Schriftenreihe der Geschichtswerkstatt Duderstadt
Viktoria P. war Polin und lebte während des Zweiten Weltkrieges im Wartheland, also in einer Region, die 1939 durch das „Dritte Reich“ nach dem Sieg über Polen annektiert worden war und als Reichsgau eingedeutscht werden sollte. Viktoria P. war 19 Jahre alt und begehrte, wenigstens für kurze Zeit heraustreten zu können aus der ihr zwangsweise zugeordneten Rolle eines „rassisch minderwertigen“ Menschen. Dieses Begehren brachte sie in Untersuchungshaft und als Angeklagte vor eine Kammer des Sondergerichts in Kalisch. Kalisch, so hieß die an der Warthe gelegene polnische Stadt Kalisz während der deutschen Besetzung.
Im Warthegau galt das Recht des NS-Staates, dem auch Viktoria P. unterworfen wurde. Ihr Vergehen hatte nach Auffassung des Sondergerichts darin bestanden, dass sie als Angestellte in einem deutschen Haushalt um Weihnachten 1942 ein BDM1-Abzeichen, welches in einem Schlafzimmer auf dem Fensterbrett abgelegt war, an zwei Tagen zeitweise an sich nahm. Sie hatte es – so die Feststellung der Richter - an ihrem Mantelaufschlag befestigt und war damit in die Stadt gegangen. Die Polin wollte also als Deutsche erscheinen und befristet Achtung und Vorrechte der „Arier“ genießen. Zusätzlich hatte sie auch ohne BDM-Abzeichen verbotenerweise Gaststätten betreten, die nur Deutschen vorbehalten waren. Beide Handlungen verstießen gegen nationalsozialistische Rassenvorstellungen und Rechtsbestimmungen.
Nach eigenem Verständnis ließen die Richter verhältnismäßige Milde walten und verhängten im Hinblick auf Jugend, bisherige Unbescholtenheit und Reue der Angeklagten fünf Monate Straflager als Sanktion, wobei die Untersuchungshaft von etwa zweieinhalb Monaten auf diese Strafe angerechnet wurde. Straflagerhaft aber war immer hart und nie milde. Das Gericht hatte ein Unrechtsurteil verhängt.
Urteil.
Im Namen des Deutschen Volkes!
Strafsache
gegen die Hausgehilfin Viktoria P[…] aus Kempen,
Adolf Hitler Str. 23, geboren am 24.11.1924 in Drossen, Kreis Kempen, polnischer Volkstumszugehörigkeit, seit dem 16. Februar 1943 in Untersuchungshaft,
wegen unbefugten Tragens eines BDM-Abzeichens,
hat das Sondergericht beim Landgericht in Kalisch in der Sitzung vom 28. April 1943, an der teilgenommen haben:
Landgerichtsdirektor Dr. Müller
als Vorsitzender,
Landgerichtsrat Walter,
Amtsgerichtsrat Trümper
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt Dr. Lubbe
als Beamter der Staatsanwaltschaft,
für Recht erkannt:
Die Angeklagte wird auf Grund der Polenstrafrechtsverordnung wegen unbefugten Tragens eines BDM-Abzeichens zu 5 Monaten Straflager und den Kosten des Verfahrens verurteilt.
Die Untersuchungshaft wird angerechnet.
Gründe.
Bis zum 31.12.1942 war die Angeklagte bei der deutschen Fotografin Andrejewski in Kempen als Hausangestellte tätig, nachdem sie das vorher zwei Jahre im NSV2-Kindergarten und aushilfsweise 3 Monate lang bei Frau von Menzenkamp in Kempen gewesen war. Sie ist jedes Mal entlassen worden, weil sie in dem Verdacht stand, gestohlen zu haben. Das gegen sie deswegen anhängig gemachte Verfahren ist eingestellt worden.
Die Pflegetochter der Frau Andrejewski, Sophie Stensala, ist Mitglied des BDM. Um Weihnachten 1942 nahm die Angeklagte deren auf der Fensterbank des Schlafzimmers liegendes BDM-Abzeichen an zwei verschiedenen Tagen an sich, steckte es an ihren Mantel und ging damit in die Stadt.
