(mit Vorsicht zu genießen)
Die Handlung und ihre Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich geschehenen Ereignissen, lebenden oder verstorbenen Personen ist zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt. In diesem Sinn wurden auch Behördenzuständigkeiten teilweise abweichend von der Realität dargestellt.
Hinsichtlich des geschichtlichen Hintergrundes der Erzählung wird kein Anspruch darauf erhoben, in allen Details einer exakten historischen Überprüfung standhalten zu wollen.
In den Jahren 1617/18, also kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, fanden vor dem Landgericht Hainburg tatsächlich mehrere Hexenprozesse statt. Die in diesem Buch geschilderten Vorfälle finden jedoch in den überlieferten Prozessunterlagen keine Deckung und sind Fiktion.
Doch Teufels-Liebchen, wenn auch nicht zu schelten,
Sie können nicht für Heroinen gelten.
Goethe, Faust zweiter Teil
Für Theres
Es war kurz nach Mitternacht und ein leichter Regen hatte eingesetzt. Für die Frau, die sich in eine flache Felsspalte gekauert hatte, war die Zeit jedoch ohne Bedeutung. Ebenso wenig kümmerte es sie, dass der plötzlich aufkommende Wind den Regen in ihr Versteck wehte und sie durchnässte, sodass ihr dünnes Kleid bald kalt am Körper klebte. Sie fühlte sich zufrieden und geborgen.
„Lauf weg und versteck dich!“, hatte Luigi gerufen und sie hatte getan, was er ihr befohlen hatte. Wie ein Reh war sie gelaufen, von Fels zu Fels gesprungen, durch das Gestrüpp geglitten und in der Dunkelheit verschwunden, bis sie ihr Versteck gefunden hatte. Jetzt wartete sie auf ihn. Er musste bald kommen und sie holen.
Verständnislos betrachtete sie ihre brennenden Hände, die zerkratzt und blutig waren. Es spielte keine Rolle. Ein angenehmer Duft von Wildblumen hing in ihrer Nase und vermischte sich mit dem Geruch nach nasser Erde. Ein dünnes Rinnsal erdigen Wassers rann ihr übers Gesicht, aber auch das kümmerte sie nicht. Der Mond, der fast schon seine volle Scheibe erreicht hatte, hing direkt vor ihrem Gesicht. Ein Lied kam ihr in den Sinn.
Guter Mond du gehst so stille...
Sie hätte es gern gesungen, aber der Text fiel ihr nicht ein. Wie eine Schallplatte, die hängen geblieben war, wiederholte ihr Gedächtnis lediglich die ersten Worte. Wieder und immer wieder.
Guter Mond du gehst so stille...
Steinchen rieselten an ihrem Gesicht vorbei. Da war jemand! War das endlich Luigi? Das war nicht Luigi. Das waren die Stimmen zweier Männer, die aufgeregt miteinander flüsterten. Ein Gefühl der Angst befiel die Frau. Ihr verwirrter Verstand versuchte die Ursache dafür zu erfassen und die Ereignisse der letzten Stunden, die nur in bruchstückhaften, traumähnlichen Erinnerungen vorhanden waren, zu ordnen. Das waren böse Männer. Sie musste sich verstecken, wie es Luigi gesagt hatte. Die Frau hielt den Atem an und drückte sich tief in die Felsspalte. Sie konzentrierte sich ganz auf die Mondscheibe und versuchte unsichtbar zu werden.
Guter Mond du gehst so stille...
Ein Bein in einer schmutzigen Hose erschien seitlich neben ihrem Gesicht, dann ein zweites. Ausgestreckte Füße in schlammverschmierten Schuhen tasteten nach dem Felsband, das wie ein ganz schmaler Weg an ihrem Versteck vorbeilief und glitten sofort ab. Ein leiser Schreckensschrei war zu hören. Die Beine baumelten über dem Abgrund, strampelten und versuchten Halt zu gewinnen. Dann wurden die Beine und mit ihnen die Bedrohung hochgezogen und verschwanden aus ihrem Blickfeld. Leise Stimmen berieten sich, sie konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Wieder kollerten ein paar Steinchen an ihrem Gesicht vorbei, die Stimmen wurden leiser und entfernten sich. Die Frau verhielt sich ganz still.
Guter Mond du gehst so stille...
Nach einer Weile, sie wusste nicht, ob es Stunden oder nur Minuten gewesen waren, begann sie zu frieren. Der Regen hatte aufgehört, der Wind war aber stärker und kälter geworden. Es war Zeit zu gehen und nach Luigi zu suchen. Wahrscheinlich konnte er sie nicht finden, weil sie sich so gut versteckt hatte. Sie zwängte sich aus ihrem Versteck und trat auf das nasse Felsband hinaus. Ihre Füße glitten weg und sie hing vornüber geneigt einen Augenblick bewegungslos über dem Abhang. Instinktiv breitete sie die Arme aus und war davon überzeugt, sie werde wie ein Vogel auf die leuchtende Scheibe des Mondes zuschweben.
Guter Mond du gehst so stille...
Der Sturz, an dessen Ende eine Felskante wartete, um ihr das Genick zu brechen, dauerte nicht lange, kaum zwei oder drei Sekunden. Die Droge, die den Verstand der Frau umnebelte, dehnte diesen Zeitraum in ihrer Wahrnehmung aber ins Unermessliche. Es war ihr, als würde sie Jahrhunderte mit ausgebreiteten Armen im Nichts schweben, ehe ihr Bewusstsein verlöschte.
Max Hegenbarth, Meldereiter im Dienste des Grafen Dampierre, war in den frühen Morgenstunden unbemerkt zwischen den Heerhaufen der aufständischen Böhmen und Siebenbürger durchgeschlüpft, befand sich am frühen Vormittag schon ein gutes Stück von Wien entfernt und ritt, die Hauptstraße meidend, Richtung Osten, in der Hoffnung vor Einbruch der Nacht die Grenzfestung Hainburg, die sich noch in Händen der Kaiserlichen befand, zu erreichen.
Es war ein trügerisch schöner und friedlicher Morgen, der darüber hinwegtäuschte, dass der Krieg wieder ins Land gekommen war. Denn das Gebiet entlang der Donau zwischen Hainburg und Wien war seit der Zeit der Römer immer Grenz- und Durchzugsland für Eroberer gewesen, solchen die nach Osten drängten und solchen, die aus dem Osten kamen.
Zu der Zeit, zu der unsere Geschichte beginnt, stand Europa an der Schwelle jenes Krieges, den man, als er endlich vorbei war, den Dreißigjährigen nennen sollte und von dessen Dauer und Grausamkeit Hegenbarth noch nichts ahnte, ebenso wenig, wie er wissen konnte, dass die Ereignisse in die er verwickelt wurde, noch Jahrhunderte später zu Mord und Totschlag führen sollten.
Die militärischen Ereignisse des Jahres 1619 in der Gegend von Hainburg waren nur ein unbedeutendes Vorspiel zu den großen kriegerischen Auseinandersetzungen die folgten und spielten sich in einer entlegenen Ecke des Reiches ab, weshalb sie weniger gut bekannt sind.
