„Das Reden ist nicht mein Ding –
Malen liegt mir mehr.“
Lorenz Leisner, 13. Oktober 1971
„[Wer den visuellen Diskurs zugrunde legt], darf nicht aufhören die Stimme zu erheben, wenn [Irrationalität] die öffentliche Debatte zu erobern droht.“
Ralf Dahrendorf
ZU LORENZ LEISNER (1906–1995)
Meist im Rahmen von Anekdoten erzählt Leisner, wie er 1924 zur Malerei gekommen sei. Die Geldentwertung hatte seinen Traum von einem auswärtigen Kunststudium platzen lassen; er geht den Weg des Autodidakten. Die Entscheidung hält ein Leben lang. Das der Malerei gewidmete Leben schließt am Sterbebett mit dem Auseinanderziehen einer Teepfütze: „Guck mal, siehst du das?“ (Kap. H.)
Die Schwerpunkte seiner künstlerischen Entwicklung beginnen in der Lübecker Zeit von 1926 bis 1935. In einem Kollektiv von fünfzehn Interessierten wurde gezeichnet und diskutiert. „Alle hatten viel davon“, so Leisner.
Leider ist durch Ausbombung das Malwerk der Zwischenkriegszeit verloren. Erhalten sind lediglich das „Selbstbildnis mit Ehefrau“ (1931), das Portrait der „Frau Warner“ (1932) und einige Bleistiftskizzen.
Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen hat Leisner schwere Depressionen. Aber bereits 1947 stabilisiert sich seine innere Kraft, sich wieder in den Griff zu bekommen und Dialogfähigkeit mit malerischen Mitteln herzustellen. Die Kunst wird nun erneut für ihn zum transzendentalen Obdach. Das, was den Deutschen als entartet vorenthalten war, musste nun nachgearbeitet werden. Dieses leisteten in Hannover der Kunstverein und die Kestnergesellschaft, bzw. die documenta 1 in Kassel (1955 ff). Überschwänglich formuliert Leisner auch später noch: „Die Warmbüchenstraße wurde mir zum Wallfahrtsort.“
In den Folgejahren entwickelt er seine dem Zeitgeist entgegenstehende „Malerei des Visuellen Diskurses“ unabhängig von allen aufkommenden Kunstdoktrinen. Die Freiheit des Autodidakten Leisner ist die Freiheit von jeder Schule, jedem Galeristen, jedem Sammler und jeder Mode. Darüber hinaus ist er finanziell unabhängig geblieben, da er seinen Broterwerb als Angestellter verdiente. Der Preis war bittere Einsamkeit: „Du passt nicht in unsere Zeit“, so ein Kuratoriumsmitglied zur Polenausstellung 1979.
ZUM AUTOR
In dieser Situation habe ich als junger Student Lorenz Leisner in den 70er Jahren zu Beginn seiner Ausstellungsreihe kennen gelernt. Fast täglich sah man ihn in Galerien, ja auch in Kneipen in Fachgesprächen diskutieren. Aber Leisner war ein Außenseiterbewusstsein in der hannoverschen Künstlerszene. Dennoch nahm er Interessierte mit zu sich nach Hause, um die Gespräche an seinem Werk fortzusetzen. Zu diesem Teilnehmerkreis zählte auch ich. Viele Male erlebte ich, wie er zum Einstieg immer neue Bildreihen zusammenstellte, woraus sich vielfältige Dispute zu Inhalten, Entwicklungen, Stilen usw. entwickelten. Damals ahnte ich noch nicht, wie wichtig diese Zeitzeugenschaft einmal für die vorliegende Arbeit werden sollte. So weit so gut, Fakt ist, Leisner ist tot; somit wird er zum Gegenstand kunsthistorischer Betrachtung.
Das Werk ist heute noch im wesentlichen an den fünf Standorten der Nachkommen konzentriert und konnte von mir freundlicherweise wiederholt eingesehen werden. Ferner wurden Dokumente, Notizen, Zeitungsartikel, Fotos usw. zur Verfügung gestellt. Wichtige Ergänzungen zur Lebensgeschichte, aber auch zur Entstehungsgeschichte einzelner Bilder lieferten die Familienmitglieder als Zeitzeugen.