Die Angeklagte hat behauptet, dass ihre Eltern auch für sie mit die Aufnahme in die Deutsche Volksliste beantragt hätten. Das trifft nach der beigezogenen und vorgetragenen Auskunft des Landrats in Kempen (…) aber nicht zu. Es mag sein, dass die Eltern der Angeklagten, wie das viele Polen in den schon früher einmal deutsch gewesenen Gebieten getan haben, in den Jahren 1940 oder 1941 um ihre Aufnahme in die Volksliste zunächst formlos nachgesucht haben, weil sie glaubten, dass sie aufgenommen werden könnten. Sie werden damals, wie das üblich gewesen ist, aber darauf hingewiesen worden sein, dass ihre Aufnahme vielleicht später einmal erfolgen könnte. Jedenfalls hat die Angeklagte, die selbst nicht angeben kann, dass einer ihrer Vorfahren deutsch gewesen ist, gewusst, dass sie als Polin gilt, solange sie nicht in die Deutsche Volksliste aufgenommen ist. Sie wusste deshalb auch, wie sie zugegeben hat, dass sie das BDM-Abzeichen nicht tragen durfte.
Die geständige Angeklagte hat danach unbefugt ein BDM-Abzeichen getragen und sich dadurch nach I Abs. 3 der Polenstrafrechtsverordnung3 schuldig gemacht.
Bei der Strafzumessung war zu ihren Gunsten zu berücksichtigen, dass sie noch jung und noch nicht vorbestraft ist. Sie hat auch offenbar aus jugendlichem Leichtsinn und aus einem gewissen Geltungsbedürfnis heraus gehandelt. Gleichwohl muss aber jedem Versuch, die Unterscheidung zwischen Deutschen und Polen zu verhindern oder zu erschweren, im Interesse des Volkstumskampfes entschieden entgegen getreten werden. Die Angeklagte hat sich über diese Notwendigkeit nicht nur durch unbefugtes Tragen des Abzeichens, sondern auch dadurch hinweggesetzt, dass sie, wie sie zugegeben hat, mehrere Male deutsche Gaststätten aufgesucht hat, obwohl ihr das als Polin nicht gestattet ist, wie sie weiss.4 Dass sie bei diesen Gelegenheiten das Abzeichen getragen hat, hat sie bestritten. Es war ihr das auch nicht zu widerlegen. Sowohl aus dem unbefugten Tragen des Abzeichens als auch aus den verbotenen Gaststättenbesuchen geht hervor, dass sie die deutschen Gebote missachtet. Nur mit Rücksicht auf ihre Jugend und ihre offensichtliche Reue ist die verhältnismäßig milde Strafe von 5 Monaten Straflager ausgeworfen worden, auf die wegen des Geständnisses der Angeklagten die Untersuchungshaft angerechnet werden konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 RStPO.
Gez. Dr. Müller gez. Walter gez. Trümper5
Das Sondergericht hielt es also für erforderlich, dem von Viktoria Pawlowski unternommenen „Versuch, die Unterscheidung zwischen Deutschen und Polen zu verhindern oder zu erschweren“, nachdrücklich entgegenzutreten. Diese Unterscheidung, Ausdruck eines Rassenwahns, verstanden die Richter als „Notwendigkeit“, denn neben die rassistische Einstellung trat sozialdarwinistische Ideologie, die einen „Volkstumskampf“ zwischen Deutschen und Polen propagierte. 6
Solche im Sinne nationalsozialistischer Weltanschauung geübte Urteilspraxis des Sondergerichts Kalisch wird in diesem Buch in Verbindung mit dem Handeln des Richters Ferdinand Trümper aus Duderstadt untersucht. Von zahlreichen Verfahren, an denen Ferdinand Trümper als Beisitzer einer Kammer jenes Sondergerichts teilnahm, sind Akten im Staatsarchiv Kalisz erhalten geblieben. Die schriftlichen Urteilsbegründungen sind Gegenstand dieser Untersuchung. Sie zeugen davon, wie das Sondergericht zwar auch über Fälle gewöhnlicher Kriminalität verhandelte, hauptsächlich aber als ein Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument des NS-Staates wirkte. Es urteilte nach zweierlei Recht, einem für die polnischen „Untermenschen“ und einem anderen für deutsche „Herrenmenschen“. Es entschied auf der Grundlage von Rechtsverordnungen und Gesetzen, die Un-Recht waren. Es verurteilte Abweichungen von der nationalsozialistischen Weltsicht. Es rechtfertigte Rassenideologie und Unterdrückung. Es diente den verbrecherischen Zielsetzungen des NS-Staates im annektierten Warthegau, indem es dahin wirkte, neben der „Germanisierung“ der Region auch die Führung des Eroberungs- und Vernichtungskrieges an der „Heimatfront“ abzusichern. Es bemühte sich dabei, den Anschein der Rechtlichkeit zu wahren.