Nach dem Tode des Kaiser Matthias, dem der kompromisslose Katholik Ferdinand auf den Thron folgte, war der brüchige Frieden zwischen Protestanten und Katholiken im Deutschen Reich zu Ende gegangen. Die protestantischen Böhmen verweigerten Ferdinand, der ihre Religionsfreiheiten beschneiden wollte, die Gefolgschaft, warfen seine Räte aus einem Fenster der kaiserlichen Burg in Prag und gingen zur offenen Rebellion über, die sie direkt vor die Tore der Residenzstadt trugen.
Schon im Frühjahr des Jahres 1619 führte der Graf Matthias Thurn die Truppen der aufständischen Böhmen vor Wien und begann die Stadt zu beschießen, um den gekrönten König Böhmens, Ferdinand von der Steiermark, in der Frage der protestantischen Religionsfreiheiten zum Einlenken zu zwingen. Seine Erwartungen, die Bürger der Stadt würden ihm die Tore öffnen und sich der Rebellion anschließen, erfüllten sich indes nicht. Als nämlich einige Kompanien dampierrscher Reiter, die in Krems stationiert gewesen waren, samt ihren Pferden auf Donauschiffen nach Wien hinunterfuhren, mit Trommeln und Pfeifen durch das Fischertor in die Stadt einrückten und den Burghof besetzten, verließ jene in Wien befindlichen protestantischen Adeligen, die Ferdinand bereits in seiner eigenen Burg mit einer entsprechenden Petition bedrängt hatten, der Mut, und sie baten um freien Abzug.
Schließlich traf auch die Nachricht von der Niederlage der Böhmischen bei Záblat ein und Thurn, der über keine Belagerungsgeschütze verfügte, die eine Fortsetzung der Belagerung sinnvoll gemacht hätten, führte seine Truppen nach Böhmen zurück.
Jetzt aber, im Herbst, war er wiedergekommen und hegte berechtigte Hoffnung, dass sich die Stadt diesmal ergeben werde müssen.
Ferdinand war zwar zum deutschen Kaiser gekürt worden, hatte aber dennoch hinnehmen müssen, dass ihn die böhmischen Stände für abgesetzt erklärt und den Kalvinisten Friedrich von der Pfalz zum König von Böhmen gewählt hatten. Nun geriet er in Gefahr, auch Ungarn zu verlieren.
Denn Bethlen Gabor, der ehrgeizige Fürst Siebenbürgens, ein erklärter Feind Habsburgs, trachtete danach, die Bedrängnis des Kaisers auszunutzen und ihm mit wohlwollender Duldung der Osmanen die Krone Ungarns zu entreißen.
Im Sommer eroberte er das kaiserliche Ungarn, also jenen Teil des Landes, der nicht von den Türken besetzt war, brachte bereits Anfang September die kaiserliche Hauptstadt Ungarns, Pressburg, in seine Hand und stand damit an der österreichischen Grenze. Sein Ziel war es, den Kaiser zu zwingen, ihn förmlich als König von Ungarn anzuerkennen. Zu diesem Zweck verbündete er sich mit den aufständischen Böhmen und schickte Thurn an die zwölftausend Mann für einen neuerlichen Angriff auf Wien, während er bei Pressburg weitere Truppen zusammenzog, um seinerseits die Residenzstadt von der ungarischen Seite her in die Zange zu nehmen.
Diese Entwicklung veranlasste den kaiserlichen Feldmarschall Comte de Bucquoy, der bereits Prag bedrohte, seine Kampagne in Böhmen abzubrechen und nach Wien zu eilen, um die Stadt und den Kaiser zu schützen. In den letzten Oktobertagen traf er vor Wien auf das um die siebenbürgischen Hilfstruppen verstärkte Heer Thurns, entschied aber angesichts des zahlenmäßig überlegenen Gegners, nicht die offene Feldschlacht zu suchen, sondern sich auf die stark befestigte Residenz, die von Dampierre gehalten wurde, zurückzuziehen. An jener Stelle, die man ‚Am Tabor’ nennt, ließ er eine Brücke über die Donau schlagen und ging mit seinen Truppen auf das andere Donauufer. Thurn versuchte ihm nachzusetzen, wurde aber von den Kürassieren Wallensteins, die den Donauübergang deckten, in heftigen Kämpfen daran gehindert. Nachdem sie die Donau übersetzt hatten, gelang es den Kaiserlichen, die Brücke zu zerstören und sich bei Wien zu vereinigen. Damit war Wien vorläufig gerettet, denn Thurn allein war nicht in der Lage, eine befestigte Stadt, die von so starken Kräften verteidigt wurde, kurzfristig zu gefährden. Aber bald bekam er Verstärkung von der ungarischen Seite.
Bethlen Gabor überschritt nämlich mit seinem Heer die Grenze, zog die Donau aufwärts bis Fischamend, wo er den Fluss überquerte, und begann Wien von der anderen Seite her einzuschließen. Die Pressburg gegenüberliegende kaisertreue Grenzfestung Hainburg ließ er auf seinem Zug links liegen, weil nach seiner Einschätzung die dortige Garnison nicht stark genug war, sich ihm in den Weg zu stellen oder ihm in den Rücken zu fallen, aber stark genug, um die Stadt gegen einen Sturmangriff zu verteidigen. Er wollte sich aber mit einem Angriff oder einer Belagerung nicht aufhalten und ging davon aus, dass sich Hainburg nach dem Fall Wiens ohnehin kampflos ergeben werde.
Das war die militärische Situation, in der Max Hegenbarth von Dampierre den Befehl erhielt, eine Botschaft an den Kommandanten der Festung von Hainburg zu überbringen. Hegenbarth war zwar der Meinung, dass man das auf dem Fluss rascher und gefahrloser hätte machen können, aber seine Order, den Landweg zu wählen, war eindeutig gewesen. Obwohl er bisher jedes Zusammentreffen vermeiden hatte können und die Gegend geradezu menschenleer wirkte, war er sich darüber im Klaren, dass er überall auf seinem Weg auf siebenbürgische und böhmische Schwarmscharen und wahrscheinlich auch auf versprengte Kaiserliche stoßen konnte.
Es war einer jener seltenen Herbsttage, an denen die Luft wie im Frühling riecht, aber Hegenbarth, der ein erfahrener Soldat war, erkannte den beunruhigenden Gestank von brennenden Siedlungen, den der warme Wind heranwehte, und der immer stärker wurde. Er beobachtete aufmerksam die Umgebung und konnte bald zwei Rauchwolken in der Ferne ausmachen. Das mussten wohl die Dörfer Simmering und Schwechat sein, die wahrscheinlich den Siebenbürgern zum Opfer gefallen waren. Hegenbarth saß ab, nahm sein Pferd am Zügel und führte es in den Auwald hinein, wo ein schlechter, aber immerhin begehbarer Weg bessere Deckung und ein zwar langsames, aber sicheres Fortkommen versprach. Sein Instinkt sagte ihm, dass Menschen und damit wahrscheinlich Feinde in der Nähe waren.
