Sieh einmal, hier steht er,
pfui, der Struwwelpeter!
An den Händen beiden
ließ er sich nicht schneiden
seine Nägel fast ein Jahr;
kämmen ließ er nicht sein Haar.
Pfui, ruft da ein jeder:
Garstger Struwwelpeter!
Für Theres, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zustande gekommen wäre.
Dr. Peter Lukasch wurde 1942 in Wien geboren. Nach Abschluss des Jusstudiums trat er in den Staatsdienst ein, wo er bis zu seiner Pensionierung im Bereich der Strafjustiz tätig war.
Dr. Peter Lukasch hat sich viele Jahre mit dem Sammeln und der Erforschung historischer Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt und dazu bereits zwei Sachbücher veröffentlicht: ‚Deutschsprachige Kinder- und Jugendzeitschriften’ und ‚Der muss haben ein Gewehr: Krieg, Militarismus und patriotische Erziehung in Kindermedien’.
Der Struwwelpeter ist die Titelfigur des gleichnamigen Bilderbuches von Heinrich Hoffmann, das zum erfolgreichsten deutschsprachigen Kinderbuch wurde.
1846 erstmals im Verlag Rütten & Loening (damals noch Literarische Anstalt in Frankfurt, Joseph Rütten) erschienen, erlebte der Struwwelpeter in seinem Stammverlag über fünfhundert Auflagen und wurde in etwa 40 Sprachen und zahlreiche Dialekte übersetzt. Allein die deutschsprachigen Ausgaben sollen etwa 30 Millionen Mal verkauft worden sein. Eine genaue Angabe ist nicht möglich, weil die Schutzfrist für das Urheberrecht längst abgelaufen ist und seither unzählige Nachdrucke auch anderer Verlage erschienen sind. Völlig aussichtslos ist es, die Auflagenhöhe der Übersetzungen zu schätzen. Beispielsweise erreichte die englischsprachige Version bereits Ende des 19. Jahrhunderts an die 50 Auflagen.
Reiner Rühle listet in seiner kommentierten Bibliographie von Struwwelpeteriaden und Max- und Moritziaden Böse Kinder von 1999 an die 1300 Struwwelpeteriaden auf, nicht gerechnet diverses andere Struwwelpetermaterial, das in Druck oder digitaler Form erschienen ist. Diese (noch immer nicht vollständige) Bibliographie, die vom Kenntnisreichtum ihres Autors und einem geradezu unglaublichen Fleiß zeugt, muss als unverzichtbares Standardwerk für alle jene gelten, die sich als Sammler oder auf wissenschaftlicher Basis mit dem Struwwelpeter befassen wollen. Beiträge zum Struwwelpeter, die sich als Teilbibliographien meist nur auf der beschreibenden Ebene bewegen, aber auch solche mit wissenschaftlichem Anspruch gibt es inzwischen hunderte.
Walter Sauer verzeichnet 2003 in seiner Bibliographie der Sekundärliteratur zum Struwwelpeter Der Struwwelpeter und sein Schöpfer Dr. Heinrich Hoffmann 570 Einzeltitel (ISBN 3-9808205-5-6).
Ich selbst habe daher auf eine Auflistung der zur Verfügung stehenden Sekundärliteratur verzichtet. Denn eine solche wäre – wenn sie wirklich Sinn machen soll – so umfangreich, dass sie den Rahmen dieser Veröffentlichung sprengen würde. Dort wo ich andere Autoren zitiert habe, ist dies als Fußnote im Text angemerkt, ebenso wie urheberrechtlich gebotene Vermerke zu Abbildungen.
Das Problem vor dem jeder steht, der ein Buch über den Struwwelpeter schreiben will, ist somit die Vielfältigkeit des Materials. Dieses besteht einerseits in einer Betrachtung des Originals, dann in den sogenannten Struwwelpeteriaden, die unverkennbar an den Struwwelpeter anknüpfen und deren Zahl sich im vierstelligen Bereich bewegt, und letztlich in einer Sekundärliteratur, die hunderte Beiträge umfasst.
Aus einem Bilderbuch von knapp einmal 20 Seiten ist somit eine geradezu unübersehbare Zahl von fortschreibenden, variierenden, parodierenden und kommentierenden Publikationen erwachsen, die geeignet sind, einen gar nicht so kleinen Bücherschrank zu füllen. Dies sei auch zur Warnung für jene gesagt, die daran denken sollten, Struwwelpetermaterial zu sammeln.
Der allergrößte Teil der Sekundärliteratur besteht in einer Darstellung von Einzelaspekten des Struwwelpeter und der Struwwelpeterrezeption.
Meine Absicht ist es nunmehr, in einer Reihe von Beiträgen einen möglichst geschlossenen Überblick über die Geschichte des Struwwelpeter selbst und seine literarischen Wirkung zu geben. Dabei will ich mich an das oft zitierte Wort Goethes halten, wonach ein Buch, das große Wirkung gehabt hat, eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden kann. Ich werde also die verschiedenen Stimmen, die den Struwwelpeter teils rühmen, teils verdammen, zu Wort kommen lassen, mich dabei aber einer möglichst großen Objektivität befleißigen. Ich sage möglichst, denn es versteht sich von selbst, dass jemand, der wie ich, dem Struwwelpeter so viel Aufmerksamkeit widmet, eine gewisse Bewunderung für dieses Buch empfindet.
Es versteht sich ebenfalls von selbst, dass die Fülle des Materials eine restriktive Auswahl und damit erhebliche Einschränkungen notwendig machte. So mancher Aspekt, der es verdient hätte, noch näher beleuchtet zu werden, musste daher unberücksichtigt bleiben. Dieses Buch kann und will auch keine Bibliographie sein und beschränkt sich daher auf repräsentative Beispiele.
In diesem Zusammenhang habe ich Wert auf eine reiche Bebilderung gelegt. Denn ein Thema wie dieses, das hauptsächlich Bilderbüchern gewidmet ist, gewinnt nur dann Leben, wenn das Vorgetragene auch mit Bildern belegt wird. Ich habe mich bemüht, die Texte dazu einfach und leicht lesbar zu gestalten, soweit das möglich ist, ohne einen wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben.
Eine Auflistung der von mir besprochenen Titel ist angeschlossen.
Peter Lukasch, im Frühjahr 2015
Der Schöpfer des Struwwelpeter war der Arzt, Politiker und gelegentlich auch Schriftsteller Heinrich Hoffmann.
Hoffmann wurde am 13. 6. 1809 in Frankfurt am Main als Sohn eines Architekten geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er in Heidelberg Medizin und promovierte 1833 zum Doktor der Medizin. Ab 1835 war er in Frankfurt als Arzt tätig und betreute mehr als ein Jahrzehnt gemeinsam mit anderen Ärzten in der sogenannten Armenklinik mittellose Patienten. 1840 heiratete er Theresia Donner und führte seither auch deren Familiennamen: Hoffmann-Donner. Schon kurz nach seiner Verheiratung versuchte er sich als Autor von Gedichten und Theaterstücken, freilich ohne jeden Erfolg.