Ferdinand Trümper, 1942/1943 Richter am Sondergericht Kalisch, begann seine berufliche Laufbahn im „Dritten Reich“ und schied 1969 aus Altergründen aus dem Justizdienst des Landes Niedersachsen aus. Er war wegen seiner Mittäterschaft als Richter im NS-Staat unbehelligt geblieben. Seine Tätigkeit an einem Sondergericht hatte er nach 1945 verschwiegen. In seiner südniedersächsischen Heimatstadt Duderstadt war er seit 1952 als Amtsgerichtsrat tätig und 1967 zum Oberamtsrat und damit zum Leiter des örtlichen Amtsgerichtes aufgestiegen.
Dass Trümper in Duderstadt geboren wurde, hier aufwuchs und nach dem Zweiten Weltkrieg, sobald er konnte, hierher zurückkehrte, um in seinem eichsfeldischen Heimatort mit der verborgenen Vergangenheit eines Täters der NS-Zeit als angesehener, einflussreicher Bürger zu leben und sechzehn Jahre als Richter zu wirken, ist ein bislang übersehener Teil der Duderstädter Stadt- und Gerichtsgeschichte.
1 BDM = Bund Deutscher Mädel, Teilorganisation der Hitlerjugend.
2 NSV: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt.
3 Polen und Juden waren dieser Bestimmung nach mit dem Tode, in minderschweren Fällen mit Freiheitsstrafe zu bestrafen, „wenn sie durch gehässige oder hetzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden, insbesondere deutschfeindliche Äußerungen machen oder öffentliche Anschläge deutscher Behörden oder Dienststellen abreißen oder beschädigen oder wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen“.
4 Hier wie in allen folgenden Zitaten aus den schriftlichen Urteilen des Sondergerichts Kalisch wird die dortige Schreibweise übernommen.
5 Staatsarchiv Kalisz: Sondergericht Kalisz 1939–1944, Nr. 385.
6 A.a.O.
Auf seinem langen Bildungsweg bis zum Beruf des Juristen musste Ferdinand Trümper zahlreiche und für ihn erhebliche Schwierigkeiten und Hindernisse mit Ausdauer und Zielstrebigkeit überwinden. Eine erste Tätigkeit als Richter wurde ihm 1939 übertragen. Zu dieser Zeit war er bereits 35 Jahre alt.
Geboren wurde Ferdinand Trümper am 1.12.1904 als zweites von fünf Kindern einer Kaufmannsfamilie. Den schriftlichen Lebensläufen in seinen Personalakten bis 1945 zufolge7 besaß sein Vater ein Möbelgeschäft in der überwiegend katholisch geprägten Kleinstadt Duderstadt. Eine enge Bindung seiner Eltern an die katholische Kirche lässt sich daran erkennen, dass sie ihren Sohn mit sechs Jahren nicht in die öffentliche katholisch-konfessionelle Volksschule schickten, sondern, seinen Angaben zufolge, in eine katholisch-kirchliche Seminarübungsschule in Duderstadt aufnehmen ließen. Das lässt darauf schließen, sie wünschten damals, er möge Priester werden.