Hegenbarth war ein hagerer Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, wovon er gut die Hälfte als Söldner im Dienste verschiedener Herren verbracht hatte. Im Frühjahr hatte er bei den florentinischen Reitern angemustert, die auf den Sold des Großherzogs Cosimo von Medici angeworben worden waren und nun durch Kontingente aus den Erblanden ergänzt wurden, und war vom Regimentsinhaber, dem Grafen Dampierre, zum Meldereiter bestimmt worden, weil er zu den wenigen Söldnern gehörte, die lesen und schreiben konnten, und er die Gegend um Wien bis hin zur ungarischen Grenze gut kannte. Hegenbarth war nämlich in Hainburg aufgewachsen, hatte aber nach dem Tode seines Vaters eilends die Stadt und seine Ausbildung, die ihn auf den geistlichen Stand vorbereiten sollte, verlassen und sich von Abenteuerlust getrieben dem Waffenhandwerk verschrieben. Abenteuer hatte er inzwischen genug erlebt. Sein Haar begann bereits deutlich an der Stirn zurückzuweichen und an den Schläfen grau zu werden und zahlreiche Narben, die bei kühlem Regenwetter nachdrücklich schmerzten, zeugten vom Ungestüm früherer Jahre. Inzwischen trachtete er hauptsächlich danach, unbeschadet am Leben zu bleiben und mit dem ersparten Sold möglichst bald eine geruhsamere Existenz zu gründen, obwohl dies in den unsicheren Zeiten, die auf das Reich zukamen, gar nicht so einfach schien.
Seine Stellung als Meldereiter räumte Hegenbarth im strengen Reglement des Truppendienstes gewisse Freiheiten ein, die er durchaus zu schätzen wusste. Unter anderem, was seine Kleidung und Ausrüstung betraf. Er verzichtete ganz bewusst auf Brustpanzer und Helm und trug statt dessen ein Lederkoller und einen breitkrempigen Hut, weil er Schnelligkeit und Beweglichkeit dem fragwürdigen Schutz einer Rüstung, die allzu leicht von Kugeln durchschlagen werden konnte, vorzog. Seine weiten Beinkleider steckten in guten Reiterstiefeln. Bewaffnet war er mit einem Dolch und einem Raufdegen. Die kurze Muskete, die in einem Ledergurt an der Seite seines Pferdes hing, würde ihm im Ernstfall wenig nützen, weil sie mit ihrem altmodischen Luntenschloss nicht schussbereit war. Aber es war ohnehin nicht Aufgabe eines Meldereiters, sich ins Kampfgetümmel zu stürzen, sondern er hatte möglichst jede Feindberührung zu meiden und nur seine Botschaft ans Ziel zu bringen.
Das Wasser schmatzte um die Hufe seines Pferdes und Hegenbarth begann bereits zu fürchten, der Weg werde in einem Sumpfloch enden und ihn zur Umkehr zwingen, als der Grund wieder fester wurde. Der Pfad verbreiterte sich zu einer kleinen Lichtung, an deren Rand Hegenbarth lautlos stehen blieb und aufmerksam die Umgebung beobachtete. Hier hatte vor kurzem, weitab vom eigentlichen Kampfgeschehen, ein Scharmützel stattgefunden. Es war keine lebende Menschenseele mehr zu sehen, nur die drei Toten lagen da, so wie sie gefallen waren. Offenbar waren sie der Aufmerksamkeit der Beutesucher entgangen, die nach jeder Schlacht das Feld nach wertvollen oder brauchbaren Gegenständen absuchten. Das geschah meist durch reguläre Soldaten der siegreichen Partei, oft aber auch durch Leute, die dem Tross folgten und versuchten, den Soldaten zuvorzukommen. Neben Schmuckstücken und Geld waren vor allem gute Ausrüstungsstücke begehrte Beuteobjekte. Lebte einer der Gefallenen noch, konnte sich aber nicht mehr aus eigener Kraft in Sicherheit bringen, wurde ihm nicht selten die Kehle durchgeschnitten, teils um ihn von seinen Qualen zu erlösen und teils, um ihn der Sorge um sein Eigentum, das zur Beute geworden war, zu entheben.
Hegenbarth betrachtete den Gefallenen, der ihm zunächst lag. Der Mann war offenbar ein Edelmann gewesen, aber es war nicht zu entscheiden, welcher Partei er angehört hatte. Eine Kugel, wahrscheinlich aus einer Reiterpistole, hatte seinen eleganten Brustpanzer durchschlagen und ein Loch mit hässlichen, nach innen gekrümmten Rändern hinterlassen. Erstaunlicherweise war kein Blut zu sehen, aber das hatte nichts zu sagen. Das Pferd des Mannes stand ruhig neben ihm, ein Zeichen dafür, dass der Vorfall, der ihn das Leben gekostet hatte, noch nicht lange zurücklag. Etwas anderes erregte Hegenbarths Aufmerksamkeit. Neben dem Mann lag eine schöne Pistole mit Radschloss am Boden. Eine solche Waffe war wertvoll und wurde in der Regel nur von Adeligen und Offizieren geführt. Ein einfacher Kriegsmann konnte in den Besitz einer solchen Pistole nur kommen, wenn sie regulärer Beuteanteil war, der dann aber meist zu Geld gemacht wurde. Hegenbarth wollte diese Pistole haben. Er trat spontan auf die Lichtung hinaus und verfluchte auf der Stelle seine Unvorsichtigkeit, weil aus einem gegenüberliegenden Gebüsch zwei Männer kamen, die sich bei seiner Annäherung verborgen hatten, aber einem einzelnen Mann gegenüber keinen Grund zur weiteren Vorsicht mehr sahen. Die beiden waren wahrscheinlich keine Soldaten, sondern Beutegeier und Wegelagerer. Einer von ihnen trug ein kurzes Schwert, der andere war mit einem Spieß bewaffnet, dessen breites Stichblatt bedrohlich in der Sonne funkelte. Hegenbarth versuchte es mit Diplomatie. „Gut kaiserlich“, sagte er.
„Scheiß auf die Kaiserlichen“, antwortete der Eine. „Scheiß auf die Böhmen“, ergänzte der Zweite und stellte damit die absolute Neutralität ihres räuberischen Gewerbes klar. „Verschwinde von hier, wir waren zuerst da“, forderte der Erste, der in Hegenbarth zwar kein lohnendes Raubopfer sah, sich von ihm aber auch nicht in die Quere kommen lassen wollte.
Hegenbarth überlegte, welche Strafe ein Meldereiter zu erwarten hatte, der seinen Auftrag gefährdete, weil er sich in Raufhändel um ein Beutestück einließ, seufzte sorgenvoll und traf eine Entscheidung. Er bückte sich, hob die Pistole auf, spürte am Widerstand der Abzugsstange, dass sie gespannt war, und richtete die Mündung auf den, der zuerst gesprochen hatte.