1848 wurde er zum Abgeordneten des vorrevolutionären Frankfurter Vorparlamentes gewählt.
Von 1851 bis 1888 war er Direktor der Anstalt für Irre und Epileptiker in Frankfurt.
Er starb als hochgeehrter Mann 1894 in Frankfurt.
So verdienstvoll sein berufliches und politisches Leben auch gewesen sein mag, kaum jemand würde sich seiner heute noch erinnern, wenn ihn das 1844 von ihm verfasste Kinderbuch, der Struwwelpeter, nicht über Nacht berühmt gemacht hätte.
Fortan war er in Frankfurt am Main und weit über die Grenzen dieser Stadt und Deutschlands hinaus nur als der Mann bekannt, der den Struwwelpeter geschrieben hatte. Trotz aller beruflichen Erfolge, die ihm später beschieden waren, überstrahlte der Struwwelpeter sein ganzes Leben, was er durchaus genoss und darauf stolz war.
1985 wollte die Stadt Frankfurt am Main, wo sich auch ein Struwwelpetermuseum befindet, ihren berühmten Sohn durch ein Denkmal ehren. Auf der Hauptwache wurde der von Franziska Lenz-Gerharz entworfene Struwwelpeterbrunnen errichtet. Dort stehen jetzt inmitten von Wasserspielen die unsterblichen Figuren aus dem Struwwelpeter und die Kätzchen weinen um das Paulinchen, dass ‚ ihre Tränen fließen wie's Bächlein auf der Wiesen’. Hoffmann selbst ist allerdings nicht präsent.
Mit dem Struwwelpeter ist es wohl ähnlich, wie mit so manch anderem zur Deutung einladenden Werk der Kunst. Der Schöpfer wird bisweilen tiefschürfende Rezensionen lesen und mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, welche erstaunlichen Gedanken ihn bei Herstellung seines Werkes bewegt und was er alles mit seinem Elaborat zum Ausdruck gebracht hat. Hoffmann würde es wohl ähnlich gehen, wenn er in der inzwischen schier unübersehbaren Sekundärliteratur zum Struwwelpeter schmökern könnte. Er war nämlich selber, woraus er nie ein Hehl gemacht hat, vom Erfolg seines Struwwelpeter mehr als überrascht. Auch ergibt sich aus den unmittelbar auf ihn selbst zurückgehenden Quellen kein Hinweis darauf, dass er jemals etwas anderes im Sinn hatte, als ein simples Kinderbuch zu schaffen.
Es gehört zu den großen Rätseln des Struwwelpeter, worauf sein so unglaublicher Erfolg zurückführen ist. Viele Versuche sind unternommen worden, dieses Phänomen zu erklären und so mancher dieser Ansätze wird auch ein gutes Teil Wahrheit enthalten, gänzlich und überzeugend lässt es sich nicht ergründen. Das wird wohl auch daran liegen, dass jede einzelne der Geschichten im Struwwelpeter Fragen aufwirft, die dem Leser erst nach und nach zum Bewusstsein kommen und ihn beschäftigen. Das reicht von den sprechenden Kätzchen, die das fürwitzige Mädchen warnen, über den Knaben, der binnen weniger Tage an Suppenmangel stirbt, über einen dämonischen Schneider, der eine geringfügige Unart grausam straft, bis hin zu Robert, den der Wind wegträgt, wohin weiß keiner zu sagen. Denn die Geschichten mit ihrem bösen Ende sind keineswegs so abgeschlossen, wie es scheinen mag. Es fehlt die explizite Moral von der Geschichte, die sich ein Kind und so mancher Erwachsene erwartet. Diese mag zwar aus der Geschichte erschlossen werden, aber immer mit einem Fragezeichen. Die Episoden des Struwwelpeter laden zum Nachdenken, zum Deuten und Grübeln ein, auch wenn sich das bei oberflächlicher Betrachtung des Buches nicht sofort erschließt.
So mag dieses Buch auf den Leser ganz unterschiedlich wirken, unmittelbar auf das Kind und eine verstandesmäßige Deutung fordernd auf den Erwachsenen.
Der Struwwelpeter scheint mir aus Sicht eines Erwachsenen am ehesten ein Gleichnis für die kindliche Entwicklung an sich, für das Loslösen des Kindes von den Eltern zu sein: Da ist zuerst der Struwwelpeter selbst. Wenn man ihn genau betrachtet, besonders in seiner endgültigen Form, ist er kein kleines Kind mehr, sondern ein an der Grenze zur Pubertät stehender Knabe, der einsam und ein wenig trotzig dasteht und sich von seiner Umwelt getadelt und abgelehnt erlebt („Pfui, ruft da ein jeder…“). Es ist ja auch nicht so, dass er immer so schwierig war. Dieser Zustand ist erst im letzten Jahr eingetreten („… ließ er sich nicht schneiden seine Nägel fast ein Jahr…“) und es gibt keinen Hinweis dafür, dass er auch schon vorher problematisch war. Er ist als Pubertierender ein Rätsel für seine Eltern und mehr noch wohl auch für sich selbst.
Kein Wunder, dass er wie der bitterböse Friederich in Aggressionen verfällt und am Ende dafür büßt. Alles was er nicht unverschuldet erntet, sind Schmerzen und bittere Medizin, er wird zurechtgestutzt während sein Widersacher, der Hund, triumphiert.
In der Geschichte von den Tintenbuben steht aus heutiger Sicht der antirassistische Aspekt im Vordergrund. Das hat dem Struwwelpeter trotz aller sonst gegen ihn geäußerter Bedenken ein gewisses Wohlwollen jener eingebracht, die mit missionarischem Eifer historische Kinderbücher auf ihre politische Korrektheit und pädagogische Verträglichkeit unter dem Gesichtspunkt moderner Erziehungsansätze beurteilen und das Verbot oder die Abänderung von Kinderbüchern, die ihnen nicht mehr zeitgemäß erscheinen, fordern und auch durchsetzen. Damit ist dem Struwwelpeter das Schicksal anderer Klassiker der Kinderliteratur, wie Zehn kleine Negerlein, oder Hatschi Bratschis Luftballon – um zwei prominente Beispiele zu nennen – erspart geblieben. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit aber den Tintenbuben zuwenden, die nicht einzeln wie die anderen Struwwelkinder agieren, sondern als Gruppe, finden wir die ganz typische Bandenbildung von Buben, die sich zusammenschließen, nicht selten um Unfug zu treiben und leider auch, um gelegentlich andere zu schikanieren. Es ist dies ein – von Schiller als ‚der Brüder wilde Reihen’ bezeichnetes – gruppendynamisches Verhalten Heranwachsender, das zwischen der Loslösung vom Elternhaus und der Gründung eines selbstständigen Lebens liegt.