Als die Seminarübungsschule im Herbst 1916 geschlossen wurde, wechselte Ferdinand Trümper in die öffentliche katholische Volksschule über. Um Ostern 1917, also im Alter von 12 Jahren, bestand er die Aufnahmeprüfung für die Sexta (Klasse 5) des staatlichen Gymnasiums für Jungen in Duderstadt. Nachdem sein Vater 1921 an den Folgen einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg gestorben war, musste die Mutter das Möbelgeschäft aufgeben, aber ihr Sohn Ferdinand konnte doch weiterhin die höhere Schule besuchen. Dort legte er nach neunjähriger Gymnasialzeit im Herbst 1926, mit bald 22 Jahren also, die Abiturprüfung ab. Vielleicht verdankt er seiner Herkunft aus einer gut katholischen Familie, die ihn zur besonderen Beschäftigung mit religiösen Fragen anleitete und ein entsprechendes Verständnis in ihm weckte, dass er im Reifezeugnis für seine Leistungen im Fach Religion ein „Gut“ erhielt, während dagegen seine Kenntnisse und Fertigkeiten in allen anderen Fächern durchweg nur als ausreichend, in Teilbereichen sogar als mangelhaft bewertet wurden.
Nach dem Ende der Schulzeit kam Ferdinand Trümper zunächst für ein halbes Jahr bei seinem Onkel in St. Andreasberg im Harz unter. Dieser Onkel war dort als Pfarrer tätig, und der Neffe half ihm bei der Verwaltung der Kirchengemeinde, bis er eine Stelle in der Landeskulturverwaltung antreten konnte. Ein Jahr lang, von Ostern 1927 bis Ostern 1928, war er als Landeskultursupernumerar8 beim Kulturamt der Stadt Göttingen beschäftigt. Auf Anraten seines dortigen Vorgesetzten schrieb er sich zum Sommersemester 1928 an der Universität Göttingen ein, um Rechtsund Staatswissenschaften zu studieren.
Über die für ein Studium erforderlichen finanziellen Mittel verfügte Ferdinand Trümper nicht. Neben seinem Lebensunterhalt musste ein Student damals erhebliche Studiengebühren und Honorare an seine Lehrer bezahlen. Nach einem Studienhandbuch von 1931/32 lag das Existenzminimum ohne die Kosten für das Studium bei rund 150 Reichsmark im Monat.9 Von seinem Onkel in St. Andreasberg erhielt Ferdinand Trümper ein Darlehen in Höhe von 3000 Reichsmark, zins- und tilgungsfrei und auf des Onkels Lebenszeit befristet. Einen weiteren Teil der Studienkosten verdiente er durch Arbeit in einem Baugeschäft, einer Tischlerei, einer Buchhandlung, einem Zeitungsverlag und als Handlungsreisender. Unter diesen Bedingungen studierte er zügig und auf seinen Fachbereich konzentriert, denn schon 1931 meldete er sich mit folgenden Worten zum Examen: „Den Gang meines Studiums richtete ich nach dem von der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät herausgegebenen Studienplan ein. Ich studierte in Göttingen sieben Semester und suche jetzt, da ich glaube, die nötigen Kenntnisse erworben zu haben, um Zulassung zur ersten juristischen Staatsprüfung nach.“10 Ferdinand Trümper bestand die Prüfung jedoch nicht und musste sie wiederholen. Am 28. März 1933 legte er dann vor einer Prüfungskommission in Celle die erste Staatsprüfung erfolgreich ab und beantragte sogleich die Ernennung zum Referendar.