Der Mann schätzte die Situation ab. „Sie ist nicht geladen“, mutmaßte er. Der Zweite trat zwei Schritte zur Seite und senkte seinen Spieß. Sie taten das nicht zum ersten Mal, erkannte Hegenbarth.
„Sie ist geladen“, flüsterte zur allgemeinen Überraschung der Tote zu Hegenbarths Füßen.
Dieser wechselte die Pistole rasch in die linke Hand und zog mit seiner Rechten den Degen. „Wir werden sehen“, sagte er und zielte direkt in das Gesicht des ersten Mannes, der mit blankem Schwert auf ihn zukam.
Der blieb stehen und murrte verdrießlich: „Lass ab, du kaiserlicher Bastard.“
„Verrecken sollst du, du ketzerischer Hund!“, fügte der mit dem Spieß hinzu.
Beide zauderten noch einen kurzen Augenblick, dann machten sie sich davon. Hegenbarth lauschte nach den sich entfernenden Geräuschen, ging den beiden mit gezückten Waffen ein Stück nach, war dann aber sicher, dass sie fort waren, und kehrte auf die Lichtung zurück.
Der Besitzer der Pistole hatte die Augen geöffnet und murmelte etwas. Hegenbarth zog seinen Dolch und der Mann am Boden begann eindringlicher zu murmeln.
„Sei still“, beruhigte ihn Hegenbarth, „ich will dich nicht umbringen.“ Er durchtrennte die Riemen, die den Brustpanzer mit dem Rückenteil verbanden und hob dann vorsichtig den durchschossenen Brustpanzer ab. Eine deformierte Bleikugel löste sich und rollte scheppernd in dem gewölbten Rüstungsteil hin und her. Hegenbarth pfiff leise durch die Zähne und entblößte die Brust des Mannes. Die Kugel hatte zwar den Brustpanzer durchschlagen, dabei aber alle Kraft verloren und war, ohne in den Körper einzudringen, hängen geblieben. Die nach innen gezackten Ränder des Einschussloches hatten sich in das Fleisch gebohrt und die Umgebung der oberflächlichen Wunde war verschwollen und grünlich verfärbt. Trotzdem, der Mann war davongekommen und würde überleben. Seine Bewusstlosigkeit war wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass ihn die Gewalt des Treffers vom Pferd geschleudert hatte. Hegenbarth nahm aus seiner Satteltasche Verbandszeug und begann, die Wunde zu versorgen, wobei er sich, eingedenk seiner geistlichen Erziehung, nicht ohne Selbstgefälligkeit als barmherzigen Samariter sah, der sich auf einem Kirchenfenster gut ausmachen würde. Der Verwundete begann, von der Last seiner Rüstung befreit, tief einzuatmen und bekam Farbe ins Gesicht.
„Zu welcher Seite gehört Ihr?“, fragte Hegenbarth und begann seine Satteltasche wieder einzuräumen. „Zu den Kaiserlichen, zu Thurn oder zu den Siebenbürgern?“
„Weder noch“, antwortete der Mann in tadellosem Deutsch und setzte sich vorsichtig auf. „Ich bin Franzose.“
„Nun, Herr Franzose“, bemerkte Hegenbarth, „dann seid Ihr weit weg von zu Hause und Gott weiß, ob Ihr die Heimat wiedersehen werdet. Ich kann mich mit Euch nicht länger aufhalten und überlasse Euch jetzt eurem Schicksal. Wo wollt Ihr hin?“
„Nach Wien“, sagte der Franzose. „Die Böhmischen will ich lieber meiden.“
Hegenbarth nickte und beschrieb ihm, wie er vielleicht unbemerkt durch deren Linien an die Stadt herankommen konnte. Dann tat er etwas, das ihm schwer fiel, aber er tat es. Obwohl er wie alle Söldner in diesen Zeiten Töten, Brandschatzen und Plündern für eine honorige Beschäftigung hielt, hatte er in diesem Rahmen doch eine ausgeprägte Vorstellung von Richtig und Falsch, was ihm nicht selten bei der Verfolgung eigener Interessen hinderlich war. Er hätte die Pistole bei einer von seinen Vorgesetzten zumindest geduldeten Plünderung ohne Bedenken an sich gebracht, egal wem sie gehörte. Ebenso hätte er sie einem Toten, der sie ohnehin nicht mehr brauchte, abgenommen und ganz gewiss einem Feind, egal, ob tot oder lebendig. Aber dieser Mann war dank seines Einschreitens nicht tot und auch kein Feind. Außerdem – auch hier kam ihm seine geistliche Erziehung in den Weg – kann man kein Werk der Barmherzigkeit verrichten und dann den Empfänger der Wohltat um sein Eigentum bringen. Das passte einfach nicht. Ein Plünderer schon, aber ein Räuber wollte Hegenbarth nicht sein. Er seufzte abermals tief und hielt dem Anderen die Pistole hin, die der eigentliche Anlass seines Aufenthaltes gewesen war.
Zum ersten Mal lächelte der Fremde. „Macht mir die Freude und nehmt sie zum Geschenk“, sagte er.
„Wenn Ihr darauf besteht“, antwortete Hegenbarth erfreut und steckte die Waffe hurtig in seinen Gürtel.
Der Fremde lächelte wieder, nahm einen Ledergürtel mit einem Kugelsäckchen und Pulverladungen von seinem Pferd und reichte das Zubehör Hegenbarth. „Vergesst nicht, die Waffe zu laden, wenn Ihr Euch ihrer bedienen wollt“, mahnte er mit milder Stimme.
Hegenbarth war einigermaßen fassungslos. „Sie war nicht geladen?“, fragte er. „Wahrhaftig, Euer Gottvertrauen ist groß.“
Der Franzose nickte und bestieg mühsam sein Pferd. „Ich schulde Euch wahrscheinlich mein Leben“, sagte er zum Abschied, „denn die beiden Strauchdiebe hätten wohl kurzen Prozess mit mir gemacht. Wenn Ihr nach Paris kommt, fragt nach dem Baron Saint Croix, man kennt mich und Ihr werdet in mir einen dankbaren Freund finden.“ Er wendete das Pferd und war bald im Dunkel des Auwaldes verschwunden.
Hegenbarth sah ihm eine Weile nach, dann lud er sorgfältig seine Neuerwerbung. Er hätte gern einen Probeschuss getan, ließ es dann aber bleiben, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Was soll ich wohl in Paris?“, murmelte er. „Ich will froh sein, wenn ich heil nach Hainburg komme.“
Um die verlorene Zeit aufzuholen, kehrte er auf die Straße zurück und ließ sein Pferd eine flottere Gangart gehen. Er hatte die Überzeugung gewonnen, dass sich die feindlichen Aktivitäten hauptsächlich am gegenüberliegenden Donauufer abspielten und der Streckenabschnitt, auf dem er sich jetzt befand, relativ sicher war. Mag sein, dass er recht, oder auch bloß Glück hatte. Am frühen Nachmittag tauchten die Mauern von Hainburg vor ihm auf, ohne dass er auf seinem Weg behelligt worden wäre.
