Dr. med. Fritz Helmut Hemmerich

Candelaria / Santa Cruz de Tenerife - Spanien

Institutosentico@gmail.com

Übersetzung ins Spanische: Katja Baumhauer

Illustrationen: Dr. med. Fritz Helmut Hemmerich

Herausgeber: Instituto Sentico S.L.

Umschlaggestaltung, Satz und Layout: Instituto Sentico S.L.

© Hemmerich und Instituto Sentico S.L. 2014

Alle Rechte beim Herausgeber

ISBN: 978-3-7357-5601-5

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt

Praktische Anleitung

»Atman heißt nichts anderes als «Atem». Die Regulierung des Atems ist daher eines der stärksten Hilfsmittel in der Jogaarbeit, die alle Leibesfunktionen beherrschen lehrt. Hiermit blicken wir in eine Zukunft, in der die Menschen sich von innen heraus umgestaltet haben werden.« (RUDOLF STEINER, GA 094/241)

Angenommen, Sie erwachen morgens und haben es so eingerichtet, dass Ihnen noch zehn Minuten bis zum Aufstehen bleiben. Das sollte möglich sein.

Sie kommen - vielleicht langsam - zu sich. Was bedeutet das: zu sich kommen?.

In einem ersten, noch unbewussten Schritt, berühren wir uns selbst. Untersuchen wir das genauer. Da ist meine Hand, die sich auf eine für jeden von uns ganz charakteristische Weise noch schlaftrunken in Richtung meines Körpers bewegt. Wenn ich anstoße, bemerke ich im Elementarempfinden des Tastens einen Widerstand: meine Bewegung wird gehemmt und schließlich angehalten. Meine Tastorgane berühren etwas, meine Wahrnehmungsorgane in den Muskelspindeln und Sehnen bemerken die abrupte Zunahme der für die Bewegung nötigen Kraft.

Es ist sehr empfehlenswert, das jetzt auszuprobieren. Mit geschlossenen Augen aufmerksam zu sein für das Berühren eines Gegenstandes und die Empfindung der abrupt vermehrten Anstrengung in den Muskeln und Sehnen.

Aber diese meine Hand berührt nicht irgendetwas, sie berührt mich. Das heißt: ich werde berührt. Im ersten Moment der Berührung: von etwas. Im unmittelbar nächsten Moment fallen die Erfahrung der gestoppten Bewegung und des Anstoßens zusammen mit der Erfahrung des Berührtwerdens. Eigenbewegungssinn und das doppelte Tasterlebnis - anstoßen an etwas und berührt werden von etwas - leiten unser Erwachen ein. Unmittelbar beginnt der Strom der Bilder in uns aufzusteigen und das Bewusstsein beginnt zu dämmern.

Da sind die Bilder, die Sie Ihre Welt nennen.

Da sind die Bilder, die Sie Ich nennen.

Wenn die Bilder, die Sie Welt nennen und die Bilder, die Sie Ich nennen, weitgehend übereinstimmen, dann haben Sie den Eindruck, Sie seien zu sich gekommen.

Zu was aber sind Sie wirklich gekommen in diesem Augenblick, den wir ziemlich unzutreffend Aufwachen nennen? Zu Ihrer Vergangenheit. Zu dem, was Sie bereits kennen.

Jetzt kann die Meditation von Karfreitag beginnen. Hier, im Aufwachen, werden wir die Meditation selbstverständlich nicht sprechen. Dazu sind wir noch nicht genügend zur Welt, also zur Sprache gekommen. Damit uns diese kurze Aufwachmeditation aber gelingt, werden wir zu anderer Zeit die Voraussetzungen dafür geschaffen haben: durch das laute und eigene Sprechen der Meditationen von Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag. Wenn wir sie gesprochen haben, werden wir ihre jeweilige Empfindungs- Sphäre jetzt wirksam erleben.

Ich will den Untergang meiner Welt. Ich will die Zerstörung der Bilder, mit denen ich die Welt auf immer wieder gleiche Weise erfahre.

Ich will meinen Untergang. Ich will Raum schaffen für die Gegenwart, indem ich aufhebe, was ich zu sein glaube.

Die Welt verdunkelt sich. Der Vorhang zerreißt. Ich sterbe.

Sehr viele Menschen machen halbbewusst und unfreiwillig solche Zustände durch am Morgen. Sie können dann sehr schwer in den Tag gelangen. Viele sind - zumindest leicht - depressiv.

Wie aber, wenn es uns nicht geschieht? Wie, wenn wir es bewusst selber herbeiführen, dieses Sterben? Und dann nicht gleich nach der nächsten Vorstellung greifen oder dem unbedingten Impuls zum Handeln nachgeben. Sondern warten.

Wir beobachten, wie ein Zeuge unserer Selbst: Da erscheint ein Bild, auf der Leinwand dessen, was wir Bewusstsein nennen. Wir geben diesem Bild keinen Raum. Ein erstes Aufleuchten solcher Bilder können wir erst einmal nicht vermeiden. Aber es kann uns gelingen, sie nicht relevant zu machen. Was heißt das? Wir beobachten, wie ein solches Bild als Projektion beginnt in uns. Aber die Leinwand (der Vorhang) ist zerrissen. Es kann nicht reflektiert werden. Die Projektion dieses Bildes entschwindet ins Leere, weil sich ihm nichts entgegenstellt, woran es aufleuchten könnte.