Bei der Sichtung, Bewertung und der Einordnung in den historischen Kontext war die Vernetzung in Bildketten hilfreich, gemäß der Vorliebe Leisners, seine Bilder Besuchern unter bestimmten Schwerpunkten zu präsentieren.
Ich selbst betrachte mich als Berichterstatter. Bei Kunst ist historische Sensibilität bzgl. der Gefahren von Über- und Unterbewertung von Fragestellungen und Schwerpunkten besonders gefordert. Vor dieser komplexen Aufarbeitung zu resignieren, war für mich von Beginn an keine Alternative. Sie bedeutete die Gefahr des Missverstehens beispielsweise der Bilder „Parzellen“ nur als konstruktivistische Malerei oder der „Figurationen“ als Wesen von Zwischenwelten oder der „Masken“ als karnevalistische Veranstaltung.
Solange Zeitzeugen ihren Beitrag noch beisteuern können, muss diese Arbeit jetzt erfolgen, spätestens jetzt.
ÜBERLEGUNGEN ZUM EINSTIEG UND ZUGANG
Wer den Zusammenhang von Werk und Künstler als Grundorientierung sucht, wird über die Selbstbildnisse, seine Biographie und seine Standortbeschreibung zu weiteren Bildern und Fragestellungen kommen.
Eine Ideologie-Zuweisung ist bei Leisner nicht möglich, wohl aber die Darstellung des Konzeptes des Visuellen Diskurses. Mit seinen Gestalten der Propheten, Heilslehrer, Oberpriester steht er gegen die herrschende Kunstszene. Sie können Ausgangspunkt für einen selbstständigen Weg durch das Leisnersche Angebot darstellen.
So, wie Leisner scheinbar wahllos Schwerpunkte seiner Kulturlandschaft abarbeitet, können durch die Streiflichter problemorientierte Einstiege gesetzt werden.
Wer den unvoreingenommenen Zugang über ein einzelnes Bild bevorzugt, wird in der Fundgrube des Leisnerschen Werkes zu weiterführenden Vernetzungen und Aktualitätsebenen gelangen. Leisner hätte seinen Spaß daran.
SCHLIESSLICH IST DANK ZU SAGEN
denen, ohne deren Hilfe die vorliegende Arbeit nicht hätte realisiert werden können. Zunächst ist meine Frau Annemarie zu nennen, die mich immer wieder bestärkt hat, mein Vorhaben endlich zu beginnen. Die noch lebenden drei Kinder (Rosemarie Paucke, Bärbel Wiekenberg und Uwe Leisner) waren mir grundlegende Informationsquellen. Für viele Kommentare und Anregungen bin ich dem Enkelsohn, Dr. Arne Leisner und seiner Frau Susanne Leisner besonders verpflichtet. Die fotografische Reproduktion vieler Bilder und das Layout leistete Susanne Leisner, wofür ihr insbesondere Dank geschuldet ist.
GEORG ELLERBECK
Nach einem Jahrhundert totalitärer Angebote erfährt Lorenz Leisner nach 1945 die Möglichkeit der Selbstverwirklichung in einer offenen Gesellschaft. In kritischer Beobachtung des Zeitgeschehens kontrolliert er die Einhaltung der Prinzipien des Diskurses.
Als unzeitgemäßer Maler sieht er sich konfrontiert mit der herrschenden Kunstszene. Die Proklamation vom „Ende der Malerei“ mit ihren entsprechenden Heilsbotschaften muss für ihn eine unfassbare Absurdität im Hinblick auf die historische Verantwortung der als überwunden geglaubten totalitären Verführungsmechanismen darstellen. In den Pseudo-Solidargemeinschaften der avantgardistischen Milieus mit ihren Merkmalen der Repression nach innen und Aggression nach außen wird auf Freiheit zugunsten doktrinärer Bindung verzichtet. Entindividualisierung ist der Preis für Teilhabe an einer esoterischen endzeitlichen Welt. In ideologischer Verklärung wird Identität geopfert zugunsten einer Gefolgschaft für eschatologische und totalitäre Utopien. (Kap. D.)