Das Paulinchen und der Daumenlutscher haben eines gemeinsam: Sie ringen um das Einhalten von vorgegebenen Verhaltensnormen und scheitern daran, sobald sie der elterlichen Kontrolle entronnen sind. Denn in beiden Fällen geschieht das Unglück erst, als sie von ihren Eltern allein gelassen werden. Sie können nicht widerstehen, ihren Wünschen nachzugeben, eigene Erfahrungen zu machen, Grenzen zu überschreiten und müssen – bei Hoffmann in übersteigerter Weise – erfahren, dass ein derartiges Verhalten Konsequenzen hat.
Auch der Suppenkaspar und der Zappelphilipp weisen Gemeinsamkeiten auf. Der Suppenkasper ist ein renitenter Verweigerer. Die Suppe steht nur symbolisch für die ständigen Bevormundungen, die er lange genug ertragen hat, jetzt aber plötzlich entschieden zurückweist. Der Zappelphilipp wiederum widersetzt sich allen Bemühungen seiner Eltern, ihn zu einem gesellschaftlich akzeptierten Benehmen zu erziehen und legt ein Verhalten an den Tag, das seine Eltern zur Verzweiflung bringt und in einer veritablen häuslichen Missstimmung endet.
Das Häschen im wilden Jäger steht schließlich für den von so manchem Jugendlichen erträumten Wunsch, die gegebenen Machtstrukturen umzukehren und es seinen ‚Unterdrückern’ zu zeigen.
Hans Guck-in-die-Luft hat Probleme damit, aus dem Reich kindlicher Tagträume in die Realität des Lebens zu wechseln und sich zielstrebig auf dessen Ernst vorzubereiten.
Robert ist es am Ende, der sich von den Stürmen des Lebens davontragen lässt, so wie es in jedem Menschenleben ist, mit unsicherem Ausgang.
Die Entstehungsgeschichte des Struwwelpeter wurde oft erzählt. Sie findet sich in zahlreichen Auflagen des Struwwelpeter und kaum eine Arbeit, die sich mit dem Struwwelpeter beschäftigt, verzichtet darauf, diese Erzählung widerzugeben.
Demnach war der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann in der Vorweihnachtszeit 1844 auf der Suche nach einem Geschenk für seinen dreijährigen Sohn. Das vorhandene Angebot an Kinderbüchern vermochte ihn nicht zu überzeugen: „Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: 'Das brave Kind muss wahrhaft sein‘; oder: 'Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘ usw.“
Also entschloss sich Hoffmann, in ein leeres Schreibheft selbst ein Bilderbuch – die Urversion des Struwwelpeter – zu zeichnen und auf den Gabentisch zu legen. Dieses Büchlein fand bei Bekannten, denen es gezeigt wurde, so großen Anklang, dass sich Hoffmann dazu überreden ließ, es zu veröffentlichen. Zu Weihnachten 1845 erschien die erste Ausgabe des Struwwelpeter.
Es wird wohl so gewesen sein, dass in dieser Geschichte tatsächlich ein wahrer Kern steckt. Hoffmann war allerdings nicht bloß ein in dichterischen Dingen unerfahrener Familienvater, dem unbeabsichtigt und eher beiläufig ein Geniestreich gelang. Er hatte einen ausgeprägten Hang zur Schriftstellerei, wenngleich seine bisherigen Publikationen erfolglos geblieben waren, und er liebte es, seinen Freunden und Bekannten die Früchte seiner dichterischen und zeichnerischen Bemühungen vorzustellen.
Wie er selber später erzählte, hatte er schon früher kindergerechte Skizzen angefertigt – nicht selten um seine kleinen Patienten zu erfreuen. Darauf konnte er wohl beim ersten Entwurf des Struwwelpeter zurückgreifen.
Die vom Verlag und auch von Hoffmann selbst zielgerichtet verbreitete Entstehungsgeschichte des Struwwelpeter ist eine sorgfältig ausgebaute und publikumswirksam vereinfachte Version des Entstehungsprozesses dieses Büchleins.
Schon die einleitende Kritik am bestehenden Angebot an Kinderbüchern diente dazu, den Struwwelpeter positiv von anderen zeitgleichen Publikationen abzuheben und auf seinen innovativen Charakter hinzuweisen. Die Geschichte von dem selbstverfertigten Bilderbuch für den eigenen Sohn war geeignet, bei den potentiellen Käufern Wohlwollen zu wecken. Der Hinweis darauf, dass sich der Verfasser erst über Drängen vieler anderer zu einer Veröffentlichung entschloss, impliziert die Güte des angepriesenen Werkes und betont gleichzeitig die sympathische Bescheidenheit des Verfassers in Bezug auf sein literarisches Werk, eine Eigenschaft, die man Hoffmann nicht wirklich nachsagen kann.
Allein schon die so verbreitete Entstehungsgeschichte des Buches war in ihrer Gesamtaussage hoch werbewirksam. Sie wurde gern und oft nacherzählt.
