Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2015 Uli Franz ulifranz@aol.com
Uli Franz, Satteltanz, Radgeschichten
Umschlagfoto: A. Gogiashviili, Key Group, Tbilisi, Georgien
Grafische Gestaltung: Markus Löffler, bluedoc
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH Norderstedt
ISBN: 978-3-7386-9783-4
Das Rad schmiegt sich in meine Hand, mühelos kann ich es ins Freie schieben. Schon kommt es mir vor, als dränge es mich, als wolle es gefahren werden. Jetzt bloß nicht zögern! Hoch das Bein und gleich das Hinterteil auf den Sattel gehoben.
Kaum hat sich die Beinarbeit dem flotten Dreh der Pedale angepasst, beginnen die Speichen zu tanzen zur Melodie eines Säuseln, das vom Asphalt aufsteigt. Ich stemme mich in die Pedale und pfeffere ihren Lauf mit kräftiger werdenden Tritten. Schon höre ich mit Freuden, wie der Gummi der schmalen Reifen zu brummen anfängt. Jetzt ist es soweit: mein Rad und ich, wir tanzen! Natürlich nicht im Kreis und auch nicht im Rhythmus eines Walzers! Natürlich wollen wir uns nicht um die eigene Achse drehen, sondern leicht, eben tänzerisch, vorwärtskommen. So wiegen wir uns, anfangs noch schaukelnd, dann ausbalanciert, auf einem Tanzboden, der sich in die Ferne endlos dehnt.
Die Beinarbeit gewinnt an Kraft und auf den nächsten hundert Metern bläht sich das Säuseln zu einem Luftrauschen auf. Im Handumdrehen sickert ein wohliges Gefühl in mich hinein und von innen höre ich eine Stimme flüstern: Du bist frei, du kannst fahren, wohin du willst. Wohltuend ist dieses Zureden. Wie Traubenzucker sickert es ins Blut und zeigt sogleich eine aufbauende Wirkung.
Von oben sticht die Sonne wie mit Nadeln, von unten heizt der graue Asphalt und seitlich des Lenkers vermengen sich Sträucher, Hecken und Bäume zu einem lichtgrünen Ufer, das den Fluss der Bewegung begrenzt. Die Zeit ist nun gekommen, es sich im Sattel einzurichten und höher zu schalten. Bis zum Anschlag, bis in die höchste Kettenübersetzung.
Schnell wird die Beinarbeit ruhiger und der Satteltanz weicher und trotzdem leidet das Tempo in keiner Weise. Im Gegenteil! Mit der Ruhe kommt die Kraft. Nun dauert es nicht mehr lange und der Körper erreicht eine gesunde Temperatur. Üppig quellen Schweißtropfen auf der Stirn und aus den Achselhöhlen hervor. Klar, wenn die Sonne derart brezelt, gehört das Transpirieren zum flotten Tritt wie ein gehöriger Durst zu einem pikant gewürzten Döner.
Wer auf Tempo fährt, will natürlich mehr als nur schwitzen. Er will sein eigener Motor sein und eine wohltuende Geschwindigkeit aus eigenem Antrieb schaffen – eben autonom in Bewegung sein. Wer gar ein waschechter Radfahrer ist, der will sich nicht auf eine fremde Kraftquelle verlassen, schon gar nicht auf eine PS-starke Maschine. Aus eigener Kraft geschwind, gar flugs voranzukommen, gibt ihm die Gewissheit einer selbst erarbeiteten Autonomie und erzeugt die Illusion einer Bewegung, die zwischen Gehen und Fliegen angesiedelt ist, einer beglückenden Bewegung, nach der sich der Mensch seit Urzeiten sehnt. Jeder, der radelt und sich zum Tempo aus eigener Kraft bekennt, erlebt dieses Glück und braucht sich nicht für dieses Eingeständnis zu genieren.
Sobald ein Kind schwankend zu stehen vermag, verspürt es einen inneren Drang, auf seinen Speckbeinchen loszurennen. Anfangs spielt ihm die Schwerkraft einen Streich, schwups fällt es hin, wenn auch weich. Aber es steht gleich wieder auf und versucht es von Neuem mit dem Rennen. Dieses Verlangen entspricht nicht nur einem urmenschlichen Trieb, sondern auch dem Naturgesetz der Kreiselkräfte, wonach das Balancieren bei vermehrter Geschwindigkeit ein Umkippen verhindert.
Kaum kann das Kind rennen, verlangt es nach einem fahrbaren Untersatz, um mit weniger Aufwand noch schneller durchs Leben zu flitzen. Nach weiteren Jahren, wenn das Laufrad-Kid zum Jugendlichen herangereift ist, fordert es sein erstes echtes Rad und schnell erweist sich, ob der junge Mensch balancieren und die Extreme ausgleichen kann. An mein erstes Satteltänzchen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber eins weiß ich noch ganz genau: am Tag, als ich neun wurde, war ich der glücklichste Junge der Welt.
* * *
An meinem neunten Geburtstag erwachte ich wie man als Jugendlicher morgens halt so erwacht, leicht belämmert von den aufwühlenden Träumen der Nacht. Aber kaum, dass ich die Augen aufschlug, war ich sofort wie kalt geduscht.