In manchen seiner Figurinen verwandelt Leisner verscherbelte Individualität in bevormundende Masken. Der dazugehörige sendungsbewusste Kunstpapst im nonkonformistischen Survival-Look und seine gläubige Jüngerschaft, die auch ungefragt Bekenntnis ablegt: „Ich bin Schüler von…“, tanzen zwei Jahrzehnte durch die bundesrepublikanische Kunstszene. In Ablehnung soziokulturellen Ballasts, in der Entgegenständlichung und der Entpolitisierung gewönne Kunst den reinen Status. 1
Die Abstraktionsmodelle dienen als Beleg antifaschistischen Seins, wohingegen überkommenen Weisen unterstellt wird, auf konservativ Überholtem oder auf reaktionären, gar faschistoiden Strukturen zu beharren. In der Zeit des Kalten Krieges geriert die Abstraktion zum Palladium westlichen Freiheitsbegriffs und einem unvergleichlichen Doktrinarismus bei Nichtbeachtung und ausdrücklichem Desinteresse an gesellschaftlichen und tagespolitischen Fragestellungen.
In der durch seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen gefestigten Aversion gegen jegliche teleologische Weltdeutung und ihre Transformationen in Kunstdoktrinen widersteht Leisner allen Anfechtungen der Vereinnahmung. 2 Durch Identitätsstärke gesicherte Selbstdisziplinierung kann er seinen Ansatz eines visuell kommunikativen offenen Diskurses gegen jegliche Versuchung behaupten. (Kap. E.)
Die Rezeption Leisnerscher Bilder auf historisierender und soziokultureller Basis ist durch dieses spezifische Malereikonzept vorgegeben und wird dadurch mitteilbar. Mag sein, dass der eine oder andere Gesegnete dennoch bei dem Aspekt: „Malerei beginnt da, wo Sprache endet“, im Delirium arkadischer Zustände das Einswerden von Bildobjekt und Sein erfährt. Das Postulat des rationalen Diskurses muss davon unberührt bleiben.
Bei der Bearbeitung wird die Notwendigkeit deutlich, die lebensgeschichtlichen und historisch-geographischen Gegebenheiten mit heranzuziehen. Über Detailbeobachtungen am Werk (Kap. I.) finde ich zur Kategorisierung. So vermag eine kontextbasierte Begleitung in Aktualitätsebenen (s. Tabelle zur Decodierung in Zeitfenstern) und Vernetzungen (s. Kategorialdiagramm zur Vernetzung, Kap. C.4.1. f) Leisners Malerei vor Heilsbotschaften zu schützen. 3
Die einschränkende Betitelung eines Bildes wie „Kultstätte“ (1979, Öl, Bk) beispielsweise zöge bei Nichtbeachtung des kulturhistorischen Hintergrundes eine fatale unentwickelte Rezeption nach sich. Sie verzichtet auf die Verifizierung einer Theologie über den Kreuzestod hinaus. Es ist ein leidenschaftliches Bild des Kopfes, nicht der irrationalen Sehnsucht. So muss mit emotionaler Intelligenz beim Bild im Bilde
mitreflektiert werden. Für Leisners Werk ist auch die Theologie lediglich der Versuch, mit philologischer Argumentation an der Welt der ratio teilzunehmen; in Wahrheit ist sie in der Gottferne begründet. (Kap. B.3.2., „Turmbau – Sprachverwirrung“)
Leisners „Propheten“ sind Propheten der Umkehr und nichts anderes, säkularisiert und enttarnt. Sie können weder versprechen, das Paradies über ein abstraktes Farbspektakel (vgl. Kölner Kirchenfenster) zu „schauen“, noch die Negation desselben als „Entartung“ begreifen. Es sind auf die ratio reduzierte Diskursteilnehmer einer leidenschaftlich geführten visuellen Kommunikation. (Kap. B.1.)
Die phänomenologische Erarbeitung ist aus Gründen der Lesbarkeit und Ökonomie in Kapitel übersetzt. Dadurch müssen Überschneidungen und Wiederholungen in Kauf genommen werden.