Als Referendar war er jedoch seiner finanziellen Sorgen keineswegs ledig. Justizreferendare wurden in Preußen nicht besoldet; die Finanzierung ihres dreijährigen Referendariats mit anschließend mehrmonatiger Prüfungszeit blieb ihnen weitgehend selbst überlassen. Bei finanzieller Bedürftigkeit hatten sie lediglich die Möglichkeit, einen Unterhaltszuschuss zu beantragen. Schon diese Bezeichnung weist darauf hin, dass es sich nur um eine bescheidene Zuwendung gehandelt haben kann. Auf die Gesamtzahl der Referendare umgerechnet, betrug dieser Zuschuss 1933 in Preußen pro Kopf 48 Reichsmark pro Monat.11
Das auf drei Jahre angelegte Referendariat absolvierte Ferdinand Trümper bei verschiedenen Gerichten, Ämtern und einem Rechtsanwalt in der Region Südniedersachsen sowie beim Landgericht Hannover. In die Referendariatszeit fiel auch ein vorgeschriebener Lehrgang in dem „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ als Teil des Vorbereitungsdienstes. Justizreferendare mussten nämlich von 1933 an im Sinne einer nationalsozialistischen Juristenausbildung zwischen der Ablieferung ihrer letzten schriftlichen Examensarbeiten und der mündlichen Prüfung mehrere Wochen in diesem Lager in der Nähe von Berlin verbringen. Ziel des Aufenthalts dort sollte eine charakterliche Prüfung im Gemeinschaftsleben mit anderen sein.12 Die nationalsozialistischen Lagerführer beurteilten den Referendar Trümper 1935 nach ihren Maßstäben so:
„Trümper wurde am 20.8.1933 vom Stahlhelm in die SA überführt. Durch körperliche Beschwerden (Verstauchungen, Blasen und dgl.) wurde er viel im Dienst behindert. Obwohl er sich Mühe gab, überragten seine Leistungen den Durchschnitt nicht. Trümper hat sich früher offensichtlich niemals sportlich betätigt, sein Körper war infolgedessen verweichlicht und steif. Da er sich zu wenig zutraute, fehlte es ihm an dem nötigen Selbstbewusstsein. Eine gewisse Unsicherheit und Niedergeschlagenheit, die auf den Tod beider Eltern und die dadurch entstandene finanzielle Abhängigkeit von Verwandten zurückzuführen sein mögen, drücken seinem Wesen das Gepräge auf. Da er stets bescheiden und zu jedem freundlich war, war er bei seinen Kameraden, die Verständnis für seine Lage hatten, gern gesehen.“13
Am 11. Mai 1938 legte er vor dem Reichsjustizprüfungsamt in Berlin die zweite juristische Staatsprüfung ab. Die Länge seiner Referendarzeit von 1933 bis 1938 ist dadurch zu erklären, dass er auch die zweite Staatsprüfung wiederholen musste, wie einem Zeugnis des Oberlandesgerichtspräsidenten in Celle zu entnehmen ist: „Trümper hat beide Staatsprüfungen ausreichend nach Wiederholung bestanden.“14 Nach Abschluss seiner Ausbildung zum Juristen arbeitete er vom 15. Mai 1938 bis 31. März 1939 als Journalist, nämlich als Schriftleiter in der „Südhannoverschen Volkszeitung“ in Duderstadt, einem früheren, längst gleichgeschalteten Zentrumsblatt, das 1933 eine Auflage von etwa 2800 Exemplaren erreicht hatte.15 Dann begann er eine Tätigkeit wenigstens in der Nähe des Richteramts. Ab April 1939 trat er als Rechtspfleger in den Dienst der Reichsjustizverwaltung ein und war an den Amtsgerichten Freiburg an der Elbe sowie Blomberg und Hohenhausen in Lippe tätig.