Auf lackglänzenden schwarzen Reifen parkte vor meinem Bett ein Gerät, das eigentlich in kein Kinderzimmer gehört. Ein nagelneues Fahrrad stand wie hingezaubert vor meinem Bett und blinkte vom Chrom der Speichen bis zum Chrom der Klingel. Zweimal musste ich hinschauen bis ich begriff, dass es ein handfestes Wunder war, das reglos vor mir stand und kein Spuk der Nacht, der mich narrte. Das Wunder bestand aus einem Rahmen, dessen Lack genauso weiß wie meine Zahnpasta glänzte. Wirklich, der Rahmen war genauso weiß wie die Creme zum Zähneputzen und auch genauso fein von roten Streifen überzogen. Ich juchzte, ich lachte, ich freute mich riesig und mit einem Satz war ich aus dem Bett. So schnell wie am Morgen meines neunten Geburtstags sollte ich nie wieder aus den Federn kommen.
Ein Fahrrad hatte ich mir schon lange gewünscht, denn mit Fahrrädern war ich im Haushalt meiner Eltern, die von den Einkünften eines Radladens lebten, aufgewachsen. Aber von einem weißen Herrenrad mit hohem Oberrohr hatte ich nicht einmal zu träumen gewagt. Jetzt stand ein solches Prachtstück da und lud mich Steppke ein, es in Besitz zu nehmen. Mir verstopfte ein Kloß den Hals und schon kullerten Freudentränen. Stumm drehte ich mich zu meinem Vater um, dessen Hand auf meiner Schulter ruhte, und wischte mir verstohlen die Glückstränen von den Backen. Zaghaft, als könnte ich ihn beflecken, fasste ich nach dem roten Sattel und strich mit meiner Hand über makelloses Leder. Wie ein Kind ein kleines, totes Tier berührt, drückte ich mit der Fingerspitze in das glatte Polster. Erstaunlich! Es fühlte sich an wie der muskulöse Oberarm meines Vaters. Als meine Finger über die Klingel fuhren, erschrak ich für einen Augenblick. Im Spiegel des Chroms entdeckte ich mein Gesicht, verzerrt und rund gebogen. Ich zeigte die Grimasse meinem Vater und beide mussten wir lachen. Als ich mich zum Tretlager hinabbeugte und mir die schwarzen Gummis der Pedale genauer ansah, blinkten die Katzenaugen. Ich hätte schwören können, sie zwinkerten mir zu.
Das weiße Hercules sah viel schicker aus als mein Konfirmationsanzug. Aber, und das wagte ich nie meinem Vater zu sagen, der taubenblaue Anzug zum evangelischen Fest passte nämlich erheblich besser zu meinem schlaksigen Jungenkörper als das geschenkte Rad. Das Hercules war nämlich kein Jugend-, sondern ein Herrenrad und demnach für einen Neunjährigen um Einiges zu hoch.
Zugegeben, ein Jugendrad mit 24 Zoll wäre ein ganz und gar uncooles Geburtstagsgeschenk gewesen, aber es hätte wenigstens zu den Körpermaßen eines Neunjährigen und zu dessen bescheidener Schritthöhe gepasst. Nun gut, ich war noch unverdorben jung und deshalb duldsam. Bis heute kann ich meinem Vater nicht böse sein, dass er aus Gründen der Sparsamkeit ein Geschenk ausgesucht hatte, in das ich gewiss noch „reinwachsen“ würde.
Ohne böse Absicht hatte er seinem Junior einen Ladenhüter aus dem Vorjahr-Sortiment geschenkt. Vermutlich hatte er zu dem Hercules gegriffen, wie sparsame Eltern zu einer Winterjacke für ihr Kind greifen, das noch im Wachstum begriffen ist. Bei solch einem Sparkauf werden bekanntlich die zu langen Ärmel einfach hochgekrempelt und im nächsten Winter, wenn das Kind den zu erwartenden Wachstumsschub hinter sich hat, ohne großen Aufwand wieder heruntergekrempelt. „Ein Neunjähriger wächst, so ist es auch im Fall unseres Uli“, hatte mein Vater gewiss zu Alfred, unserem Werkstattgesellen, gesagt.
Entsprechend pragmatisch hatte Alfred improvisiert und das Herrenrad an die Schritthöhe meiner schlaksigen Jungenbeine angepasst, indem er den Sattel, anstatt auf eine Sattelstütze, direkt auf den Querholm montierte und dadurch die Sattelhöhe um sieben Zentimeter absenkte. Dank dieses faulen Kompromisses war ein zu großes Herrenrad zur Messlatte meines Wachstums geworden. Leider sollte es noch ganze fünf Jahre dauern, bis ich in mein Herrenrad „reingewachsen“ war.