Wenn wir das nur ein paar Sekunden lang versuchen, werden wir beobachten, dass sich große Widerstände regen in uns.

Einer dieser möglichen Widerstände ist das drohende Wiedereinschlafen. Wir werden dann unsäglich müde, ja es kann sogar sein, dass wir noch einmal in den Schlaf zurücksinken.

Ein anderer möglicher Widerstand ist die aufkommende motorische Unruhe. Wir meinen uns bewegen zu müssen, etwas tun zu müssen, vielleicht auch, zumindest heute! - keine Zeit zu haben.

Passen wir also auf, dass uns weder erneutes Einschlafen übermannt noch der alltagspragmatische Gewohnheitsmensch uns weg reißt.

Beobachten wir, wie wir uns wach und in der Schwebe halten.

Das ist der Punkt für die Meditation von Karsamstag.

Ich lerne auszuhalten, dass ich getan habe, was ich konnte. Dass ich nun nichts mehr tun kann. Dass ich aber weder zu einer weiteren (oder vielleicht wichtigeren) Vorstellung greife und dass ich eben so wenig handle. Sondern warte.

Das Aushalten und das Wartenkönnen auf diesem Grat der Unentschiedenheit, der Bedeutungsoffenheit - Ambiguität - ist der heiligste Augenblick der Wandlung. Vieles kann hier verdorben werden, wenn wir zu beschleunigen versuchen. Vieles kann hier gewonnen werden, wenn wir die Stille aushalten lernen.

Jetzt kann der Raum für den Ostermorgen aufgehen.

Ich beginne zu hören. Ich habe den Hörraum selber geschaffen. Ich erlebe diesen Körper im Bett in mir. Ich schwebe nicht - dissoziiert - über oder hinter diesem Körper. Ich trage ihn - mütterlich - in mir. Welche Gestalt er einst annahm, wie er diese Gestalt wandelte, wie er sie wiedererlangt und wie er sie lernend anpasst, und wie er die Gestalt so verändert, dass sie sich bewegt, das durchlebe ich jetzt als reale Erfahrung.

Ich bemerke, wie der Wille mich vom All her ergreift und mich aufrichtet. Mein Körper kommt in die Vertikale und ich (die Bilder meiner selbst) über mich hinaus zu MIR.

So kann ich aufstehen und mich in die Welt stellen. Ich handle und handle erwacht mir selbst entgegen, weil ich mich handelnd zu mir hinbewege. Ich spreche und spreche zu mir hin, auch wenn ich zum Anderen spreche. Ich muss nicht druckvoll sprechend Verbindung zu ihm suchen, ich bin schon immer in Verbindung, wenn ich so zu sprechen anhebe.

Jetzt beginnt mein Tag. Ich bin nun erwacht.

Ich habe meinen Körper in mir und zu mir hin aufgerichtet.

Immer wieder während des Tages gibt es die Möglichkeit eines kurzen Innehaltens, mit dem wir uns aus der Trance des träumenden Alltagsbewusstseins herausheben und - für einen starken Moment - wach sind. Erwacht und aufgerichtet.

Und dann zum Abend. Ich rekapituliere den Tag. Und Atem berührt mich als lebendige Wirklichkeit. Die Stimme eines eigenständigen Gewissens beleuchtet meinen Tag. Wie laden wir eigenständiges Gewissen ein? Wir betrachten unseren Tag als ein Bühnengeschehen. Die Bühnenbilder wechseln mit den Orten, an denen wir unseren Tag verbrachten. Aber wir sehen uns selbst aus der Perspektive des Zuschauers. Aber wir nehmen nicht die eigene Perspektive ein, wenn wir dieses Geschehen auf der Bühne lebendig erinnern. Wir versetzen uns in die aufmerksame Haltung eines lernenden Kindes, das wir über alles lieben. Dieser Zuschauer repräsentiert die Menschheit, die kommen wird, und die in sich aufnehmen wird das, zu dem ich heute beigetragen habe.

Wünsche ich in Liebe denen, die kommen werden, die Weise, wie ich gehandelt, gesprochen, geschwiegen… habe? So laden wir eigenständiges Gewissen ein, uns die Möglichkeiten des Andersseins für diesen vergangenen Tag zu zeigen. Wie hätten wir uns verhalten können, vorausgesetzt, wir hätten widerstanden:

Finden wir - vor dem Einschlafen - eine Erzählung, eine lebendige und glaubwürdige Schilderung, eine Story mit uns selbst als dem Ich-Erzähler, die uns als die Handlungsweise und Haltung des Andersseins einleuchtet?

So wie wir während des Tages die Meditation des Aufwachens in unglaublich kurzer Zeit wiederholen können, so können wir immer mehr auch die abendliche Rekapitulation vorausgreifen. Dieses Erinnern und Vorausempfinden kann sich - wie ein Fraktal - in immer kleinere Einheiten auflösen. Die letzen Momente des Bewusstseins präsent machend und zugleich die kommenden Momente vorausgreifend. Kennen wir so etwas schon? Ja, wenn wir je aktiv Musik gehört haben. Der tiefe Genuss musikalischen Hörens ist ja gerade, dass wir die Folge der schon gehörten Tonmomente präsent halten und die weitere Entwicklung des Stückes vorausahnen können.

So wie uns aktives Musikhören erfrischt und begeistert, so auch diese Übung.

UDOLFTEINERA