So findet sich in einer Besprechung in der Didaskalia, Blätter für Geist, Gemüth und Publizität, vom 13.12 1845, anlässlich der Erstausgabe von ‚Lustige Geschichten und drollige Bilder’ bereits der Passus:
„Dies Büchlein mit seinen trefflichen Bildern und echt kindlichen Reimlein war eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern von einem an Geist und Humor reichen Vater für seine eigenen Kinder entworfen und ausgearbeitet worden; aber Allen, welche es sahen, gefiel es so sehr, dass sein Verfasser dem vielseitigen Wunsche, es zum Nutzen und Frommen der Kinderwelt vervielfältigen zu lassen, nachgeben musste.“
In der Nummer 46 des Illustrierten Familienblattes Gartenlaube aus dem Jahre 1871 wird die Entstehungsgeschichte des Struwwelpeter ausführlicher geschildert. Als Verfasser scheint ein ehemaliger Studienkollege Hoffmanns auf, der sich von Hoffmann die Entstehungsgeschichte des Struwwelpeter erzählen lässt. Gezeichnet ist dieser – im Folgenden auszugsweise wiedergegebene – Artikel mit F.S. Wer sich hinter diesem Kürzel verbirgt, ist nicht bekannt:
„Gegen Weihnachten des Jahres 1844“ begann er, „als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: ‚Das brave Kind muss wahrhaft sein‘, oder: ‚Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘ etc. – Als ich nun gar endlich ein Foliobuch fand, in welchem eine Bank, ein Stuhl, ein Topf und vieles Andere, was wächst oder gemacht wird, ein wahres Weltrepertorium, abgezeichnet war, und wo bei jedem Bild fein säuberlich zu lesen war: die Hälfte, ein Drittel, oder ein Zehntel der natürlichen Größe, – da war es mit meiner Geduld aus. Einem Kind, dem man eine Bank zeichnet, und das sich daran erfreuen soll, ist dies eine Bank, eine wirkliche Bank. Und von der wirklichen Lebensgröße der Bank hat und braucht das Kind gar keinen Begriff zu haben. Abstract denkt ja das Kind noch gar nicht, und die allgemeine Warnung: ‚Du sollst nicht lügen!‘ hat wenig ausgerichtet im Vergleich mit der Geschichte: ‚Fritz, Fritz, die Brücke kommt!‘1
Als ich damals heimkam, hatte ich aber doch ein Buch mitgebracht; ich überreichte es meiner Frau mit den Worten: ‚Hier ist das gewünschte Buch für den Jungen!‘ Sie nahm es und rief verwundert: ‚Das ist ja ein Schreibheft mit leeren weißen Blättern!‘ ‚Nun ja, da wollen wir ein Buch daraus machen!‘
Damit ging es nun aber so zu. Ich war damals, neben meinem Amt als Arzt der Irrenanstalt2, auch noch auf Praxis in der Stadt angewiesen. Nun ist es ein eigen Ding um den Verkehr des Arztes mit Kindern von drei bis sechs Jahren. In gesunden Tagen wird der Arzt und der Schornsteinfeger gar oft als Erziehungsmittel gebraucht: ‚Kind, wenn du nicht brav bist, kommt der Schornsteinfeger und holt dich!‘ oder: ‚Kind, wenn du zu viel davon issest, so kommt der Doktor und gibt dir bittere Arznei, oder setzt dir gar Blutegel an!‘ Die Folge ist, dass, wenn in schlimmen Zeiten der Doktor gerufen in das Zimmer tritt, der kleine kranke Engel zu heulen, sich zu wehren und um sich zu treten anfängt. Eine Untersuchung des Zustandes ist schlechterdings unmöglich; stundenlang aber kann der Arzt nicht den Beruhigenden, Besänftigenden machen. Da half mir gewöhnlich rasch ein Blättchen Papier und Bleistift; eine der Geschichten, wie sie in dem Buche stehen, wird rasch erfunden, mit drei Strichen gezeichnet, und dazu möglichst lebendig erzählt. Der wilde Oppositionsmann wird ruhig, die Tränen trocknen, und der Arzt kann spielend seine Pflicht tun. So entstanden die meisten dieser tollen Szenen, und ich schöpfte sie aus vorhandenem Vorrat. Einiges wurde später dazu erfunden, die Bilder wurden mit derselben Feder und Tinte gezeichnet, mit der ich erst die Reime geschrieben hatte, alles unmittelbar und ohne schriftstellerische Absichtlichkeit. Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsene Freunde, die das Büchlein zu Gesicht bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten. Fast wider Willen wurde ich dazu gebracht, als ich einst in einer literarischen Abendgesellschaft mit dem Einen meiner jetzigen Verleger gemütlich bei der Flasche zusammensaß. Und so trat das bescheidene Hauskind plötzlich hinaus in die weite offene Welt und machte nun seine Reise, ich kann wohl sagen, um die Welt, und ist heute seit sechsundzwanzig Jahren bis zur neunundsechzigsten Auflage gelangt. Von Übersetzungen ist mir bis jetzt eine englische, holländische, dänische, schwedische, russische, französische, spanische und eine portugiesische (für Brasilien) zu Gesicht gekommen.“
…
„Und trotzdem, lieber Freund,“ bemerkte ich, „hat man Ihre Bilderbücher herzhaft angegriffen, an denselben das gar zu Märchenhafte, in den Bildern das fast Fratzenhafte herb genug getadelt.“
„Ja,“ erwiderte der Freund, „man hat den Struwwelpeter großer Sünden beschuldigt. Da heißt es: ‚Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.‘ Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Kabinetten mit antiken Gipsabdrücken! Aber man muss dann auch verhüten, dass das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon3 zeigt. Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen! Das germanische Kind ist aber nur das germanische Volk, und schwerlich werden diese National-Erzieher die Geschichte vom Rotkäppchen, das der Wolf verschluckte, vom Schneewittchen, das die böse Stiefmutter vergiftete, aus dem Volksbewusstsein und aus der Kinderstube vertilgen. Mit der absoluten Wahrheit, mit algebraischen oder geometrischen Sätzen rührt man aber keine Kinderseele, sondern lässt sie elend verkümmern.“
…
1 Eine Anspielung auf das Gedicht von Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) ‚Der Bauer und sein Sohn’: Ein Vater erzählte seinem lügnerischen Sohn, auf einer Brücke, welche die beiden zu überschreiten hatten, läge ein Stein, an dem sich jeder das Bein bräche, der an diesem Tag schon gelogen habe. Darüber erschrak der Knabe und gestand seine Lügen ein.
2 Dieser Passus muss auf einem Missverständnis beruhen. Hoffmann hatte zu diesem Zeitpunkt mit der Irrenanstalt, deren Direktor er erst 1851 wurde, noch nichts zu tun. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Hoffmann, er habe bis zu diesem Zeitpunkt (1851) die Irrenanstalt noch nie betreten.
3 Die sogenannte Laokoon-Gruppe zeigt eine Episode aus der Ilias. Laokoon und seine Söhne werden von einer Meeresschlange getötet, weil Laokoon davor gewarnt hatte, das ‚Trojanische Pferd’ in die Stadt zu bringen. Diese weltberühmte Skulptur ist etwa 200 v. Chr. entstanden und in einer römischen Kopie erhalten, die in den Vatikanischen Museen verwahrt wird.
Die erste Ausgabe des Struwwelpeter erschien zu Weihnachten des Jahres 1845 unter dem Titel Lustige Geschichten und drollige Bilder in einer Auflage von 1500 Stück. Auf 15 Blättern wurden die Geschichten: Vom bitterbösen Friederich, Vom kohlpechschwarzen Mohren, Vom wilden Sonntagsjägersmann, dem Suppen-Kaspar und dem Daumen-Lutscher erzählt. Auf dem letzten Bild findet sich Der Struwwel-Peter ‚wüst und wild’.
Sowohl Texte als auch Zeichnungen stammen von Hoffmann. Das Manuskript dieses Ur-Struwwelpeters befindet sich im Besitz des germanischen Nationalmuseums Nürnberg.
Die Zeichnungen Hoffmanns sind einfach und lassen erkennen, dass hier kein ausgebildeter Zeichner, sondern nur ein mittelmäßig begabter Dilettant am Werk war. Wohlmeinende Betrachter haben den Zeichenstil als karikierend beschrieben, er scheint mir eher infantil zu sein. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, geht von diesen einfachen Bildern eine Faszination aus, der sich auch der erwachsene Betrachter – selbst nach mehr als 150 Jahren – nur schwer entziehen kann.