* * *
Als ich am Morgen meines vierzehnten Geburtstags aufwachte, war der Teppich vor meinem Bett so leer wie an gewöhnlichen Morgen. Kein Wunder, kein Spuk, keine Überraschung erwartete mich auf dem rotbraunen Bettvorleger. Dafür stand in unserer Werkstatt eine Überraschung bereit. Als ich die Eisentür zu dem nach Schmierfett riechenden Werkraum aufstemmte, sah ich die Geburtstagsüberraschung sofort; mittendrin stand mein weißes Hercules und Alfred stand grinsend daneben. Er hatte das Rad auf Hochglanz poliert, hatte schicke Weißwandreifen aufgezogen und – endlich – einen neuen Sattel auf eine handelsübliche Sattelstütze geschraubt. Ich strahlte. Nach so vielen Jahren sah mein geliebter Gefährte nun wie ein echtes Herrenrad aus. Gleich schob ich ihn durch die Tür auf die Straße und drehte im hohen Sattel einen Achter. Nicht weniger souverän als ein Eiskunstläufer. Fürwahr, erwachsen und geübt kam ich mir so hoch über dem Boden vor und mutiger als früher legte ich mich in die Kurven und tatsächlich: die Kreiselkräfte waren mir gut gesonnen. Aber leider sollte es noch länger dauern bis ich ein Mann im Sattel war, gar ein Herr auf zwei Rädern.
Kalle und ich hätten mit den abgewracktesten Knochenschüttlern um die Welt radeln können, so fühlten wir uns, wir sonnengebräunten, gertenschlanken Jungs, die im Sport noch nie etwas anderes als eine Eins bekommen hatten. Aber selbst mit einer Bestnote in Weitsprung, Handball und Reckturnen kann man bekanntlich keinen Abi-Abschluss erzielen. Zu unserem Leidwesen nicht einmal die Versetzung in die Abiturklasse.
Und genau um diese Versetzung ging es bei uns. Sie war aufs Äußerste gefährdet und somit auch unser freundschaftliches Radfahren in den schulfreien Stunden und Tagen. Nachdem unsere Väter warnende Rektorenbriefe erhalten hatten, mussten Kalle und ich den vergnüglichen Sattelsitz gegen den verdammt harten Hosenbodensitz eintauschen. Strenger als alle Pauker des Gymnasiums zusammen, zwangen uns die Väter vier Monate lang zum Gehirnschmalz-Absondern, damit wir schulisch wieder Tritt fassen sollten. Kleinlaut fügten wir uns der Strenge und siehe da, der Radverzicht brachte uns Schlawiner zur Einsicht: wir blieben nicht sitzen. Kaum war die Zitterpartie überstanden, die Sache mit der Versetzung geritzt, da landeten unsere Schulranzen wie nichtsnutziger Krempel unter dem Bett. Aus den Augen die Schule, aus dem Sinn auch das Verrenken des Gehirns. Was für ein herrlich freies Gefühl! Endlich konnten wir wieder per velo ausbüxen.
In den öden Zeiten des Büffelns war aus unserem velozipedischen Freiheitsdrang eine Idee erwachsen, die Idee zu einer großen Tour. Im Geschichtsunterricht war sie geboren worden, in einer Stunde über die Gotik. Die Spitzbögen und die Fabeltiere über den Kapitellen des Kölner Doms wollte ich aus nächster Nähe betrachten, fotografieren und später in einem Referat mit unserem gotischen Ulmer Münster vergleichen. So fragte ich Kalle in einer großen Pause: „Kommst du mit nach Köln? Mit dem Rad?“
„Na klar!“ Sofort war Kalle Feuer und Flamme.
Die großen Ferien waren zum Greifen nah, die Mitschüler verunsicherten bereits die Tischtennis-Platten, das Drei-Meter-Brett und das große Becken im Städtischen Freibad, als Kalle und ich in unserer Werkstatt schwitzten, unsere Griffel verdreckten und uns im Eifer Fett in die Haare schmierten. Unsere seit dem Winter vernachlässigten Fahrräder hatten Rost angesetzt. Dringend mussten sie auf Vordermann gebracht werden. Kette, Naben, Speichen und Bowdenzüge mussten mit Petroleum gereinigt und anschließend geölt werden. Und die Felgenbremsen verlangten nach einer präzisen Justierung. Selbstverständlich mussten auch Vorder- und Hinterreifen frische Luft in ihre schlaffen Schläuche bekommen und für eventuelle Nachtfahrten galt es das Funktionieren der Lichtanlage durch Drehen am freilaufenden Vorderrad zu kontrollieren. Immerhin hatten wir mit unseren Gefährten Großes vor.
Am Abend vor dem Aufbruch schnallten wir die Riemen der gefüllten Packtaschen an den Gepäckträgern fest und parkten die reisefertigen Räder in der väterlichen Werkstatt. Lange vor Geschäftsbeginn wollten wir auf leisen Reifen davongefahren sein, darauf hatten wir uns schnell geeinigt.
Auf Kalle war Verlass und ich war auch kein Schwätzer, zumal die Lektion noch immer nachwirkte. Das großspurige Gehabe „Was kostet die Welt“ hatte einen gehörigen Dämpfer bekommen. Ja, wirklich, uns juckte das Fell nicht mehr so heftig wie früher. Auch wenn wir es noch nicht wahrhaben wollten: wir waren vernünftiger geworden.