Voraussetzung für die Einstellung in den Staatsdienst als Richter war von 1939 an die Mitgliedschaft in der NSDAP. Wollte Trümper also Richter werden, musste er der Partei beitreten. Am 20.10.1939 stellte er einen Aufnahmeantrag, seit dem 1. Januar 1940 wurde er in Detmold als Parteigenosse geführt.16 Dieser Eintritt in die NSDAP sieht vom Termin her also nach Opportunismus aus; er kann mangels weiterer Quellen darüber hinaus nicht beurteilt werden. Trümpers Wunsch zielte auf eine Richterstelle im Bereich des Oberlandesgerichts Celle. Auf entsprechende Bemühungen hin erhielt er von dort im November 1939 eine Absage: „… teile ich Ihnen mit, dass ich Ihnen eine Übernahme als Anwärter in den höheren Justizdienst nicht in Aussicht stellen kann.“17
In dieser ziemlich aussichtslosen Lage kam Ferdinand Trümper der Krieg zu Hilfe. Zahlreiche Richter wurden zur Wehrmacht eingezogen. Als Vertretung eines zur Ableistung seines Wehrdienstes einberufenen Juristen wurde er ab 1.12.1939 als Hilfsrichter (Assessor) beim Landund beim Amtsgericht Detmold eingesetzt. Auch Assessoren hatten keinen Besoldungsanspruch; nur wenn sie befristet kommissarisch mit der Vertretung eines Richters beauftragt wurden, erhielten sie das Gehalt eines Amtsrichters. So dürfte Ferdinand Trümper in Detmold zumindest zeitweise sein erstes Geld als Richter verdient haben. Seine Tätigkeit dort wurde durch den Landgerichtspräsidenten im April 1940 zwar nicht glänzend, aber durchaus wohlwollend beurteilt:
„Assessor Trümper, dessen Fähigkeiten und Kenntnisse ich als durchschnittlich werte, ist recht fleißig, arbeitswillig, eifrig und pünktlich. Er trägt sachgemäß und im allgemeinen erschöpfend vor, hat ein verständiges, klares Urteil. Seine schriftlichen Ausarbeitungen zeigen, dass er sich mit Erfolg bemüht, des Stoffes Herr zu werden. Es fehlt ihm bei der Kürze seiner richterlichen Tätigkeit noch an Erfahrung; auch lässt seine Ausdrucksweise hier und da noch die Feile vermissen. Entsprechenden Hinweisen ist er aber durchaus zugänglich. Den Rechtsuchenden gegenüber hilfsbereit und entgegenkommend, zeigt er – insgesamt betrachtet – guten Willen und erfreuliches Streben. […]
Trümper hat sich hier als aufrechter, williger Berufskamerad von entgegenkommendem, bescheidenem Wesen gezeigt. Den Staat bejaht er aus innerer Überzeugung. Seine Führung ist tadellos. Gesundheitlich keine Bedenken. Bei weiterer Bewährung verspricht er, ein brauchbarer Richter zu werden.“18 – Der bejahte Staat war das „Dritte Reich“, welchem Ferdinand Trümper nach 1945 eigenem Bekunden zufolge ganz anders, nämlich aus innerer Überzeugung distanziert gegenübergestanden haben wollte.
Wenige Monate später, im September 1940, bescheinigte derselbe Landgerichtspräsident dem Assessor, dass „dessen Arbeiten von zunehmender Erfahrung zeugten und dass er auch mengenmäßig stärkeren Anforderungen gewachsen“ sei.19 Offenbar, weil seine beruflichen Chancen im „Altreich“ schlecht waren und für ihn keine Aussicht bestand, hier in eine Planstelle als Richter eingewiesen zu werden, erklärte sich Trümper mit einer Abordnung in den Oberlandesgerichtsbezirk Posen einverstanden. Letzteres berichteten jedenfalls seine Vorgesetzten an das Reichsjustizministerium. Sie hielten ihn geeignet für den „richterlichen Einsatz in den Ostgebieten“ und bemerkten: „Gesundheitlich wird Trümper starken Anforderungen gewachsen sein.“20
7 Staatsarchiv Poznań, Signatur: Oberlandesgericht Posen, Nr. 1130 bis 1134, und Landgericht Posen, Nr. 285. Diesen Akten sind auch alle anderen Angaben über den Werdegang Ferdinand Trümpers bis 1945 entnommen.