Dasselbe kann man auch von den Versen sagen. Das selbstkritische Autorenpseudonym ‚Reimerich’ der ersten vier Auflagen wird diesen Reimen durchaus gerecht. Allerdings finden sich darunter hinreißend komische Formulierungen, die bereits zum allgemeinen Zitatenschatz gehören, wie zum Beispiel: „Der Friederich, der Friederich, das war ein arger Wüterich“, „Konrad sprach die Frau Mama, ich geh fort und Du bleibst da“ und gleich anschließend „Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wieder komm“, oder „Die Sonne schien ihm aufs Gehirn, da nahm er einen Sonnenschirm“ u.s.w.
Im Folgenden die erste Version des Struwwelpeter:
Das Innovative an diesem Büchlein war eine bis dahin in dieser Konsequenz in einem Kinderbuch noch nie verwirklichte Verknüpfung von Text und Bild. Die Bilder waren nicht mehr nur Illustrationen, sondern hatten eine deutlich narrative Aufgabe. Sie waren mit dem Text verwoben, bildeten mit ihm eine Einheit und halfen, die Geschichte zu erzählen.
Die Reaktion der Zeitgenossen war unterschiedlich und reichte von begeisterter Anerkennung bis zu entschiedener Ablehnung. In der Presse wurde das Buch jedoch überwiegend wohlwollend aufgenommen. Das endgültige Urteil sprachen allerdings die Leser, in erster Linie die Kinder. Der Struwwelpeter wurde ein durchschlagender Erfolg. Bereits im Laufe der Jahre 1846 und 1847 folgten mehrere Neuauflagen. Schon in der zweiten Auflage begann Hoffmann, wohl selbst überrascht durch den Erfolg, sein Pseudonym zu lüften. Als Autor schien jetzt bereits ein Heinrich Reimerich auf, in der fünften Auflage bekannte sich Hoffmann endgültig mit seinem Namen zu seinem Werk.
Bereits in der zweiten Auflage von 1846 wurden dem Buch zwei weitere Geschichten hinzugefügt, nämlich: Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug als zweite Episode und die Geschichte Von dem Zappel-Philipp als vorläufig letzte Episode.
In der dritten Auflage wurde der Struwwelpeter im Titel genannt, was dem Interesse entsprach, das er bei seinen Lesern weckte.
Die fünfte Auflage wurde durch die beiden nunmehr letzten Geschichten ergänzt: Die Geschichte vom Hanns-Guck-in-die-Luft und Die Geschichte vom fliegenden Robert. Gleichzeitig rückte der Struwwelpeter, der bis dahin bloß eine Existenz als Seitenfüller am Schluss geführt hatte, an den Anfang des Buches und bestätigte damit, dass das Buch bereits allgemein ‚Der Struwwelpeter’ genannt wurde.
Die so vorliegende Form des Struwwelpeter bestand bis zum Jahre 1858, in welchem er mit neuen Illustrationen seine endgültige Fassung erhielt.
Im Folgenden die nach und nach hinzugefügten Geschichten in ihrer ersten Version:
Wer sich mit dem Struwwelpeter als Buch befasst, kommt nicht darum herum, sich mit der titelgebenden Figur ausführlicher zu beschäftigen, obwohl sie nur aus einem einzigen Blatt besteht. Mehr als alle anderen Figuren des Buches regt der Struwwelpeter die Phantasie an und fordert zu Fragen heraus. Alle anderen Protagonisten des Struwwelpeter haben ihre eigene Geschichte. Nicht immer eine erfreuliche, zugegebenermaßen, aber mit einer Handlung und einem Ende: Den bitterbösen Friederich beißt der Hund, weil er ihn schlägt, Paulinchen verbrennt, weil sie auf Warnungen nicht hören will, der Suppenkaspar verhungert, weil er seine Suppe nicht essen will usw. Der Struwwelpeter hat nichts von alledem. Er hat nur sich selbst. So steht er auf seinem Podest, mit trotzig gespreizten Beinen und einem unergründlichen, ein wenig traurigem Gesichtsausdruck. Wir erfahren lediglich, dass er schon seit fast einem Jahr seine Nägel nicht schneiden und sein Haar nicht kämmen ließ. Da steht er, mit seiner strubbeligen Mähne und den unsinnig langen Nägeln. „Pfui“, ruft da zwar ein jeder, aber es bleiben Fragen offen: Warum verhält er sich so? Ist er etwa nur ein ungepflegter Schmutzfink, den man mit Abscheu betrachtet und damit genug? Schwer vorzustellen. Abgesehen von seiner Haarpracht und den langen Nägeln wirkt er sehr gepflegt und gar nicht abstoßend. Was ist also bloß los mit diesem Burschen? Ist er etwa ein Verweigerer, ein Aussteiger, ein Individualist? Ist er am Ende gar ein verkappter Revoluzzer? Das hat man ihm später oft genug nachgesagt. Und dann natürlich die Frage, ob man ihm sein unangepasstes Verhalten so einfach durchgehen lassen kann. Alle anderen Kinder in diesem Buch müssen die Folgen tragen, wenn sie sich nicht so verhalten, wie sie sollen. Was aber ist mit dem Struwwelpeter? Er fordert geradezu zu einer Reaktion heraus. Muss man ihn nicht bestrafen, weil er so anders ist, als er sein sollte? Oder ihn zumindest bessern? Man kann ihn doch nicht einfach so stehen lassen!
Eben weil der Struwwelpeter keine eigene Geschichte hat, konnte er mehr als alle anderen seiner Gefährten ein Eigenleben entfalten und in vielfältiger Gestalt nachgeahmt, parodiert, gebessert und umgeschrieben die Kinderbuchszene – und nicht nur diese – der nächsten eineinhalb Jahrhunderte beleben. Der Struwwelpeter ist ein Archetyp, ein Archetyp, der die Zeitläufe hindurch stets neu erfunden und interpretiert werden will.
Es ist nicht anzunehmen, dass Hoffmann von Anfang an die Idee hatte, eine solche Gestalt zu schaffen. Der Struwwelpeter hat unter seinen Händen Gestalt und Leben angenommen und sich dann einfach selbstständig gemacht. Hoffmann und wohl vor ihm die Kinder haben das erkannt. Hoffmann ist klugerweise nie der Versuchung erlegen, seinem Struwwelpeter nachträglich eine Geschichte zu geben. Er hat ihn, nachdem er einen gewissen Gestaltungsprozess durchlaufen hatte, so belassen, wie wir ihn auch heute kennen.
Geht man der Frage nach, ob Hoffmann für seinen Struwwelpeter ein Vorbild hatte, stößt man in der Literatur unweigerlich auf den Namen Paul Gavarni (das ist Sulpice-Guillaume Chevalier). Gavarni war ein französischer Zeichner, der etwa ab 1840 eine Serie von Lithographien veröffentlichte, denen er den Titel Revers de medailles gab. Eine dieser Zeichnungen zeigt einen Knaben (un enfant terrible), der an eine Dose mit Löwenpomade geraten ist und dem jetzt die Haare auf Kopf und Händen wild sprießen (Abbildung vorige Seite links).