„Echte Kerle brauchen Unterstützung“, meinte mein Vater und drückte mir beim Frühstück zum Abschied ein Reisegeld von hundert Mark in die Hand. Das üppige Geldgeschenk verfehlte nicht seine Wirkung; mit siebzehn fühlte ich mich plötzlich wie ein Großer, der zu einer Männertat aufbricht. Überpünktlich erschien ich zum frühen Termin an der Werkstatttür. Kalle, der ganz in der Nähe wohnte, kam keine Minute zu spät und wie verabredet, konnte unser erstes Radabenteuer beginnen. Die Packesel dirigierten wir ins Freie, gerade als die Morgensonne den steinernen Turm des Münsters mit zartem Rosa übergoss. Ganz ohne Sentimentalitäten und ohne ein einziges Wort zu verlieren, fuhren zwei Radfreunde Lenker an Lenker aus der schlafenden Stadt hinaus.
Auf dem Donau-Radweg und der spärlich befahrenen Autostraße kamen wir zügig voran und erst spät am Vormittag frühstückten wir an einer Tankstelle, wo allerhand Lärm herrschte und wir von allerhand hektischen Leuten begafft wurden. Unter ihren verwunderten Blicken kamen wir uns als etwas Besonderes vor. Aber wir fühlten uns auch belächelt und trotzig setzten wir unsere Fahrt fort. Die hügelige Strecke bis Tuttlingen schafften wir am ersten Tag ohne große Mühe und pannenfrei. Von hier aus planten wir weiter gen Westen zum Titisee zu fahren.
Zum Glück verfügte jeder von uns bereits über eine Rad-Vita, wenn auch eine knappe, in der immerhin eine Bodensee-Umrundung dokumentiert war. Aus erster Hand wussten wir also, dass spätestens am dritten Tag ein gehöriger Muskelkater die Beine von den Oberschenkeln bis zu den Waden heimsuchen würde. Wir nahmen uns in Acht und fuhren anfangs so moderat, dass am Ende des Radtages weder der Hintern noch die Oberschenkel brannten.
Auf der ansteigenden, immer kurviger verlaufenden Bundesstraße die Hügel des Schwarzwalds hinauf, fuhren wir dicht hintereinander und bescheiden am Rand, knapp neben der Leitplanke. Vor keiner Widrigkeit mit schnellen Autos fürchteten wir uns, vor keinem überholenden LKW und keiner Ölspur. Selbst vereinzeltes Hupen konnte uns nicht schrecken. Auf den ersten hundert Kilometern stellten wir voll Erstaunen fest: so easy fühlt sich also ein großes Abenteuer an! Eigentlich wie ein Klacks! Verständlich, immerhin war der Himmel mit uns und auch die Sonne. Es lief wie geschmiert – kein Plattfuß, keine Blase auf dem Sitzfleisch, kein Ausrutscher, kein Verbremser, kein Sturz. Nicht mal ein Regenguss aus heiterem Himmel.
Durch die Wiesentäler des Schwarzwalds radelten wir ausgelassen und genossen die Sonne, die unsere nackten Oberkörper ansehnlich bronzierte. Die Täler durchmaßen wir flink, die waldigen Anhöhen erklommen wir schwitzend wie Malocher. Auf der Höhe angekommen, erlaubte uns die Landschaft einen weit schweifenden Blick und als wir den Horizont absuchten, berauschte uns ein Gefühl von Freiheit, das mit jedem Kilometer, den wir zwischen uns und die Heimat brachten, wuchs. Mit jeder neuen Bergfahrt spürten wir die Kondition in den Muskelzellen wachsen und unsere Lungen schienen wie aufgebläht. Vor allem aber waren wir beglückt. An der badischen Grenze meinten wir allen Ernstes, die Kraft unserer Waden wachse ins Unermessliche.
Welch eine Illusion, welch eine Selbstüberschätzung!
Am vierten Tourentag, als wir in Freiburg nach Norden abbogen, um dem Rheinufer bis Köln zu folgen, wurden wir plötzlich von vorne angefallen und im Handumdrehen in Ketten gelegt. Diesmal wurden wir allerdings nicht auf dem Hosenboden angekettet, sondern auf dem Sattel. Nicht von strengen Vätern, sondern von einem überaus zornigen Wind. Die dreihundertfünfzig Kilometer, die sich vom Kaiserstuhl bis Koblenz vor unseren Lenkern aufbauten, sollten wir fortan tief gebeugt und buckelnd treten müssen, weil uns dieser Sadist an einem fort belästigte, ja, regelrecht quälte.
Wie Rennradfahrer mussten wir oftmals in die ermüdende Unterlenker-Position gehen, um im Schneckentempo vorwärts zu kommen. Aber nicht, weil wir Gefallen am Klischee „Der Radfahrer buckelt nach oben und tritt nach unten“ gefunden hatten. Nein, wir mussten nach oben buckeln und nach unten treten, weil wir auf dem topfebenen Rhein-Radweg an einem fort auf heftigsten Widerstand stießen. Noch lange vor Karlsruhe kam es uns vor, als wollte uns ein strenger Nordwind den Weg in seine Heimat versperren. Noch schlimmer: verbarrikadieren.