8 Supernumerar = Beamtenanwärter.
9 Siehe Schlüter, Holger (2006): S. 13 f.
10 Staatsarchiv Poznań: Oberlandesgericht Posen, Nr. 1330.
11 Siehe Schlüter, Holger (o.J.): S. 19.
12 Siehe dazu Schmerbach, Volker (2008).
13 Staatsarchiv Poznań: Oberlandesgericht Posen, Nr. 1334.
14 A.a.O.
15 Siehe Dörries, Johannes (1984): S. 3.
16 BArch: NSDAP-Zentralkartei und NSDAP-Gaukartei.
17 Staatsarchiv Poznań: Oberlandesgericht Posen, Nr. 1331.
18 Staatsarchiv Poznań: Oberlandesgericht Posen, Nr. 1334.
19 A.a.O.
20 A.a.O.
Ferdinand Trümper (1940)
Als Ferdinand Trümper im Frühjahr 1941 in den Reichsgau Wartheland reiste, um dort seinen Dienst als Richter anzutreten, begab er sich in eine Region, in der das verbrecherische Handeln des NS-Staates nicht zu übersehen war, zumindest für jeden, der seine Augen davor nicht sehr fest verschloss.
Bereits am 8.10.1939, nach der Kapitulation Polens, hatte Hitler per Erlass und mit Wirkung vom 26.10.1939 große Teile des polnischen Staatsgebiets völkerrechtswidrig annektiert. In diesen „eingegliederten Ostgebieten“ entstanden die neuen Reichsgaue Danzig-Westpreußen, Wartheland und Ostoberschlesien. Auch Ostpreußen wurde um polnisches Gebiet vergrößert. Für Westpreußen und das Wartheland blieben aber dennoch die alten Polizei- und Passgrenzen bestehen. Diese Gebiete konnten also nur mit behördlicher Genehmigung betreten oder verlassen werden. So wurde verhindert, dass zum Beispiel dort lebende Polen die alten Grenzen zum Deutschen Reich unerwünscht überschreiten konnten. Den Grenzkontrollen war auch Ferdinand Trümper unterworfen. Am 13. Juni 1941 beantragte er die Ausstellung eines Passierscheins zum wiederholten Grenzübertritt: „Ich benötige den Passierschein für Dienstreisen und zu Urlaubsreisen zu meiner im Altreich wohnenden Familie.“21
Im neuen Reichsgau Wartheland lebten nur verhältnismäßig wenige Deutsche. Unter den mehr als vier Millionen Einwohnern machten sie 1939 sieben Prozent der Bevölkerung aus; rund 93 Prozent der Einwohner, einschließlich der acht Prozent polnischer Juden, waren Polen.22 Die Absicht des NS-Staats war, das derart polnische Gebiet zu germanisieren. Das sollte vor allem durch eine Auswechselung der Bevölkerung geschehen – einerseits durch Deportation und Ausrottung, in einem geringen Maße auch durch die Assimilation von Polen, die als „eindeutschungsfähig“ betrachtet wurden, und andererseits durch die Ansiedlung von Auslandsdeutschen aus dem Machtbereich der UdSSR. Auch aus dem „Altreich“ zogen Menschen zu, um zum Beispiel polnische oder jüdische Betriebe zu übernehmen, oder sie kamen als Angestellte und Beamte deutscher Behörden.
Weil von vornherein klar war, dass das Ziel eines rein deutschen Warthelandes nicht mit rechtmäßigen Methoden und nicht ohne Verbrechen an Juden und Polen erreicht werden konnte, bereitete das „Dritte Reich“ die Erweiterung des deutschen „Lebensraums“ nach der militärischen Eroberung auch durch eine Anpassung des Strafrechts vor. Die Vorschriften über Offizialdelikte, also die von Amts wegen zu verfolgenden Straftaten, und über Klageerzwingungsverfahren wurden aufgehoben. Dadurch war die Staatsanwaltschaft von der Pflicht entbunden, Übergriffe Deutscher gegen Polen und Juden verfolgen zu müssen. Es lag nicht im damaligen Interesse des NS-Staates, dass die Justiz wegen der Mordaktionen von deutscher Polizei und SS an der nichtdeutschen Bevölkerung gegen Deutsche ermittelte. Denn Massenerschießungen von Juden und der polnischen Eliten, wo Polizei- und SS-Verbände ihrer habhaft werden konnten, sowie Deportationen von Juden und Polen aus dem Warthegau in das Generalgouvernement waren erste Maßnahmen gezielter Dezimierung der aus deutscher Sicht im Wartheland unerwünschten Menschen.