Diese Zeichnung findet sich auch in einem anderen Bildzyklus Gavarnis mit dem Titel Enfant terrible wieder und taucht 1843, also kurz vor Entstehung des Struwwelpeter, unter dem Titel Industrielles Wunder der Jetztzeit in Deutschland auf. Diese Lithografie stammt von A. Kneisel. Kneisel hatte nichts anderes getan, als die Vorlage von Gavarni zu spiegeln und geringfügig zu verändern. Der Text dazu lautet: „Abbildung eines Knaben, der über ein Büchschen mit haarwachsender Löwen-Pomade oder ein Fläschchen mit Schweizer Kräuter-Öl4 geraten ist“ (Abbildung vorige Seite rechts).
Das Thema des Knaben, dem durch den unvorsichtigen Umgang mit Haarwuchsmittel eine Löwenmähne wächst, muss sich überhaupt einiger Beliebtheit erfreut haben. Es ist eine ähnliche Lithografie von dem deutschen Zeichner L. Löffler aus dem Jahre 1842 bekannt. Der Text dazu lautet: „Schreckliche Folgen der Unvorsichtigkeit eines Kindes, das mit der Haarwuchs-Pomade gespielt hat.“
Die Ähnlichkeit der Bilder von Gavarni und Kneisel mit dem Struwwelpeter 5ist jedenfalls auffallend. Auch Remigius Brückmann hat das Thema aufgegriffen und zu belegen versucht, dass wir in diesen Grafiken von Gavarni das Vorbild des Struwwelpeter vor uns haben.6
Es gibt ein weiteres Indiz: Dem Urmanuskript des Struwwelpeter lag die Zeichnung einer unveröffentlichten Struwwelpetervariante bei. Obwohl man es nicht sicher weiß, auch nicht, wann diese Zeichnung entstanden ist, kann man mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass sie von Hoffmann stammt. Nun unterscheidet sich diese Zeichnung sehr deutlich von den anderen, die Hoffmann für die erste Version des Struwwelpeter gezeichnet hat. Es fällt nicht nur die Ähnlichkeit zu Gavarni und Kneisel ins Auge, sondern auch die sorgfältige und detailreiche Ausführung, besonders der Haarmähne. Die Vermutung drängt sich auf, dass Hoffmann hier – anders als bei den originären Bildern des Struwwelpeter – nach einem Vorbild gearbeitet hat (Abbildung unten).
Der Struwwelpeter war, wie Hoffmann selbst einräumte, zuerst nur ein Seitenfüller gewesen, kaum mehr als eine erst nachträglich eingefügte Vignette, um die Seitenzahl des Buches zu komplettieren. Hoffmann hatte offenbar keine Geschichte dazu und auch das weist darauf hin, dass der Struwwelpeter nachträglich entstanden ist, und sich Hoffmann dazu von zeitgenössischen, humoristischen Zeichnungen inspirieren ließ. Dass Hoffmann kein Problem damit hatte, Anleihen bei anderen Zeichnern zu nehmen, zeigt die Version des Struwwelpeter von 1858, die in so manchem Detail von den Zeichnungen der russischen Ausgabe beeinflusst war.
Es muss letztlich Spekulation bleiben, ob Hoffmann ein Vorbild für seinen Struwwelpeter hatte, weil der endgültige Beweis fehlt. Einige Indizien dafür gibt es aber schon.
Anfänglich sollte der Struwwelpeter auch gar nicht so heißen. Aus dem Urmanuskript ist zu ersehen, dass er zunächst ‚Das Struwwel- und Nagelkind’ heißen sollte. Hoffmann hat das noch vor Drucklegung in Struwwelpeter geändert. Warum gerade Peter? Man könnte sagen, Hoffmann wollte ihm einfach einen richtigen Namen geben, so wie seinen anderen Figuren auch. Warum nicht also Peter, ein Name so gut wie jeder andere auch?
Wir wissen nicht, warum Hoffmann diesen Namen wählte, aber es gab schon vorher einen Peter in seinen Werken. Nämlich in dem Schauspiel aus dem Jahre 1843 Die Mondzügler, eine Komödie der Gegenwart. Diesem Werk ist ein Wort Platens als Widmung vorangestellt:
„Hier hat der Poet euch Deutschland selbst, / euch deutsche Gebrechen geschildert. / Doch hat er den Spott durch freundlichen Scherz, / durch hüpfende Verse gemildert.“ (Platen: Die verhängnisvolle Gabel, Lustspiel in 5 Akten).
Lässt man die vielfältigen philosophischen Bezüge beiseite, die in einer heute nur mehr schwer verständlichen Weise das ganze Werk überwuchern, handelt es sich um ein Schelmenstück, das die vom Autor als unbefriedigend empfundene politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland kritisiert. Damit nimmt sich Hoffmann eines politischen Themas an, das er im Umweg über seinen Struwwelpeter, der sich 1848 Peter Struwwel nennt, in der Revolutionssatire Handbüchlein für Wühler, oder kurzgefasste Anleitung in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden neuerlich aufgreift.
In den Mondzüglern ruft Merkur den verstorbenen Till Eulenspiegel wieder ins Leben zurück, damit dieser die Geschichte erzähle:
Peter trifft nach langen Auslandsaufenthalten in seiner Heimat Traumstadt ein und findet alles sehr provinziell: „Ja, dass sich was im lieben Deutschland bessern soll, da braucht es anderer Dinge noch, als Zeit allein…“ Er gibt sich als Diener eines englischen Herrn namens Flunkerton zu erkennen.
Dieser zieht mit großem Aufwand in das Städtchen ein, „gefolgt von Bürgern, Weibern und Kindern. Er ist reich und bunt gekleidet. Vor ihm her gehen zwei Mohren, die nach den letzten Worten ein kurzes Trompetenstück blasen.“
Flunkerton erzählt, es sei ihm gelungen, mit einem Luftschiff den Mond zu erreichen und er bietet den Bürgern von Traumstadt an, auf den Mond, den er als gelobtes Land schildert, auszuwandern. Zum Beweis für seine Geschichte stellt Flunkerton Peter als Mondbewohner vor.