Während unsere Beine dem Wind Meter für Meter abtrotzten, als Böen über Böen über uns hinwegfegten, wehrte sich unser Verstand gegen das Ersetzen des Wörtchens vorwärts durch windwärts. Diese Gleichung wollte uns nicht in den Kopf. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen wir noch davon aus, dass das Umstandswort vorwärts dem Rad-Dasein seinen Sinn gibt. Ja, dieses kleine Wort benennt die Zielsetzung des Radfahrens, es definiert das Überwinden von Stillstand. Hingegen klingt windwärts defensiv und gar nicht bewegungsorientiert.
Wie wir uns windwärts in die Pedale krallten, mutierte das von jedem Radler heißersehnte Vorwärts zu einem utopischen Verlangen. Am Rheinufer wurde aus vorwärts windwärts – ein grausamer Umstand unseres Sattellebens. Wir konnten noch so tief buckeln, uns noch so heftig in die Pedale stemmen, die Kilometer unter den Reifen dehnten sich in die Länge als seien sie kein rechnerisches Maß, sondern so etwas wie fiese Gummibänder.
Für Budgetreisende sind Jugendherbergen ideale Unterkünfte, auch erfüllen sie als quirlige Begegnungsstätten einen guten Zweck. Aber für uns radelnde Windopfer waren sie noch viel mehr. Für uns wurden die Herbergen am Rhein zu Biwaks. Mehr noch, zu Hospizen. Vom ersten bis zum letzten Gegen-Wind-Kilometer lechzten wir nach dem Schutz ihrer Mauern. Wie Obdachlose sehnten wir uns nach den Nächten im Matratzenlager, selbst wenn sich die Stockbetten mit ihren graubraunen Decken alles andere als kuschelig anfühlten.
In den Nächten des kleinen Komforts regenerierten wir unsere Kräfte verblüffend gut. Nach jedem Kräutertee-Frühstück trauten wir uns wieder ins Freie, beseelt von der Hoffnung auf Rückenwind. Leider wurden wir in unserer kindischen Hoffnung maßlos enttäuscht und mussten uns Tag für Tag in Demut üben. Auch wenn wir manchmal den Tränen nahe waren, buckelten wir im kämpferischen Geist der Jugend weiter, immer weiter gen Norden. Kein Fahrtag, keine Fahrstunde vergingen, ohne dass wir dem Gegenwind nicht hätten die Stirn bieten müssen.
Irgendwann ist jeder mürbe. Uns versagten die Kräfte am Deutschen Eck. Am Zusammenfluss von Rhein und Mosel war es um unsere Ausdauer geschehen. Schließlich hatten uns auf dem gesamten, leicht abfallenden Uferradweg immer wieder die Böen geneckt, gepiesackt und schließlich, am fünften Tag, zu Boden gerungen. Der Sumo-Ringer unter den natürlichen Feinden des Radfahrers bezwang uns leichte Athleten schließlich und wir gaben auf. Koblenz erreichten wir mit letzter Kraft, auf dem Zahnfleisch kamen wir auf dem Parkplatz der hoch liegenden Jugendherberge an. Auf den letzten gepflasterten Metern zur Festung Ehrenbreitstein hinauf, schoben wir die Räder keuchend, mit einem Gefühl von Pudding in Armen und Beinen. Unvorstellbar, wie sich unsere ausgelaugten Knochen aufs Liegen freuten! Weitaus heftiger als unsere hungrigen Mägen auf das Herbergsessen. Doch kaum waren wir eingecheckt, bekamen wir es schon wieder mit einem mächtigen Gegner zu tun.
Nicht aus Aufmüpfigkeit verletzten wir die Hausordnung, nicht aus Renitenz. Vor Erschöpfung zitternd, verkrochen wir uns sofort nach der Anmeldung ins Matratzenlager, um wieder zu Kräften zu kommen. Da der Nachmittag aber erst begonnen hatte, ließ der Anschiss nicht lange auf sich warten. „Ein deutscher Junge legt sich mittags nicht hin! Das tut allenfalls der Itaker!“, erzürnte sich der herbeigeeilte Herbergsvater und schickte uns mit grimmiger Miene nach draußen in den windigen Vorgarten, wo wir uns auf eine zugige Holzbank hinflegelten. Der Kasernenton hatte uns ausgelaugte Jungs derart eingeschüchtert, dass wir beschlossen, den Kölner Dom zu vergessen und am nächsten Morgen umzukehren.
Gleich nach dem Teefrühstück verstauten wir die Zahnbürsten und brausten grußlos davon. Von wegen brausten! An der südlichen Stadtgrenze von Koblenz war es vorbei mit dem beflügelnden Wind aus dem Norden. Hatten wir auf der Hinfahrt noch gehofft, dass auf der Rückfahrt aus einem bremsenden Gegenwind ein schiebender Rückenwind würde, so sahen wir uns schon bald nach dem Verlassen der Stadt maßlos enttäuscht. Als wir unter dem Felsen der Lorely um das Rheinknie bogen, attackierte uns der Wind erneut so bestimmend von vorn, dass wir uns schreiend unterhalten mussten. Schwankend, den Rücken gekrümmt wie eine Brezel, quälten wir uns vorwärts: Meter um Meter! Meter, die sich wie in Zeitlupe zu einer mickerigen Anzahl von Kilometern addierten.