VERSTÄNDIGUNGSEBENEN FÜR LEISNERS MALEREI DER VISUELLEN KOMMUNIKATION (KAP. B.3.2.) |
I Ebene der Informationsträger (Beispiele)
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II Metaebene: Kategorien (Beispiele)
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III Kunst als Visuelle Kommunikation
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1 Ottomar Domnik, Die schöpferischen Kräfte in der abstrakten Malerei, 1947 / Borger, Mai, Waetzold (Hg), Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln, 1991
2 vgl. Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit, München 2006, Verl. C.H. Beck
3 vgl. Fußnote 2
In Ermangelung einer umfassenden Kulturgeschichte soll in einem gesonderten Kapitel der allgemeine Sozialisationshorizont von 1880 bis 1980 (Kap. B.2.) in Eckpunkten verdeutlicht werden. Der informierte Leser wird es möglicherweise überschlagen, aber die enge Verbindung zum Leisnerschen Werk nicht übersehen und unterschlagen wollen.
Die Anmerkungen zur Teleologie des auslaufenden Kaiserreichs, zu den politischen und sozialen Bedingungen der Zwischenkriegszeit, zum kollektiven Marsch in den Totalitarismus und zu den Dispositionen der Nachkriegszeit mögen stellenweise umfangreich und überflüssig erscheinen. Sie sind bei Leisner jedoch ein Erfordernis zum erschließenden Begreifen zusammenhängender Bilderketten.
Die Forderung, das Werk eines Künstlers und ihn selbst in einem Koordinatensystem historischen und geographischen Kontextes zu verstehen, ist trivial. Jeder tut es mehr oder weniger differenziert: der kunstbeflissene Laie wie der die allgemeine Orientierungslosigkeit in der Kunst beklagende Galerist oder Kurator.
Das Fehlen einer umfassenden und offenen Kulturgeschichte erschwert die Überwindung einer zunehmenden Unübersichtlichkeit. Sie ermöglichte, wenn es sie denn gäbe, die Spreu vom Weizen, den Schlamm von kultureller Substanz zu trennen. Der kunstorientierte Mittelständler empfindet den quantifizierten und globalisierten Kunstmarkt als unerträglich.
Dabei tritt der ökonomische Aspekt in den Vordergrund und erreicht durch gezielte marktstrategische Manipulationen zur Gewinnmaximierung kunstferne Dimensionen. Die Definition von Kunst orientiert sich monetär. Immer mehr Unternehmer, Konzerne und Banken treten freigebig in Erscheinung (z.B. Hugo Boss, Allianz, Siemens, BMW, Deutsche Bank usw.). Ritter-Sport mit den quadratischen Produkten bevorzugt in seiner Galerie geometrisierende Malerei. Da aber wirtschaftliche und rein finanzielle Interessen des Kapitals im Vordergrund stehen, stellt sich die erkenntnisleitende Frage, wem das Engagement eigentlich nützt. Private und staatliche Stiftungen kooperieren immerhin noch mit Museen, Nationalgalerien und Kunstmessen. „Man“ erstellt Shortlists, und paritätisch besetzte Jurys entscheiden. Das Ziel sind international beachtete Glamour Events, die sowohl den Unternehmen als auch den wirtschaftlich zunehmend abhängigen und nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu managenden Museen dienen.
Wo die Sekundärkosten die Etattitel der Galerien sprengen, treten ökonomische Gesichtspunkte in den Vordergrund. Die „Gralshüter“ beginnen, ihre Schätze zu versilbern und reimplantieren sie in den kommerziellen Kreislauf. Auf den Kunstmärkten der Avantgarden können die staatlichen Institutionen gegen milliardenschwere Aufkäufer nicht mithalten. Es entstehen Privatsammlungen mit eigenen Tempeln von Moskau bis L.A. Die Gralshüter geraten in die Rolle bittstellender Klinkenputzer und prostituieren sich mit Expertisen. Sie nehmen sehenden Auges teil an den marktmechanistischen und didaktischen Kreisläufen, die sie so befördern und beschleunigen.
Auf dem Markt werden Produkte adressenorientiert für alle wirtschaftlichen Schichten bereitgestellt. Die weniger Begüterten bedienen sich beim Discounter mit 5,- EUR und der Hedgefond-Milliardär auf einer Auktion mit 140 Millionen (für ein Tropfbild). Phänomenologisch geht es um die Definition von Kunst. Der 8-Millionen-Hai in Formaldehyd wird von seinem milliardenschweren Besitzer als „Meisterwerk“ deklariert; wie sollte er auch anders, gefährdete er sonst seine eigene Investition, eine Steigerung des Mehrwertes. „Die physikalische Unmöglichkeit von Tod …“ geriert zur Sottise, da der Hai wegen handwerklicher Schludrigkeit schrumpft. In einem zweiten Versuch wird vom Künstler 200-jährige Bestandsgarantie gegeben. „The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living“. Wenn die selbsternannte Expertisenkompetenz zum Sottisenspuk merkantil nicht reichen sollte, wird das zu dienende Personal aus der Kuratorengilde gekauft. Das Geschäft mit der Kunst erfährt marktmechanistisch einen ergänzenden Dreh in der Spirale.