Die Ausweisungen ins Generalgouvernement wurden jedoch bald auf Einspruch von Gouverneur Hans Frank hin gestoppt, der seinen Befehlsbereich durch den Zuzug so vieler Menschen beeinträchtigt sah. Die weitere Deportation von Polen aus dem Warthegau ins Generalgouvernement wurde deshalb auf die Zeit nach dem Krieg vertagt.
Die Juden wurden ihres Besitzes beraubt, in Ghettos zusammengepfercht und schließlich ermordet. Die im Warthegau verbliebenen Polen galten als Staatenlose, weil aus der Sicht des „Dritten Reiches“ ein polnischer Staat nicht mehr existierte. Sie wurden weitgehend entrechtet und gedemütigt. Deutsche erhielten die Anweisung, größtmögliche Distanz zu Polen zu wahren. Eine Treuhandgesellschaft beschlagnahmte 95 Prozent der Unternehmen, unterstellte sie deutschen Verwaltern und verkaufte sie an deutsche Interessenten. Überdies vertrieben die neuen Herren eine große Anzahl polnischer Bauern von ihren Höfen, um Platz zu schaffen für die volksdeutschen Zuwanderer aus der Sowjetunion.
Hier können nur einige Beispiele für die Lebensbedingungen der Polen unter deutscher Besatzung genannt werden: Seit September 1939 mussten Polen, wenn sie einem deutschen Uniformträger begegneten, diesen „Herrenmenschen“ grüßen und selbst in die Gosse treten, um ihm auf dem Bürgersteig Platz zu machen. Deutsche Uniformträger gab es viele, auch unter den Zivilisten, z. B. jene in Parteiuniform. Polen, welche diese Pflicht nicht beachteten, wurden beschimpft, geschlagen, zuweilen auch verhaftet. – In den Geschäften mussten Deutsche mit Vorrang bedient werden. Alle Polen erhielten erheblich geringere Lebensmittelzuteilungen als Deutsche – genau: nur die Hälfte dessen, was ein deutscher „Volksgenosse“ bekam. Wenn also z. B. einem Deutschen laut Lebensmittelkarte für eine Woche 250 Gramm Butter oder Margarine zustanden, dann einem Polen lediglich 125 Gramm Margarine. Dabei bekamen Polen nicht einmal immer alles, was ihnen auf Grund der Bestimmungen zugestanden hätte. Czesław Madajczyk zufolge konnte ein polnischer Arbeiter mit den rationiert zugeteilten Lebensmitteln nur etwa 43 bis 45 Prozent seines Kalorienbedarfs decken.23 Kleidung und Schuhe durften Polen ab Juli 1941 überhaupt nicht mehr erwerben. All das förderte natürlich den Schwarzmarkt. Schwarzhandel wiederum wurde als Kriegswirtschaftsverbrechen hart bestraft. – Alle höheren Schulen für polnische Kinder wurden geschlossen. Für sie, die nach dem erwarteten „Endsieg“ wie die meisten Polen weiter nach Osten abgeschoben werden oder allenfalls den Deutschen als billige und willige Arbeitskräfte dienen sollten, erschien höhere Bildung überflüssig und unerwünscht. Für polnische Kinder gab es fortan, wenn überhaupt, oft nur an zwei Tagen in der Woche Schulunterricht. – Zahlreiche weitere Bestimmungen erschwerten das alltägliche Leben der Polen. Nachts galt für sie eine Ausgangssperre. Radios mussten sie abgeben. Zu telefonieren war Polen verboten. Die Benutzung von Bus und Bahn, selbst eines Fahrrades, war ihnen nur mit einer Sondergenehmigung erlaubt.