Mit einem Rauschen, manchmal auch Tosen in den Ohren, erlebten wir am Rhein unser erstes Rendezvous mit einem Element, das man gewöhnlich Luft nennt. Aber was heißt schon Luft?! Dieser schlichte Begriff führt in seiner Knappheit leicht in die Irre, weil wir ihn jeden Tag daher plappern, so als sei das Wörtchen Luft eine Banalität. Aber Banalitäten sind Luft und Wind keineswegs!
Im Gegenteil, hinter dem Begriff Luft verbirgt sich ein erhabenes Element von großer Tragweite. Von seinem Wesen her gehört es neben den Elementen Feuer, Wasser und Erde zu den vier Essenzen des Lebens. Die Größe und Macht dieses Elements wird offenkundig, wenn Turbulenzen im Äther auftreten, wenn aus Luftregungen Taifune oder Tornados entstehen, die gewaltige Verwüstungen und lebensbedrohliche Katastrophen anrichten können. Urplötzlich verwirbelt sich dann das Element Luft zu einer menschenfeindlichen Kraft der Natur und kann überaus bedrohlich und zerstörerisch werden. Selbstverständlich kann sich das mächtige Element auch in einem Lüftchen artikulieren, auch in einem hautfreundlichen Streicheln kann es sich verbergen. Selbst in einem zarten Kitzel, den der schwitzende Mensch während eines atmosphärischen Staus als gefälliges Fächeln empfindet.
Erstmals in meinem jungen Leben begegnete mir auf der Rhein-Tour das Element Luft ganz bewusst und existenziell. Als wolle es mich schulen, zeigte es mir seine groben, aber auch zärtlichen Eigenschaften. Und ich begriff in dieser Konfrontation, dass Bezeichnungen wie Gegenwind, Seitenwind, Rückenwind, Fahrtwind und Luftwiderstand lediglich pragmatische Begriffe sind, die lediglich sachlich die Eigenschaften dieses großen Elements klassifizieren. Aber erst viel später sollte ich verstehen lernen, dass die Luft mit all ihren Launen und Befindlichkeiten nichts Geringeres ist, als der große Atem der Natur.
Auf unserer Rückfahrt, die mir wie eine Kerkerhaft im Windkanal vorkam, schlichen sich natürlich auch weniger kluge Gedanken ins Hirn. Wir probierten am Sattelsitz herum und testeten die windschlüpfrigste Körperposition, um einerseits dem Gegenwind auszuweichen und andererseits den Rücken so weit wie möglich zu schonen. Und wirklich, wir kamen voran – windwärts gen Süden, gen Heimat. Vorderreifen an Hinterreifen fuhren wir im Windschatten und wechselten uns in der anstrengenderen Führungsposition ab. Wie wir gegen die Windböen anfuhren, beugten wir die Köpfe so tief über die Lenker, dass sich unsere Zähne im Chrom der Rohrstange hätten verbeißen können. Aber schon nach fünf gewonnenen Kilometern schmerzten uns der Rücken und die ausgestellten Ellbogen so sehr, dass wir wieder aufrecht fuhren und so erheblich mehr Luftwiderstand vor dem Brustkorb aufbauten.
In letzter Konsequenz retteten uns nicht die Muskelarbeit und unsere verbesserte Kondition, sondern eine geniale Erfindung deutscher Ingenieurkunst. Dank des Komforts einer Dreigang-Nabenschaltung namens Torpedo schafften wir die Heimreise in sechs Tagen. Bei jeder Windattacke schalteten wir vom dritten in den zweiten oder gleich in den ersten Gang und hätten aus Dankbarkeit vor den Erfindern von Fichtel & Sachs auf die Knie fallen können. Mal jammernd, mal fluchend über einen Wind, der uns mit der Zeit wie eine Luftverschwörung vorkam, erreichten wir schließlich den Ausgangspunkt unserer Tour im Windschatten des Ulmer Münsters.
Von großen Radausflügen hatten wir Windkämpfer erst einmal genug. Ja, selbst unsere Spritztouren wurden immer seltener. Da jeder fürs Abitur pauken musste, verloren wir uns aus den Augen und nie wieder sollten Kalle und ich gemeinsam dem Wind die Stirn bieten.
Wundersames hatte ich über die Tuareg gehört und auch gelesen. Diese Berber im Süden der Sahara seien nicht nur hochgewachsen, sondern hätten auch Augen mit einer stechend blauen Iris. Schwarze Haut und blaue Augen? Verwunderlich! Und ich fragte mich: entsprach dieser verblüffende Kontrast der Wahrheit oder der Legende?
Bekanntlich bilden Legenden das Aroma einer Speise namens Neugier, die mir außerordentlich schmeckt. Aber nicht nur aus Neugierde musste ich den blauen Augen von Afrika auf den Grund gehen, sondern weil auch ich über blaue Augen verfüge. Ich hatte also zwei gute Gründe, um mich auf das Abenteuer einer verwegenen Suche zu begeben. Per Autostop reiste ich via Algier in den Süden der Sahara.