Ein weiterer Gesichtspunkt sind die ideologieorientierten Eingriffe in die Geschichte der Kunst und Kultur bei der Definition des Erlaubten. Sie hat es immer gegeben. Nur mit dem Sieg der abendländischen Philosophie über die Heilslehren bestand berechtigte Hoffnung, dass Bilderstürmerei, in welcher Form auch immer, der Vergangenheit angehörte.
Zu Lebzeiten Leisners gibt es im 20. Jahrhundert zwei epochebestimmende Interventionen in der Kunst: es ist zum einen der einmalige Vorgang im Land der Dichter und Denker, die nichtarische Malerei nationalsozialistisch als „entartet“ zu stigmatisieren und ritualisiert („Ich übergebe dem Feuer…“) zu vernichten, bzw. Devisen bringend zu verscherbeln. Es ist zum anderen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die kulturrevolutionäre Verkündung der „Krise der Kunst“ und schließlich des „Endes der Malerei“. An diesem Prozess wirken eine ganze Künstlergeneration und ihre Propheten mit. (Kap. D.1. f) Sie halten über Jahrzehnte die Definitionsgewalt. Auflösung und Destruktion bis hin zu physisch angewendeter Gewalt sind die expliziten Grenz- und Raumüberschreitungen der bekennenden Heilslehrer mannigfaltiger Couleurs.
Leisner codiert seine „Propheten“ auf hoher Abstraktionsstufe oft in der Fünferkonstellation und weist damit auf die großen alttestamentlichen Mahner zur Rückkehr auf den rechten Weg. Das Paradigma zur Umkehr vom Irrweg kennzeichnet seine Propheten als Umkehrpropheten. Die Prophezeiung vom Ende der Malerei auf Grund einer doktrinären Heilsbotschaft dagegen lässt keine Umkehr zu; sie ist endgültig. Es gibt nichts mehr zu sagen, es gibt nichts mehr zu malen. Die sich selbst berufenden Propheten und ihre Botschaften visualisiert Leisner in ihren Inszenierungen als „Botschafter des Heils“. Ihre Lehren werden sakral autorisiert durch
Mit charismatischer Wortgewalt treten die Gesandten als „Pharisäer“, „Hohepriester“, Erweckungspropheten auch institutionalisiert als Konzil und Inquisition auf. Die „Frostriesen“ und „Mondbrüller“ (Kap. D.1.) sind Schöpfungen der Sehnsucht nach sinnstiftender Erlösung. Die „Avantgardisten im Netz“ finden Zuflucht in den Hochsicherheitstrakten ihrer Ideologien. (Kap. D.) Die Verbindung des Chtonischen mit dem Kosmischen (Kap. D.1.6.) kann vom „Peterchen auf seiner Mondfahrt“ (Kap. D.1., Bv) nur geträumt werden. In Ermangelung einer kritisch konzeptionellen Kunstgeschichte kreist die „Hochmoderne“ in sich selbst bestätigenden Zirkeln. So musste sich Leisner von Beginn seines Schaffens und immer wieder mit dem Thema Macht und Gewalt in Staat, Gesellschaft und ihren Teilsystemen befassen. Ganze Reihen seiner Bilder sind ohne diesen Hintergrund nicht zu begreifen.
Gesellschaftskritische Analyse setzt Wissen voraus. Muss eine kunstbeflissene „Tante Frieda“ (1978, Öl, Bk) nun all die soziokulturellen Hintergründe mit ihren kunstimmanenten Entscheidungen wissen? 4 Nein, muss sie nicht. Der Weltgeist geht deshalb nicht zugrunde; und den Geist der Honigpumpe stört es auch nicht, obgleich er doch Tante Frieda zum Museumstempel hinausjagen müsste. Sie wird bewundernd vor den zwischenzeitlich zu musealem Kunstmüll gereiften Projekten stehen, wie sie sich vor der Mona Lisa die Nase platt drückt. Sie wird noch zur Kenntnis nehmen, dass der materielle Verfall dieser Projekte konsequent gedacht ist und eigentlich im Widerspruch zum Konservierungsinteresse der Restauratoren steht.