Hainburg war die östlichste Stadt Österreichs, dort wo an der sogenannten Ungarischen Pforte die Donau Österreich verlässt und in der Ferne bereits die Karpaten zu erkennen sind. Eine mit mehr als einem Dutzend Türme bewehrte mächtige Mauer umschloss die Stadt und zog sich die Flanken des Burgberges hoch, wo die alte Burg thronte. Entsprechend ihrer Stellung zwischen Ost und West hatte die Stadt an den Enden der Hauptstraße, welche sie durchzog, jeweils ein großes befestigtes Tor, wovon das eine gegen Westen gewandte Wiener Tor und das gegenüberliegende Ungartor genannt wurde.
Wie Hegenbarth wohl wusste, entsprach der wehrhafte Eindruck der Anlage nicht unbedingt ihrem wirklichen militärischen Wert. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hatte man die Wehranlagen verkommen lassen, obwohl das äußerlich nicht sofort erkennbar war. Aber im Inneren waren die hölzernen Lauf- und Wehrgänge desolat und stellenweise völlig verschwunden. In den Türmen gab es teilweise keine Böden mehr, weshalb die für den Ernstfall so wichtigen höheren Stockwerke nur eingeschränkt nutzbar waren. Neben der allgemeinen Geldnot lag die Ursache dafür auch darin, dass der Burgherr und die Bürgerschaft der Stadt nicht an einem Strang zogen. Während die Burg das Zentrum der umliegenden Grundherrschaft war, genoss die Stadt zu ihren Füßen landesfürstliche Freiheiten und war der Herrschaft und auch der Gerichtsbarkeit des Burgherrn entzogen. Da Stadt und Burg aber festungstechnisch eine Einheit bildeten, war das fatal. Das wurde deutlich, als kaiserliche Kommissäre angesichts der sich abzeichnenden Kriegsgefahr die Anlage visitierten und entsetzt deren schlechten Zustand feststellten. Der Herrschaftsinhaber, Freiherr von Unverzagt, wurde aufgefordert, umgehend für die Instandsetzung der Wehranlagen zu sorgen, erwiderte aber bloß missmutig, er werde für die Burg sorgen, in der Stadt selbst habe er aber nichts anzuschaffen und – was er als besonders schmerzlich empfand – er beziehe von dort auch keine Abgaben.
Das Wiener Tor, dem sich Hegenbarth jetzt rasch näherte, um nicht im letzten Moment in einen Hinterhalt zu laufen, wurde durch einen monumentalen Turm und starke Vorwerke geschützt. Hier würde sich jeder Angreifer die Zähne ausbeißen, erkannte Hegenbarth, nicht so aber an den Mauern, die sich zur Burg hochzogen und die wohl die eigentliche Schwachstelle der Festung waren.
Auf sein Rufen wurde ihm eine kleine Pforte geöffnet und er zog sein Pferd durch einen dunklen, muffig riechenden Gang ins Innere der Stadt. Der Kommandant der Torwache, dem gegenüber er sich gehörig ausgewiesen hatte, gab ihm einen Knecht mit, der ihn auf der Stelle zu Hauptmann Becker, dem Stadtkommandanten, führen sollte. Die Stadt war mit Soldaten und Flüchtlingen aus der Umgebung überfüllt. An den Festungsanlagen hatte man spät, aber doch, zu arbeiten begonnen. Mangels anderen Materials hatte man große alte Donauschiffe am Flussweg herangebracht und am Ufer zerlegt. Deren Planken und Balken dienten nun dazu, die Wehrgänge an den Mauern zumindest provisorisch in Stand zu setzten. Von der Südmauer waren laute Geräusche zu hören. „Sie brechen jetzt Scharten in die Mauer, damit die Falkonetten gutes Schussfeld haben und geschützt sind“, erklärte sein Begleiter. Hegenbarth nickte wenig überzeugt. Denn er hatte gesehen, welche Macht der Feind ins Land geführt hatte und zweifelte daran, dass die Stadt einem konzentrierten Angriff lange standhalten werde können.
Beim Rathaus, wo der Stadtkommandant residierte, überließ Hegenbarth sein Pferd dem Knecht, der versprach, es im Stall unterzubringen, und wurde von einem anderen in den ersten Stock und ohne weitere Förmlichkeiten sofort in das Quartier des Kommandanten geführt. Hauptmann Becker, ein kleiner rundlicher Mann mit einer Glatze und harten Augen, saß an einem Eichentisch und studierte Karten, die vor ihm lagen. Hegenbarth machte einen artigen Kratzfuß, schwenkte höflich seinen Hut, wie es Mode geworden war, und überreichte sein Beglaubigungsschreiben.
„Du hast Depeschen für mich?“, fragte Becker.
„Nein, Herr Hauptmann“, entgegnete Hegenbarth. „Was ich Euch zu melden habe, soll mündlich geschehen. Die Wege sind ein wenig unsicher in diesen Zeiten und Schriftstücke könnten in falsche Hände kommen.“
Becker deutete auf einen Stuhl und, mit einer zweiten Handbewegung, auf einen Krug, der auf dem Tisch stand. Dankbar schenkte sich der Melder einen Becher Wein ein, trank ihn auf einen Zug aus, wischte sich mit der Hand über die Lippen und begann förmlich zu sprechen:
„Von seiner Gnaden, dem Grafen Dampierre, an den Kommandanten der Festung von Hainburg: Die Aufrührer und Verräter, die Gott verderben möge, haben Wien fast völlig eingeschlossen, aber wenig Aussicht, die Stadt im Sturm zu nehmen, weil sie schlecht ausgerüstet und die Verteidiger zahlreich sind. Wir vermuten außerdem, dass sich Bethlen, der wie alle Thronräuber in der tiefsten Hölle braten soll, in den nächsten Tagen zurückziehen wird. Es gibt nämlich Nachricht, dass Friedrich von der Pfalz, Gott strafe diesen abtrünnigen Kalvinisten, die böhmische Krone, die ihm wider alles menschliche und göttliche Recht von den Hochverrätern angeboten wurde, in den nächsten Tagen annehmen wird. Bethlen, dieser maßlose Emporkömmling, hat gehofft, er werde dies nicht tun und die Böhmen, als deren Schutzherr er sich aufführt, würden dann ihn zum König wählen. In dieser Hoffnung getäuscht und aus Furcht, während er durch eine längere Belagerung vor Wien gebunden ist, würden ihm die Unsrigen inzwischen Ungarn entreißen, wird er sich ins Ungarische zurückziehen und neuerlich Verhandlungen mit dem Kaiser suchen. Thurn allein kann aber vor Wien dann nichts mehr ausrichten und wird ebenfalls abziehen. Unsere Kundschafter melden, dass die Siebenbürger und Ungarn bereits Vorbereitungen zum Rückzug treffen. Bethlen wird aber nicht ganz ohne Trophäe den Platz verlassen wollen. Wir sind uns sicher, dass er auf seinem Rückzug Hainburg mit aller Kraft angreifen wird, um sich diesen wichtigen Brückenkopf in österreichischen Landen zu sichern und ein Faustpfand gegenüber dem Kaiser in der Hand zu haben. Da ich Eure Treue kenne, verzichte ich darauf, Euch die Strafen in Erinnerung zu rufen, die jedem drohen, der eine kaiserliche Festung dem Feind ausliefert, und befehle Euch, die Stadt mit allen Kräften zu halten. Vertraut darauf, dass Ihr binnen weniger Tage Verstärkung erhalten werdet. Gott schütze Euch.“
Hegenbarth endete und betrachtete nachdenklich den Weinkrug. Becker gestattete ihm mit einer müden Handbewegung einen zweiten Becher. „Und wird Verstärkung kommen?“, fragte er.