Auf meiner Wanderung von Tamarasset ins bergige Hoggar bekam ich entsetzlichen Durst und trank des Nachts in einer Karawanserei Wasser aus einem zerbeulten Blecheimer, den ich an einem Seil aus einem Brunnenloch emporgezogen hatte. Eine Verzweiflungstat, die sich nur Stunden später als lebensmüder Fehlgriff entpuppen sollte.
Aus der Kälte der Nacht erhob sich der Sonnenball, als mich der schlimmste Durchfall meines Lebens, einhergehend mit Fieber, Schüttelfrost und Erbrechen, heimsuchte. Während sich das Sandbett, auf dem ich matt im blauen Schlafsack lag, unter der Morgensonne erwärmte, wurde mir so sterbenselend, dass ich glaubte, meine Eingeweide, aufgelöst in einer kloakenhaft stinkenden Brühe, im nächsten Augenblick ausstülpen zu müssen.
Unaufhaltsam gewann die rote Sonne an Kraft, während meine Kraft unaufhaltsam schwand. Die Hitze steigerte sich von Minute zu Minute und trocknete meinen Gaumen aus und ließ mich um Wasser flehen. Aber meine Vorräte waren aufgebraucht, ich hatte keinen Tropfen mehr zu trinken. Zum Brunneneimer schielte ich immer wieder hinüber, aber berühren und daraus trinken wollte ich auf keinen Fall mehr. An diesem Morgen war ich in der Wüstenhitze gefangen und wusste weder ein noch aus.
Inzwischen malträtierte die Sonne mein Gesicht und die ungeschützten Handrücken. Aber dieses Stechen schmerzte nicht so sehr wie der Brand im Bauch. Dort glühten die Eingeweide inzwischen wie befeuert. Als ich mich aufrichtete, traf mich die heiße Luft im Gesicht und es kam mir vor, als hielte mir ein ganz fieser Typ einen fauchenden Föhn vor die Fresse. Unendlich erschöpft und vom wässrigen Durchfall geschwächt, fiel ich auf meinen Schlafsack zurück und sofort fielen mir die Augen zu. Vor lauter Schwäche übermannte mich ein Dämmerschlaf, aus dem ich bald wieder fiebernd erwachte. Wo bist du? fragte sich mein verwirrter Kopf und augenblicklich musste ich mich übergeben. Als ich mich aus der erbrochenen Gallenlache auf den linken Ellbogen stemmte, gewahrte ich in einiger Entfernung etwas Flimmerndes. Beruhigend! Immerhin funktionierte die Wahrnehmung noch einigermaßen. Wie ich dieses flimmernde Etwas wahrnahm, musste ich an eine Fata Morgana denken.
Nein, keine Luftspiegelung, kein Trugbild des Fieberwahns narrte mich. Aus der Tiefe der sandigen Ödnis näherte sich der Schemen einer hohen Gestalt, zügig kam der milchige Schemen näher. Wie er sich im flirrenden Licht auf dreißig Meter angenähert hatte, erkannte ich, dass die hoch aufragende, vermummte Gestalt in einem blauen Kaftan steckte. Mit ganzer Willenskraft strengte ich mich an, die näher kommende Gestalt zu fokussieren. Auf einmal sah ich sie ganz klar: Ihre Arme waren nach vorne ausgestreckt und der Kopf war von einem schwarzen Turban umhüllt. Vom dunklen Gesicht waren nur die Augen zu sehen. Selbst im Fieberwahn verwirrte mich die Gestalt ganz ungemein, denn seltsam erhöht über dem Sand kam sie auf mich zu. Endlich begriff mein tumber Kopf: Der Kaftan-Mensch saß – sah ich das richtig? – auf einem Esel aus Draht. Ein Trugbild meines fiebrigen Hirns? Nein! Von vorne erblickte ich am Boden liegend ein Fahrrad mit einem Menschen darauf. Einen Fahrradfahrer! Und das inmitten von Sanddünen, umhüllt von flirrender Hitze!
Nun ist bekanntlich ein Zweirad nicht gerade das passende Gefährt in ariden Gebieten, wo sich feinkörniger Sand zu haushohen Dünen türmt. Aber dieser Umstand kümmerte den Kaftan-Menschen anscheinend nicht, geschickt im fließenden Sand manövrierend, radelte er mit heftigen Lenkausschlägen geradewegs auf mich zu. Artistisch balancierte er, den Oberkörper nach rechts und links neigend, und schaffte es tatsächlich, das metallschwarze Gefährt bis dicht vor mich hin zu lenken. Da der lockere Sand mächtig bremste, brauchte er nicht mit dem Rücktritt zu bremsen, sondern musste einfach die nackten Fußsohlen im Sand abstellen. Als er schließlich über mir stand, das Fahrrad zwischen den Beinen, musterten mich seine schwarzbraunen Augen durch den Turbanschlitz mit einem stechenden Blick.
Hoffentlich hilft er mir, einem weißen Mann! In Gedanken flehte ich und stammelte „l‘eau!“ Das sagt man in der algerischen Sahara, die einst französisch war, wenn man nach Wasser verlangt.
