen Entwicklung – zur Konstanz der Arten bekannten, und von den Botanikern, die sich ganz hinter Darwins Theorie stellten, so lassen sich die verschiedenen Standpunkte auch als Kompromissbildungen deuten, die aus der partiellen Abwehr unerwünschter Vorstellungen entstanden.20 Vor allem die Frage, ob die evolutive Entwicklung ein geordneter Vorgang sei, oder ob sie, wie Darwin vermutete, in vielen Bereichen zufällig ist, hatte weltanschauliche und religiöse Relevanz. Es soll aber betont werden, dass viele Einwände gegen Darwins Theorien berechtigt waren und dass diese Kritik einen wichtigen konstruktiven Beitrag zur Wahrheitsfindung darstellte.
Die vorliegende Untersuchung besteht aus zwei Teilen. In der ersten Hälfte werden möglichst viele Autoren im Zusammenhang mit ihrer speziellen botanischen Fragestellung untersucht. Da manche Autoren sich unter verschiedenen Aspekten mit dem Darwinismus auseinandersetzten, ließen sich Überschneidungen bei der Einteilung nicht vermeiden. Im zweiten Teil wird diese eher breite Untersuchung durch die detaillierte Darstellung weniger Botaniker ergänzt.21 Als besonders interessante Reaktionen auf den Darwinismus wurden hierzu die Schriften von Carl Nägeli, Albert Wigand, Julius Sachs und Hermann Müller ausgewählt. Während Nägeli, Wigand und auch Sachs die Darwinsche Theorie vom Standpunkt der Morphologie aus beurteilten, traten bei Müller vor allem funktionelle (blütenökologische) Aspekte in den Vordergrund.
Ab den 1930er Jahren hat der Tübinger Botaniker Walter Zimmermann (1892-1980) die Evolution der Pflanzen in konsequent evolutionärer und selektionistischer Weise erforscht (Abb. 1930: 28).
1) Zur Geschichte der Evolutionstheorie vgl. Huxley 1859, 1860, 1887; Meyer 1866; Schleiden 1869a; Brace 1870; Osborn 1894; Kellogg 1907; Rádl 1909-13; R. Hertwig 1914; Heberer 1949; Eiseley 1958; Zimmermann 1960; Mayr 1964, 1991: 90-107; Mullen 1964; Günther 1967; Querner 1973, 1975; Glick 1974; Hull 1974, 1985; Montgomery 1974a, b; Zirnstein 1975; Altner 1981a; Kelly 1981; Regelmann 1982; Bowler 1983, 1984, 1988; Grene 1983; Pancaldi 1983; Corsi & Weindling 1985; Hoppe 1985; Young 1985b; Wuketits 1988, 2005; Rieppel 1989; Moore 1991; Young 1992; Baumunk & Rieß 1994; Gayon 1992;Engels 1995, 2000a, b, 2009; Junker 1995a, 1995b, 2004b, 2005, 2008b, 2009c, 2009d; Tort 1996; Brömer et al. 2000; Rupke 2000; Hoßfeld & Brömer 2001; Riedl 2003; Bayertz et al. 2007b; Engels & Glick 2008; Junker & Hoßfeld 2009.
2) Zu Leben und Werk von Charles Darwin (1809-1883) vgl. Krause 1885; Darwin 1959; Himmelfarb 1959; Gruber 1981; Ospovat 1981; Churchill 1982; Zirnstein 1982; Schmitz 1983; Hemleben 1985; Kohn 1985; La Vergata 1985; Richards 1987; Desmond & Moore 1991; Mayr 1991; Baumunk & Rieß 1994; Browne 1995, 2002; Junker 1998, 2001, 2009a; Wuketits 2005; Engels 2007; Voss 2007.
3) Als Ausnahme wäre nur der Mutationismus zu erwähnen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der Mendel‘schen Arbeiten entstand (de Vries 1901-03; vgl. Weber 1998: 34-48; Junker & Hoßfeld 2009: 162-64).
4) Darwin trug mit zu dieser Verwirrung bei, da er in Origin of species verschiedene, zum Teil voneinander unabhängige Theorien vermischte. Er scheint seine Theorie als eine unteilbare Einheit aufgefasst zu haben (vgl. Mayr 1985).
5) In diesem Sinne wurde ‚Darwinismus’ z.B. von Grisebach ([1865] 1880: 274), Celakovsky (1873: 313) und Wigand (1874-77, Bd. 1: 4-6) gebraucht.
6) So schrieb Nägeli: „Die Nützlichkeitstheorie ist der Darwinismus“ (1865a: 16 Fn.). Ähnlich äußerten sich Strasburger (1874: 7 Fn.) und Sachs (1893b: 64). In diesem Sinne wird der Begriff heute meist in der Biologie gebraucht (Junker 2005, 2009d).