„Ich bin nur ein einfacher Soldat, Herr Hauptmann“, entgegnete Hegenbarth, „und kenne nicht die Pläne der hohen Herren. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es so sein wird. Diese Festung ist einfach zu wichtig, um sie preiszugeben. Im Übrigen habe ich Order, mich Eurem Befehl zu unterstellen und mich zu Eurer Verfügung zu halten.“ Hegenbarth hoffte inständig, Becker werde nicht auf den Gedanken verfallen, ihn mit einer Nachricht nach Wien zurückzuschicken.
„Ich habe auch gehört, es soll bald neue Verhandlungen geben“, sagte Becker nachdenklich. „Die Franzosen versuchen zwischen dem Kaiser und Bethlen zu vermitteln. Ferdinand hat sie darum ersucht.“
„Die Franzosen?“ Hegenbarth war erstaunt. „Ich habe die Franzosen nie für Freunde des Kaisers gehalten.“
„Das sind sie auch nicht“, erklärte Becker. „Aber Ludwig hat ähnliche Probleme wie Ferdinand. Die Hugenotten machen ihm große Teile seines Königreiches streitig und seine Mutter, diese Medici-Hexe, der die Religion in Wahrheit völlig gleichgültig ist, gebärdet sich katholischer als der Papst, mischt sich überall ein und schürt den Konflikt nach Kräften. Der Gedanke einer Rebellion, die selbst vor gekrönten Häuptern nicht halt macht, beunruhigt den jungen König zutiefst. Er will vermeiden, dass in Deutschland ein Präzedenzfall geschaffen wird, der seine Gegner im eigenen Land auf ähnliche Gedanken bringen könnte.“
Becker betrachtete nachdenklich den reich geschmückten Kolben der Pistole, die in Hegenbarths Gürtel steckte. „Ein schönes Stück“, bemerkte er. „Französisch?“
„Wahrscheinlich“, antwortete Hegenbarth. „Das Geschenk eines Freundes.“
Becker fragte nicht weiter. „Nimm Quartier“, befahl er, „und halte dich zu meiner Verfügung. Du kannst aber in die Stadt gehen. Man wird dich finden, wenn ich dich brauche.“ Er läutete mit einer kleinen Glocke und sofort erschien ein Bediensteter, der Anweisung erhielt, Hegenbarth im Rathaus unterzubringen.
Die Kammer, die man ihm zuwies, war nicht größer als eine Kerkerzelle und etwa genauso gemütlich. Der Meldereiter hatte keine Lust, jetzt schon hier zu bleiben, sah nach seinem Pferd, schleppte das Sattelzeug und seine Muskete in das Quartier und machte sich dann, den Schnappsack über die Schultern geworfen, auf den Weg durch die Stadt zum Donauufer.
An der Mauer der Kirche, die den Hauptplatz beherrschte, waren einige dürftige Stände aufgebaut, wo verschiedene Waren feilgeboten wurden. Hegenbarth blieb stehen und verlangte von einem der Händler einen Krug Wein. Dann ließ er den ihm angebotenen Krug öffnen, kostete vorsichtig unter den misstrauischen Blicken des Standbesitzers, befand den Wein für gut und erwarb den Krug nach heftigem aber kurzem Feilschen. Währenddessen hatte sich eine junge Frau neben ihn gedrängt, die zwar sichtlich nichts kaufen wollte, aber, wie Hegenbarth argwöhnte, großes Interesse an seiner Börse zeigte. Sie war von guter Gestalt, soweit man das unter dem sackähnlichen Kleid, das sie trug, erkennen konnte, hatte jedoch eine etwas zu große Nase und ein wenig zu schmale Lippen, um nach Hegenbarths Geschmack wirklich hübsch zu sein. Auch hatte sie ihre gelockten schwarzen Haare kunstlos kurz geschnitten, sodass sie wie eine Knabenfrisur wirkten. Hegenbarth schob sie von sich, drückte ihr eine kleine Münze in die Hand und sagte gutmütig: „Lass ja deine langen Finger von meiner Börse. Wenn man dir die Hand abhackt, wird es dir noch schwerer fallen, einen Mann zu finden.“
Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen wütend an, schloss fest die Hand um die Münze und hob die andere, als ob sie ihn schlagen wolle. Dann entschied sie sich vernünftigerweise dafür, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zischte etwas, das wie „Mercie“ klang, aber genau so gut ein Schimpfwort sein konnte, wich in die Menge zurück und verschwand.
Hegenbarth schüttelte den Kopf, nahm seinen Krug, überquerte den Platz und trat durch eine schmale Lücke zwischen den Häusern, wo eine gepflasterte Gasse zum Donauufer führte. In späteren Zeiten sollte man diese Gasse Blutgasse nennen, weil die Türken auf ihrem zweiten Zug nach Wien dort einige hunderte, vielleicht sogar tausende Menschen niedergemetzelt hatten, deren Flucht zur Donau am verschlossenen Stadttor ein Ende gefunden hatte. Jetzt stand das Tor offen und wurde nur von einem einzigen Mann bewacht, der Hegenbarth ohne zu fragen passieren ließ.
Zwischen der donauseitigen Stadtmauer und dem Strom befand sich ein breiter Uferstreifen, wo sich Fischer, Färber, Müller und einige Schenken angesiedelt hatten, aber auch andere Menschen, die in der Stadt selbst nicht wohnen konnten oder wollten. Diese Donauufersiedlung war gar nicht klein und die Menschen hier schienen sich recht sicher zu fühlen und gingen emsig ihren Geschäften nach. Hegenbarth dachte, dass sie, so sonderbar das auch klingen mochte, hier tatsächlich sicherer waren als in der befestigten Stadt. Denn Feinde konnten an diesen Uferstreifen zwischen Festung und Strom nicht leicht herankommen und im Falle, dass die Stadt erstürmt wurde, hatten die Uferbewohner noch immer die Möglichkeit, sich mit Booten ans gegenüberliegende Donauufer zu retten und sich im unwegsamen Gelände zu verbergen.