Peter bereitet das Treiben seines Herrn Sorgen. „Wenn ich’s verrate, schlagen sie mich tot, gewiss! / Nicht minder, wenn ich schweige! Ich geschlag’ner Mann! / Was fang' ich an? – Pfui Peter! Dich verlässt der Mut / Zum erstenmal in deinem Leben! Schäme dich!“
Peter und die Tochter des Amtmannes, Faustide, kommen einander näher. Die junge Dame erweist sich als dichtende Emanze, die mit Peter durchbrennen will: „Ich erkenne mehr in dir noch; denn du bist Romanenheld… Ei! Wir reisen miteinander nur zu unserm Zeitvertreib! / Jene ganze Firma hass ich, die man hier Familie nennt, / Und die uns das Sklavenzeichen auf die blöde Stirne brennt. / Eine Amazone bin ich mit der Lanze: Poesie; / Diese bürgerliche Ordnung, den Zentauren, duld ich nie!“
Als Faustide ins Haus eilt, um Geld zu holen, ermahnt sie Peter: „Du begeh mir keine Gräuel, während ich im Hause bin!“ 7
Flunkerton prellt die Bewohner von Traumstadt um ihr Geld und entschwebt – sie verspottend – mit seinem Luftballon.
Nur der Amtmann ist frohen Mutes, weil er sein Geld behalten und Flunkerton bloß Steine gegeben hat. Da ereilt ihn böse Kunde: Seine Tochter Faustide ist mit Peter durchgebrannt und hat alle seine Schätze mitgenommen: „Dass Gott erbarm! Mein Geld! Mein Geld! Die Tochter könnt’ ich missen. Zu plündern selbst die Obrigkeit! Der Mensch hat kein Gewissen!“
Es wäre ein gewagtes Konstrukt, wollte man eine unmittelbare Beziehung zwischen diesem Peter und dem Struwwelpeter herstellen, auch wenn sich Peter ob seiner Ratlosigkeit selbst ein ‚Pfui’ zuruft, was auch dem Struwwelpeter von dritter Seite widerfährt. Aber beide sind Kinder der heraufdämmernden Revolution und unzufrieden mit der Situation in Deutschland. Während der Struwwelpeter in seiner Inkarnation als Peter Struwwel aber zum Revolutionär wird, findet der Peter in den Mondzüglern eine andere Lösung: Er macht sich mit seiner Geliebten, mit der er sich größtmögliche Freiheit von den bürgerlichen Zwängen erwarten kann, davon.
Abgesehen von dem zeitlichen Naheverhältnis von wenig mehr als einem Jahr zwischen den Mondzüglern und dem Struwwelpeter besteht auch noch ein anderer Zusammenhang. Die Mondzügler waren nämlich überhaupt kein Erfolg und Hoffmann schuldete dem Inhaber der Jaeger’schen Buchhandlung, der die Mondzügler auf geteiltes Risiko herausgebracht hatte, aus diesem Verlustgeschäft noch 80 Gulden, für seine damaligen Verhältnisse eine nicht unerhebliche Summe. Als der Verleger Rütten spontan Interesse am Struwwelpeter bekundete, überließ ihm Hoffman das Manuskript um diese Summe (für die erste Auflage), um seine Schulden aus den Mondzüglern bezahlen zu können. Wie im Kapitel über die Entstehungsgeschichte der zweiten und endgültigen Version des Struwwelpeter von 1858 noch geschildert werden wird, rang auch Hoffmann um eine neue, treffendere Interpretation des Struwwelpeter, beließ ihn dann aber in der Gestalt, in der wir ihn heute kennen und die einen Kompromiss zwischen Hoffmanns Vorstellungen und jenen des Verlages darstellten.
Der Struwwelpeter ist jene Figur, die nicht nur aus grafischen Gründen, sondern auch was ihren Charakter betrifft, in den Struwwelpeteriaden die weitreichendsten Änderungen erfahren hat. Dies fällt besonders um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf, worauf im Kapitel ‚Struwwelpeteriaden zwischen 1870 und 1914’ noch näher einzugehen sein wird.
Beispielhaft wird bei der nebenstehenden holländischen Version des Struwwelpeter aus einer Ausgabe von 1885 deutlich, wie sehr sich die Auffassung vom Struwwelpeter als Figur geändert hatte. Er steht nicht mehr als selbstbewusste, rätselhafte Figur auf einem Podest und fordert Fragen und Reaktionen heraus, sondern die Fragen sind gelöst: Er wird realistisch interpretiert. Jetzt ist er einfach nur mehr ein ungepflegter Schmutzfink, der seines Podestes und seiner Isolation beraubt, von anderen Kindern verspottet wird.
Man kann sich heute nur mehr schwer vorstellen, wie sensationell der Struwwelpeter auf seine Zeitgenossen gewirkt haben muss. Denn er war von Anfang an Kult, und er löste eine Welle von Nachahmungen aus. Die Geschichte dieser bis in die Gegenwart reichenden, als Struwwelpeteriaden bezeichneten Epigonen ist zugleich auch eine Geschichte des deutschen Urheberrechtes. Denn der Verlag Literarische Anstalt in Frankfurt, Joseph Rütten, später Rütten & Loening wusste, was er am Struwwelpeter hatte und verteidigte seine Rechte daran mit allen Mitteln.
Nun war in jener Zeit der Begriff des geistigen Eigentums des Werkschöpfers, so wie er heute zentrales Element des Urheberrechtes ist, noch nicht entwickelt. Es ging damals in erster Linie darum, die wirtschaftlichen Interessen eines Verlages durch Schutz vor konsenslosem Nachdruck der von ihm verlegten Werke zu sichern. Darunter verstand man eine mechanische Reproduktion, die das Werk 1:1 wiedergab.
Selbst dagegen verstieß die Firma Schmidt in Nürnberg, indem sie Bilderbogen produzierte, auf denen ganz unverfroren der Struwwelpeter nachgedruckt wurde. Vom ‚Struwwelpeterverlag’ geklagt, verlor Schmidt den in den Jahren 1847 – 1849 ausgetragenen Prozess, und seine Struwwelpeter-Druckstöcke mussten vernichtet werden.
Schwieriger war schon der nächste Angriff abzuwehren. Das Urheberrecht jener Zeit war zwar darauf ausgerichtet, die wirtschaftlichen Interessen des Ursprungsverlages zu schützen, bemühte sich aber andererseits aus volkswirtschaftlichen Gründen auch darum, die Teilhabe anderer Verlage an einem erfolgreichen Werk zu ermöglichen. So durfte jedes Werk, dem kein besonderer künstlerischer oder wissenschaftlicher Wert zuzumessen war, von jedermann übersetzt und als fremdsprachige Ausgabe vertrieben werden. Diesen Umstand machte sich der Verleger Christian Scholz zunutze, indem er fremdsprachige Nachdrucke des Struwwelpeter vertrieb.
Dagegen prozessierte der Inhaber des ‚Struwwelpeterverlages’ Literarische Anstalt in Frankfurt, Joseph Rütten, als Zivilkläger. Die Anklageerhebung oblag allerdings der Staatsbehörde, weil unerlaubter Nachdruck eine von Amts wegen zu verfolgende Straftat war.