7) Im Laufe der Geschichte bezogen sich verschiedene biologistische Ideologien auf Darwin wie der Sozialdarwinismus, der Rassismus oder der biologische Determinismus. [Anm. 2011: Die Wechselbeziehungen zwischen der Evolutionstheorie und wissenschaftlichen, weltanschaulichen und politischen Systemen sind sehr komplex und erschöpfen sich nicht in der Übernahme einzelner, negativ bewerteter Konzepte wie dies die Schlagworte ‚Sozialdarwinismus‘ oder ‚Biologismus‘ suggerieren. Vgl. Mann 1969, 1973a, b, 1975; Altner 1981a; Young 1985a; Weingart et al. 1988; Sieferle 1989; Baumunk & Rieß 1994; Junker 2006b].
8) Von lat. saltare ‚springen’. In der Botanik entwickelte Heer eine als Theorie der ‚Umprägung’ bezeichnete saltationistische Theorie. Zu Inhalt und Geschichte der Saltationstheorien vgl. Mayr 1979: 83-84; Dietrich 1992; Junker & Hoßfeld 2009: 162-64.
9) Sehr bekannt wurde die Theorie der heterogenen Zeugung von Albert Kölliker (1817-1905). Sie besagt, „dass unter dem Einflusse eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes die Geschöpfe aus von ihnen gezeugten Keimen andere abweichende hervorbringen“ (1864: 10). Kölliker geht von Beobachtungen über den Generationswechsel bei Tieren aus und folgert daraus, dass die Stammesgeschichte sowohl planvoll als auch sprunghaft abgelaufen sei. So soll beispielsweise ein Beuteltier ein Nagetier hervorgebracht haben (1864: 10-15). Auch die moderne Evolutionstheorie kennt diskontinuierliche Vorgänge, beispielsweise die Mutationen. Es handelt sich dabei aber um Mikrosprünge, die nicht mit Heers ‚Umprägungen’ oder mit Köllikers ‚heterogenen Zeugungen’ vergleichbar sind.
10) Von lat. evolvere ‚abwickeln’. Ursprünglich wurde mit ‚Evolution’ die ontogenetische Entwicklung bezeichnet. In den 1860er Jahren wurde der Begriff von Herbert Spencer (1820-1903) auf die phylogenetische Entwicklung übertragen (vgl. Baron 1968 a, b; Bowler 1975; Geschichte der Biologie 1985: 219, 363). Darwin selbst sprach von ‚gemeinsamer Abstammung mit Modifikationen’, andere Autoren von ‚Transmutation’ oder ‚Deszendenz’.
11) Lamarckistische Mechanismen vertraten beispielsweise Darwin, Haeckel und Hermann Müller. Zu einer Polarisierung zwischen Neo-Lamarckismus und Neo-Darwinismus kam es in den 1980er Jahren unter dem Einfluss von August Weismann (1883, 1885; vgl. Romanes 1892-97; Bowler 1983: 40-42; Churchill & Risler 1999; Junker & Hoßfeld 2009: 154-59). Zu den Vererbungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts vgl. Barthelmess 1952; Dunn 1965; Stubbe 1965; Olby 1966; Jacob 1970; Bowler 1983: 182-226; Churchill 1987; Hoppe 1998; Junker 2001; Rheinberger & Müller-Wille 2009.
12) Nach Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829). Der Begriff ‚Neo-Lamarckismus’ wurde 1885 von Alpheus Spring Packard (1839-1905) geprägt (vgl. Bowler 1983: 59). Von Lamarck übernahm der Neo-Lamarckismus die Vererbung erworbener Eigenschaften. (Dieses Prinzip geht nicht auf Lamarck zurück, sondern war allgemein verbreitet.) Nicht von Lamarck sind die direkte Erzeugung neuer Merkmale durch die Umwelt und ein Effekt des Willens. Dagegen wurde Lamarcks Haupttheorie der inneren Tendenz zur Höherentwicklung vom Neo- Lamarckismus nur am Rande vertreten. Zum Mechanismus Lamarcks vgl. Lamarck 1809; Burkhardt 1977; Mayr 1984: 281-85; Lefèvre 2009. Zum Neo-Lamarckismus vgl. Wettstein 1903; Wagner 1909; Bowler 1983: 58-106; Mann 1984; Junker 2006; Junker & Hoßfeld 2009: 152-54.
13) Nach Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844). Lamarck selbst lehnte die Umweltinduktion ab (vgl. Mayr 1984: 288-89).
14) Ein Vertreter des Psycho-Lamarckismus war Hermann Müller. Zur Geschichte des Psycho-Lamarckismus vgl. Mann 1984: 716-17; Rádl 1909-13, Bd. 2: 449-56.
15)