Wenig beachtet von den Menschen, die sich an den Anblick fremder Soldaten gewöhnt hatten und wohl davon ausgingen, er suche eine Schenke, wo es nicht nur Wein, sondern auch wohlfeile Weiber gab, ging Hegenbarth am Ufer entlang, wich den Booten aus, die man an Land gezogen hatte, und versuchte, sich zu orientieren. Er war schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen und eine Eigenart dieser Siedlung bestand darin, dass sie sich ständig änderte. Daran war der Strom schuld, der gelegentlich über die Ufer trat und nach seinem Rückzug den Neubau vieler Hütten notwendig machte. Schließlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. An einer etwas erhöhten Stelle, wo die Hochwässer nur in Ausnahmefällen hinkamen, schmiegte sich eine aus Steinen errichtete Hütte an die Stadtmauer, die ihr Halt gab und als Rückwand diente.
Inzwischen begann es dämmrig zu werden. Der dunkle Auwald am gegenüberliegenden Donauufer versank im Nebel und die tiefstehende Sonne zeichnete hübsche Lichtspiele auf die sanften Wellen des Stromes. Wind war aufgekommen und es wurde kühler. Wahrscheinlich gingen die schönen Herbsttage zu Ende und es würde Regen geben.
Im Fenster der Hütte, die Hegenbarth gesucht hatte, war ein schwacher Lichtschein zu sehen, und aus einem primitiven Schornstein quoll dünner Rauch. Er ging den geschotterten Weg hoch, klopfte an und stieß, als ihm nicht geantwortet wurde, die Tür auf.
Ein alter Mann saß vor seinem primitiven Kamin, in dem getrocknetes Treibholz brannte, rieb sich die Hände, sah mit kurzsichtigen Augen zur Tür und sagte ohne jede Erregung: „Geh weg! Hier gibt es nichts, aber auch wirklich nichts für dich zu holen.“
„Ich will nichts holen, ich bringe etwas, Onkel Adam“, entgegnete Hegenbarth und stellte den Weinkrug vorsichtig auf den Tisch. Der Alte rappelte sich auf, fasste ihn an den Schultern, betrachtete ihn mit wässrigen Augen aus nächster Nähe, schloss ihn dann in die Arme und stammelte ein um das andere Mal: „Max, Maximilian, wie ich mich freue!“
Der Alte war ein entfernter Verwandter mütterlicherseits, soviel wusste Hegenbarth, er hatte das genaue Verwandtschaftsverhältnis aber nie herausfinden können und ihn kurzerhand immer Onkel genannt. In jener Zeit, als ein pädagogisch wenig begabter Pfarrer versucht hatte, ihm lateinische Grammatik mit Stockhieben beizubringen, war er oft mit verschwollenen Augen und schmerzendem Hinterteil hierher gekommen, war mit Onkel Adam auf den Strom hinausgefahren, um zu fischen und den endlosen Geschichten zu lauschen, die Adam zwar nie selbst erlebt, aber von glaubwürdigen Leuten, wie er stets betonte, gehört hatte.
Bald saß Hegenbarth mit Onkel Adam am Tisch und begann seinen Schnappsack auszuräumen. Frisches Brot, Würste, Käse und süße Äpfel kamen zum Vorschein und machten dem alten Fischer, der nicht mehr auf den Strom hinausfahren konnte und sich armselig vom Flicken fremder Netze ernähren musste, den Mund wässrig. Ohne viel Umstände holte er zwei Becher für den Wein und ließ sich auftischen.
Sie erzählten einander, was sie in den vergangenen Jahren erlebt hatten und ließen sich das Mahl gut schmecken. Obwohl Hegenbarth viel mehr zu erzählen gehabt hätte, bestritt hauptsächlich Adam die Unterhaltung. Er war zwar nicht aus Hainburg herausgekommen, hatte aber vielerlei sonderbare Geschichten – von vertrauenswürdigen Leuten, wie er betonte – gehört und gab sie jetzt genüsslich wieder. Es war wohl so, dass er froh war, jemanden zum Schwatzen zu haben, weil mit dem Alter auch mehr und mehr die Einsamkeit gekommen war.
Der Wind draußen war stärker geworden und drückte gelegentlich den Rauch durch den Kamin in die Stube. Plötzlich begannen dicke Regentropfen auf das Hüttendach zu trommeln. Jemand hämmerte gegen die Tür. Adam reagierte nicht, und Hegenbarth legte instinktiv die Hand an den Griff seiner Pistole, die neben ihm auf der Bank lag. Die Tür wurde aufgestoßen und in der Türöffnung, sich nur undeutlich gegen den dunklen Himmel abzeichnend, stand eine Gestalt, die einen raschen vorsichtigen Schritt aus der Nässe des Unwetters in die Hütte tat. Es war die junge Frau, die Hegenbarth am Marktplatz bedrängt hatte. Das Haar klebte ihr am Kopf und ließ ihre herben Gesichtszüge noch deutlicher hervortreten. Das nasse Kleid, unter dem sie nicht viel anhatte und deshalb wohl ordentlich frieren musste, ließ deutlich ihre mädchenhafte Gestalt erkennen.
„Habt die Freundlichkeit, ihr guten Leute, mir ein wenig Unterschlupf zu gewähren, bis der Regen nachlässt“, bat sie mit sanfter Stimme. „Ich habe noch einen weiten Weg vor mir und werde euch gewiss keine Ungelegenheiten bereiten.“
Adam reagierte überraschend abweisend. „Mach dass du fortkommst!“, rief er heftig. „Hier ist kein Platz für deinesgleichen. Mich deucht, du solltest das Feuer weit mehr fürchten als das Wasser.“
Das Mädchen hielt währenddessen den Blick starr auf Hegenbarth gerichtet, der sich aber nicht einmischte, weil er das Hausrecht Adams achtete und er auch keine besondere Sympathie für die verhinderte Diebin verspürte, obwohl sie ihm leid tat. Sie musste recht verzweifelt sein, wenn sie fremde Leute, noch dazu zwei Männer, bat, sie aufzunehmen. Vielleicht war sie aber ohnehin eine Dirne auf der Suche nach einem Freier, der bereit war, ein paar Münzen für ihre Gunst springen zu lassen und ihr nicht bloß Gewalt antat.
Die junge Frau zögerte, als sie aber erkannte, dass von Hegenbarth keine Hilfe kommen werde, fauchte sie zornig: „Das wird euch noch leid tun, ihr hartherzigen Männer.“ Genauso schnell wie sie hereingekommen war, verschwand sie wieder in der Dunkelheit.
Hegenbarth erhob sich bedächtig, trat an die Tür und schaute in den Regen hinaus, konnte sie aber nicht mehr sehen. Dann schloss er die Tür und legte den Balken vor.
„Du warst früher gastfreundlicher, Onkel Adam“, sagte er und versuchte, es nicht wie einen Tadel klingen zu lassen.