Lässt man die für den Laien verwirrende Juristerei beiseite, ging es im Grunde nur um eine Frage: Inwieweit sind die Bilder des Struwwelpeter als Werke der Kunst zu verstehen, sodass ihr Nachdruck unstatthaft war, selbst im Rahmen einer ansonst zulässigen Übersetzung des Textes in eine Fremdsprache?
Der künstlerische Wert oder Unwert des Struwwelpeter war (und ist) also nicht bloß Gegenstand theoretischer Erörterungen durch Kinderbuchhistoriker und Rezensenten, sondern stand bereits im Jahre 1852 in einem beachtenswerten Gerichtsverfahren, das sich über drei Instanzen zog, auf dem Prüfstand.
Die genaue Kenntnis über dieses Verfahren verdanken wir einem Büchlein, das der letztlich wegen Nachdruckes verurteilte Verleger Christian Scholz noch 1852 gleichsam als Rechtfertigung veröffentlichte. Sein sperriger Titel lautet: Actenmäßige Darstellung meiner gerichtlichen Verfolgung durch die literarische Anstalt zu Frankfurt a. M. wegen angeblichen Nachdrucks des Struwwelpeter durch Übersetzung desselben in das Schwedische, Holländische und Englische. Meine Freisprechung in erster und meine Verurtheilung in zweiter Instanz.
Scholz berief sich darauf, dass Bilderbücher, deren Illustrationen keinen künstlerischen Wert hatten – so wie es beim Struwwelpeter der Fall sei – ohne weiteres und unter Übernahme der Abbildungen von jedermann als fremdsprachige Ausgabe verlegt werden konnten.
Außerdem berief sich Scholz, gestützt auf die Aussage des holländischen Verlegers Roelants darauf, dass die inkriminierte holländische Ausgabe unter Federführung des holländischen Verlages Roelants erschienen sei und daher (mangels Rechtsverfolgungsmöglichkeit in Holland) nicht Gegenstand eines Rechtsstreites in Deutschland sein könne. Dieser Argumentation konnte das Revisionsgericht allerdings nicht folgen.
Unter diesem, auf die damalige Rechtslage gegründeten Gesichtspunkt ist das Verhalten des Verlegers Scholz – was der Gerechtigkeit halber gesagt werden muss – nicht bloß als einfacher Akt des Raubdruckes zu sehen und erklärt die Empörung des Verurteilten, zumal auch die Gerichte verschiedene Ansichten vertraten.
Das Erstgericht sprach den Hoffmannschen Illustrationen nämlich jeden eigenständigen künstlerischen Wert ab und führte dazu aus: „In Erwägung (dass) nach dem einstimmigen Urteil der vernommenen Sachverständigen der Struwwelpeter zwar als ein artistisches Werk.. zu betrachten ist, dass dieselben aber auch ausdrücklich erklären, dass in diesem Werke weder der Text, noch die Bilder allein als Hauptsache zu betrachten seien, dass vielmehr beide vereinigt den besonderen Wert dieses Werkchens bilden, und nicht voneinander getrennt werden dürften, dass endlich beide getrennt als ganz wertlos zu betrachten seien.
… In Erwägung (dass) nach diesem Gutachten den Bildern dieses Werkes kein besonderer Kunstwert beigelegt werden kann… (und daher) deren Benutzung bei Herausgabe von Übersetzungen erlaubt oder wenigstens nicht verboten ist.“
Die Ankläger gingen in Revision und das Großherzogliche Hessische Obergericht zu Mainz entschied zugunsten des Struwwelpeter.
In diesem Prozess vor dem Obergericht ist vorerst die Aussage Hoffmanns selbst interessant, weil hier zum ersten Mal von ihm selbst über den Entstehungsprozess des Struwwelpeter berichtet wird:
„Das Buch war ursprünglich für meine eigenen Kinder bestimmt, und die Zeichnungen waren zuerst entstanden, später sammelte ich die einzelnen Blätter und machte einen Text zur Erklärung. Mehrere Freunde, welche dieselben sahen, veranlassten mich zur Herausgabe, und so verkaufte ich dieselben an die Literarische Anstalt von Rütten in Frankfurt, und bekomme für jede Auflage mein Honorar. Ob die Blätter Kunstwert haben, will ich als Autor nicht bestimmen, allein in gewissem Sinne sind dieselben ein Kunstwerk, da es selbständig konzipiert und durch Zeichnung, Malen etc. dargestellt ist, freilich ein Kunstwerk im eigentlichen Sinn ist es nicht.“ Befragt: „Im Struwwelpeter sind die Bilder die Hauptsache und der Text nur Nebensache…“
Das Gericht gelangte schließlich zu folgender Auffassung:
„… Der diesen Bildern beigelegte höhere Wert (wird) weniger in der künstlerischen Ausführung, als in dem Originellen, Genialem ihrer Auffassung und ihrer dem kindlichen Fassungsvermögen so vollkommen entsprechenden Darstellung gefunden, die in diesem Genre als etwas ganz neues, noch nie da gewesenes bezeichnet werden muss… Diese Darstellungen (bezwecken) die Veranschaulichung der Folgen der Unreinlichkeit, des Ungehorsams, des Eigensinns, der Tierpeinigung, der bösen Leidenschaft des Verspottens, des Zorns u. dgl., und zwar… (um) … auf die Beseitigung dieser Untugenden hinzuwirken… Da endlich… die Kindererziehungskunst unbestreitbar eine Wissenschaft ist…“
Das erstinstanzliche Urteil wurde aufgehoben und Scholz zu einer Geldbuße sowie zur Zahlung von Schadenersatz an Rütten verurteilt.
Scholz rief daraufhin den Kassationsgerichtshof an und verlor seinen Prozess in dritter und letzter Instanz.
Das war bei weitem nicht der einzige Urheberrechtsprozess, den der Struwwelpeter zu führen hatte, aber der Wichtigste: Jetzt hatte er es schwarz auf weiß in einem Gerichtsurteil: Er war originell, genial, etwas noch nie da gewesenes in der Kinderbuchszene und nicht nur das: Er war auch ein Kunstwerk und sogar ein Werk, das der Erziehungswissenschaft zuzuordnen ist.
Die Literarische Anstalt in Frankfurt, Joseph Rütten, hatte damit erfolgreich durchgesetzt, dass der Originalstruwwelpeter vor Nachdruck, auch als fremdsprachige Ausgabe, geschützt war. Allerdings ließ sich dieser Schutz in Bezug auf die zahlreichen fremdsprachigen Ausgaben, die im Ausland erschienen, mangels eines international ausgebildeten Urheberrechtes nur unzureichend effektuieren. In der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main wird der Text eines Theaterstückes mit dem Titel Struwwelpeter und Struwwelliese aufbewahrt, das 1897 über Veranlassung des Verlages Rütten & Loening gedruckt und wahrscheinlich verlagsintern aufgeführt wurde.
Neben dem Verriss der Struwwelliese