Leisners Malerei ist mit wissensreduziertem „Genießen von Kunst im Lehnstuhl“ nicht zu haben; bei ihm ist der kognitive bzw. kontextbasierende Zugriff unerlässlich. Das bedeutet bei der Decodierungsarbeit unzeitgemäße Anstrengungsbereitschaft. Auf gesellschaftliche und kunstimmanente Leitfragen gibt es keine leichten Antworten, außer durch geschlossene Konzepte und Ideologien.
Zu Selbstverständnisfragen bestimmter Avantgarden verweigert Leisner die Teilnahme an ihrer inflationären Intellektualität. Es gibt bei ihm auch keine hilflosen, pathologisch gefesselten Schreie zu erlittenen gesellschaftlichen und individuellen Katastrophen und Umbrüchen. Aber in Vernachlässigung redundanten Informationsmülls werden bei ihm inhaltliche und künstlerische Leitfragen mit malerischen Mitteln verdichtet und vernetzt.
Die Bilder Leisners bedeuten keine Sackgasse. Sie beweisen, dass kulturelle Erklärungsnotstände mit adäquaten malerischen Mitteln ohne Heilsversprechen transzendiert werden können. Es ist der Ansatz einer offenen diskursiven Malerei. Bei allem emotionalen Engagement und aller Intuition beim Schaffensprozess bleibt Leisner der rational tätige Arrangeur. Die sinnerfassende bzw. falsifizierende Bildbetrachtung entspricht dem Leisnerschen Malereikonzept und erschließt mit emotional ästhetischen Zugriffen weiterführende Aspekte.
Zeitlich eingeordnet ist Lorenz Leisner (1906–1995) ein Maler des 20. Jahrhunderts, jenem Jahrhundert der Weltkriege mit ihren grauenhaften Katastrophen, seinen ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüchen und seinen vier bis fünf verfassungsrechtlichen Systemwechseln. Leisner wird noch im Kaiserreich geboren, erlebt die soziologischen Brüche und das Ende der Weimarer Republik, überlebt den Gestapostaat mit dessen Untergang und wird als Davongekommener in die Bonner Republik entlassen. Die nationalen und internationalen Brüche hinterlassen bei millionen Betroffener Trümmerfelder im physischen wie im psychischen Sinn. In diesen historischen Schicksalsgemeinschaften ist Leisner kein Einzelfall. Viele Namenlose und Vergessene in Literatur und Kunst versuchen, Details und komplexe Vorgänge darzustellen. An den Pflock von Detailszenarien gebunden meinen sie, Realität aus der unmittelbaren Anschauung darstellen zu können. Für sie ist das Konkrete und die Nähe das Faszinierende. Sie erliegen der Aktualität. Die Befreiung aus ihr gelingt jedoch erst, wenn Details in Konstellation jenseits der Physis auf einer Metaebene codiert werden. Die Trennung von Kunst und Tagespolitik ebnet den Weg in die nicht gegenständliche Malerei. 5 Es beginnt mit dem Sedlmayer- (Verlust der Mitte) Baumeister Disput. 6 In der documenta 2 (1959) setzt sich die abstrakte Kunst endgültig durch. 7 Die Verzweigungen in elitäre Konzeptionen werden in der dritten (1964) dokumentiert. 8 Ziel ist, Kunst und Leben zu vereinen,
Die Heil versprechenden Zirkel nennen sich Art Brut, Art Informel, Pop-Art, Spur, Fluxus usw. und binden sich international ein. Ihre Provokationen bleiben jedoch pseudopolitische Spektakel, da ihr Hauptanliegen in ihrer jeweiligen Kunstdoktrin liegt.