Adam bewegte sich unbehaglich auf seinem Schemel. „Du hast nicht erlebt, was sich voriges Jahr hier abgespielt hat“, erklärte er schließlich. Hegenbarth setzte sich wieder nieder, schaute Adam erwartungsvoll an, und der begann sofort zu erzählen:
„Es muss wohl im Frühjahr 1617 gewesen sein, als ein Prediger des neuen Glaubens hier in der Gegend aufgetaucht ist. Er nannte sich Anselmus, predigte die Reformation, wo sich die Gelegenheit dazu bot und zog bald etliche Leute an sich, die ihm auf Schritt und Tritt folgten. Solches Treiben erweckte natürlich den Zorn des ehrwürdigen Herrn Pfarrers, der sich alsbald an den Stadtrat wandte und erwirkte, dass Anselmus mit seinen Gefolgsleuten aus der Stadt gewiesen und ihm unter Androhung von Malefizstrafen verboten wurde, sich hier noch einmal blicken zu lassen. Anselmus ging also weg, aber nicht weit. Er ging mit seinen Leuten über den Fluss, verbarg sich in den Auwäldern und nahm weitere Gefährten aus den umliegenden Dörfern auf, sodass seine Gruppe bald zwei Dutzend Menschen, Männer und Weiber, zählte. Zu dieser Zeit kam es vermehrt zu Raubüberfällen und Mordtaten, weshalb niemand auf den Straßen außerhalb der Stadt mehr sicher war. Es wurden sogar ein paar einsame Gehöfte überfallen, die Bewohner erschlagen und alles geraubt, was einigermaßen von Wert war. Ich glaube zwar nicht, dass Anselmus, wenn er überhaupt etwas damit zu hatte, allein dafür verantwortlich war, weil sich in solch unsicheren Zeiten immer eine Menge Gesindel im Land umhertreibt, aber die Leute waren davon überzeugt, dass all das Ungemach von den Reformierten ausging. Als schließlich die Ernte mager ausfiel, eine Hungersnot drohte und etliche Krankheiten Mensch und Vieh befielen, brachte jemand das Gerücht auf, Anselmus und seine Komplizen seien daran schuld, weil sie sich an den Bewohnern der Stadt und der Burg rächen wollten und einen Schadenszauber gewirkt hätten, der all das verursachte. Der ehrwürdige Herr Pfarrer intervenierte beim Herrschaftsinhaber und legte dar, Anselmus sei – was einem Reformierten ohne weiteres zugetraut werden müsse – das Haupt einer ketzerischen Geheimsekte, die noch viel mehr Unheil über das Land bringen werde, sollte ihm nicht Einhalt geboten werden. Der Freiherr von Unverzagt ließ sich überzeugen, wohl auch, um nicht selbst in den Verdacht zu kommen, mit den Reformierten zu sympathisieren, was nach den Ereignissen in Böhmen gefährlich sein konnte, und befahl, die Verdächtigen dingfest zu machen. Der Sergeant der Burgwache, ein gewisser Brackhaus, der auch jetzt noch unter dem Befehl des Capitän Namadis auf der Burg Dienst tut, stellte ein Aufgebot von gut fünfzig Mann zusammen, durchstreifte den Auwald und nahm etwa zwei Dutzend Verdächtige fest, von denen einige allerdings schworen, sie wären gute Katholiken, hätten mit Anselmus nicht das Geringste zu tun und seien nur aus Not in die Wälder gegangen. Zum allgemeinen Verdruss gelang es Anselmus selbst und einigen wenigen seiner Anhänger, sich dem Zugriff zu entziehen und unterzutauchen. Die Festgenommenen wurden allesamt auf die Burg gebracht, peinlich befragt und gestanden unter der Folter ausnahmslos, was immer man ihnen vorwarf und auch einiges mehr, sodass der Gerichtsschreiber kaum nachkam, alles aufzuschreiben. Ein Punkt kam deutlich heraus und entsprach wahrscheinlich der Wahrheit. Anselmus soll ein Buch besessen haben, das niemand außer ihm selbst in die Hand nehmen durfte, in dem er oft studierte und dabei unverständliche Worte rezitierte. Das war gewiss nicht die Heilige Schrift, sondern ein Zauberbuch – davon waren alle überzeugt. Der Prozess fand oben auf dem Schloss statt. Man hatte wegen der Bedeutung der Sache zwei gelehrte Richter aus Wien und einen Vertreter der hohen Geistlichkeit, der sozusagen als Inquisitor fungierte, beigezogen. Selbstverständlich wurden alle Angeklagten wegen Diebstahl, Raub, Mord und Zauberei schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.“
Adam schaute bedrückt in die Glut des erlöschenden Feuers. „Man hat sie im Winter vorigen Jahres hingerichtet. Es war ein großer Auflauf und viele Leute, besonders Bürger aus der Stadt, haben sich daran delektiert. Auf dem Weg zum Gerichtsplatz wurden die Delinquenten mit glühenden Zangen gezwickt. Wenn sie vor Schmerz heulten, heulte die Menge noch lauter und schrie: ‚Tod den Ketzern.’ Wenn sie um Gnade flehten, bewarfen sie die Leute mit Unrat. Manche von den armen Sündern waren aber auch vor Entsetzen still und stumm und schienen die glühenden Zangen gar nicht zu spüren, mit denen sie die Henkersknechte peinigten, wobei diese besonderen Beifall ernteten, wenn sie die Weiber in die nackten Brüste zwickten, dass das weiße Fleisch zischte und rauchte. Am Richtplatz angekommen wurden einem nach dem anderen die rechte Hand abgehauen. Die Hände wurden aufgesammelt und unter dem Beifall der Menge in einen Korb gezählt. Dann wurde einigen eine besondere Gnade zuteil, die ihnen der Gerichtsherr gewährte hatte. Es waren wahrscheinlich jene, die der Freiherr von Unverzagt insgeheim für unschuldig hielt, sich dem Gerichtsspruch aber nicht widersetzen wollte. Man schlug ihnen mit einem Beil auf einem Block die Köpfe ab und beendete damit ihre Pein. Die Menge war sich darüber unschlüssig, ob ein solcher Gnadenbeweis angebracht sei, fand dann aber bald Gefallen daran, wie die Köpfe davon hüpften, über die von Blut glitschigen Bohlen des Richtgerüstes kollerten, eingefangen und an den Haaren hochgehalten wurden. Die anderen kamen nicht so gut davon. Sie wurden zuerst bei lebendigem Leib gebraten, aber ehe der Tod sie erlöste, vom Rost genommen und anschließend, damit sie das volle Maß der über sie ausgesprochenen Strafen verspürten, am Scheiterhaufen verbrannt. Ich selbst war nicht am Richtplatz, aber ich habe es gerochen. Bei Gott, die ganze Gegend stank nach verbranntem Fleisch.“
Adam schwieg und versuchte, das Feuer wieder in Gang zu bringen, gab es aber schließlich auf, weil der Regen durch den Abzug eingedrungen war und das Holz angefeuchtet hatte.
„Diese junge Frau“, sagte Hegenbarth zögernd, „du glaubst, sie hat etwas mit diesen armen Teufeln zu tun gehabt?“