Leisners Malerei gibt Zeugnis darüber, wie er die gesellschaftlichen Interventionen definiert und umsetzt und dabei die eigene Individualität konstituiert. Sie ist ein Beispiel der Emanzipation aus der Fremdbestimmung; so steht er in der Nachkriegszeit dem Aktualitätswahn des „modernen Kunstbetriebes“ zwar interessiert, jedoch kompromisslos ablehnend gegenüber. Zwei Kulturen seien kurz skizziert: Zum einen werden in Events Objekte und Räume mit dem Ziel inszeniert, Kongruenz von Leben und Kunst herzustellen. Das Leben wird zum Kunstwerk und jeder Mensch zum Künstler. Mehr noch: das Gesamtkunstwerk hat eine Gesellschaft als Skulptur humaner Optionen zum Ziel. Die angebotene spekulative Zukunftsgewissheit ist per se ideologisch. Derartig geschlossene Systeme führen folgerichtig in die Sackgasse.
Auf der anderen Seite wird die an Pathologie reichende Selbstzertrümmerung einer radikalen Kunst- und Zeitkritik ohne Hoffnung (Merde d’artista) angeboten. In existentiellem Ekel des Daseins wird Vergänglichkeit durch Nichtigkeit der Dinge, Verweslichkeit der Materialien und durch konsequent handwerkliche Schludrigkeit dargestellt.
Kunstobjekte, Projekte, Installationen und was in der Nachkriegszeit auch immer Kunst bzw. Nichtkunst genannt wird, bleibt jedoch in der Betrachtung und Reflektion verkürzt, wenn der Horizont von 1880 bis 1980 nicht einbezogen wird.
Es fehlt ein überschauender soziokultureller Kontext, der die Dispositionen von Politik und ihrer Denkmodelle, von Wirtschaft und ihrer Systeme sowie von Kunst, Literatur und Geisteswissenschaften begreifbar machte. Bei der hier angesetzten Begleitung des malerischen Engagements Leisners wird das Fehlen einer das Jahrhundert überblickenden Kulturgeschichte deutlich:
Leisner verfolgt durchgängig sein eigenes Konzept. Zu seiner Zeit hätte es nur eines Kommunikators bedurft, der die Verbindung zu gesellschaftlichen Sinnstrukturen, kontextbasierend, hergestellt hätte. So war – von avantgardistischen Tabubrüchen geblendet – die Zeit blind und taub für die unzeitgemäßen Entdeckungen seiner Malerei.
In Kenntnisnahme der Leisnerschen Bilder möchte ich in Kap. C.4. f einen Leitfaden von Aspekten entwickeln, der Interpretationen in verschiedenen Aktualitätsebenen und Vernetzungen erleichtert.
Die Indoktrination durch beide Konfessionen in der zu Ende gehenden Kaiserzeit führen Leisner zu gesellschaftlichem Widerspruch und lebenslang zu Fragen von auf Ideologien begründeter Macht und Gewalt. Auf zeitlich nachfolgende kirchen- und theologiegeschichtliche Entwicklungen kann verzichtet werden, weil sie für den späteren Künstler irrelevant sind.
Die Auseinandersetzungen von Links und Rechts (kommunistischem und faschistischem Totalitarismus) werden in der Weimarer Republik mit exzessiver Gewalt geführt. Hinzu kommen die internationalen Probleme, die auf Grund der Neuordnungen durch die Pariser Vorortverträge (Versailles) entstehen. Leisner erlebt aber auch, wie innen- und außenpolitische Probleme parlamentarisch gelöst werden, d.h. wie das Gewaltparadigma bei Konfliktlösungen abgelöst wird. Die Fragen von Macht, Dominanz und Meinungsführerschaft in der Kommunikation werden ein weiterer Schwerpunkt im späteren Werk Leisners.
Inflation (1923), Weltwirtschaftskrise (ab 1929) und Arbeitslosigkeit (6 Millionen, 1932) lösen die schweren politischen Krisen der jungen Republik aus. Bei Verlust des gesamten Volksvermögens verarmen und verelenden breite Schichten ohne soziale Absicherung.
Leisner erlebt, wie äußere Determinanten auf Gesellschaft und Lebensbiographien durchschlagen. Die nationalsozialistische Propaganda erlangt geschichtsklitternd Meinungsführerschaft. Sie trifft auf psychische Dispositionen von Anpassungsmechanismen und antidemokratische Denkstrukturen, die das geistig kulturelle Desaster schaffen. Die humanistische Halbbildung der Eliten hat nicht nur versagt, sie hat die ideologisierte Barbarei ermöglicht.
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