Wortlos reichte mir der Fahrradmann seine holzbraune Hand und zog mich mit einem Ruck vom Schlafsack hoch. Noch immer hatte er das Rad zwischen den Beinen. Mit einem Nicken deutete er mir an, mein mickeriges Gepäck auf dem rostigen Gepäckträger festzuklemmen und mich vor ihm auf die Querstange zu setzen.
Leichter gesagt als getan.
Wäre ich fit gewesen, hätte ich einfach die Fersen angehoben, mich auf die Zehenspitzen gestellt und lächelnd mein Hinterteil auf dem Oberrohr platziert. Lächelnd, weil mich dieser „Damensitz“ an lustige Fahrten mit Kalle erinnert hätten.
Als Gymnasiasten hatten wir uns eine Zeitlang mit einem Fahrrad begnügen müssen, weil Kalle wegen ungenügender schulischer Leistungen einen Sommer lang ohne sein Rad hatte auskommen müssen.
Aber jetzt, mitten in der Wüste, geschwächt von einem höllischen Durst, von Durchfall und Erbrechen, hievte ich mein Hinterteil wie eine Tonnenlast auf die Querstange. Vor Schwäche bog sich mein Oberkörper wie eine gekeulte Schweinehälfte über den Lenker, auf dem ich mich mit zittrigen Händen abstützte. Kaum hing ich auf dem Rohr, überkam mich ein Anfall von Schwindel. Erneut wurde mir kotzübel und ich drohte, ohnmächtig zu werden. Klar, der Körper war alarmierend dehydriert und mein Zustand mittlerweile schon kritisch. Meine schlimme Verfassung musste der Tuareg erspürt haben, denn ohne sich noch länger aufzuhalten, schob er das Fahrrad kräftig an und trat noch im Stehen in die Pedale. So heftig, dass die trockene Kette wie ein getretener Hund aufjaulte und auf den nächsten Metern bei jeder Umdrehung jämmerlich quietschte.
Dicht über mir bewegte sich der Turbankopf und ich konnte den Tee-Atem riechen, in den sich der holzige Lagerfeuergeruch des Kaftans mischte. Der radelnde Tuareg musste sich gehörig anstrengen, denn die Piste verlief über körnigen Sand, der unter den Reifen wie verschütteter Zucker rieselte. Als wir Fahrt aufnahmen, schrappte und mahlte der Sand andauernd in der Nabe. Das Treten war derart anstrengend, dass mir der Schweiß von seiner Stirn heiß auf den Rücken tropfte. An Stellen, wo Sandverwehungen wie Kissen über der festgefahrenen Piste lagen, stieg er ab und schob das Fahrrad mit mir, dem kranken Bündel, über die tückisch wegfließenden Bodenwellen. Der verhüllte Tuareg musste unter dem Kaftan viel Muskelkraft besessen haben, wie er das schwere Rad, an dem eine Schaltung fehlte, und mich über die Sandbarrieren schob.
Zu seinem Glück und meinem Leidwesen wurde der Untergrund bald fester und steiniger. Erneut stieg er in den Sattel und trat so kräftig in die Pedale, dass das Tretlager erneut aufjaulte und andauernd krachte und knackte. Ich wurde durchgerüttelt und musste würgen und rülpsen. Schließlich bremste er vor einem grünen Tor, über dessen Bogen aus verbogenem und durchlöchertem Blech „Hòpital“ stand, und übergab meine jämmerliche Wenigkeit einem herbeigeeilten schwarzen Pförtner.
In der Notaufnahme des Krankenhauses von Tamarasset diagnostizierte ein französischer Arzt „Choléra“ und stach mir routiniert zwei Spritzen in den muskulösen Oberarm. Auf eine Liege gebettet, erhielt ich eine Nährlösung aus einer Infusion und hatte nichts Besseres zu tun, als im Liegen nach „l`eau“ zu betteln. Aus dem Kühlschrank von nebenan erbat ich Glas um Glas klares Wasser. Welch eine Labsal, welch ein erfrischendes Kitzeln im ausgetrockneten Schlund! Den Geschmack habe ich mehr oder weniger vergessen und beschwören könnte ich nicht, ob es sich um ein Wasser von Evian oder Volvic gehandelt hat, oder um gefiltertes Brunnenwasser. Aber der Geschmack war auch nicht so wichtig. Viel wichtiger war die Erkenntnis, dass sauberes Wasser über Leben und Tod entscheiden kann. So lernte ich im französischen Krankenhaus von Tamarasset eine Lektion fürs Leben, denn Cholera kann tödlich sein.
Eine Schwester, deren Gesicht unter der weißgestärkten Haube wie aus schwarzbraunem Ton modelliert schien, führte mich in einen großen, von Windrotoren an der Decke gekühlten Saal. Auf der ganzen Saallänge baute sich eine Parade von weißbezogenen Stahlrohrbetten auf, in denen kein einziger Patient lag. Angekommen in der letzten Reihe, befahl sie mir unverständlich barsch, mich hinzulegen. Beim Anblick der blütenweißen Bettbezüge vergaß ich meine verdreckte Kleidung und warf mich, schwach wie ich war, augenblicklich auf die bügelglatte Bettdecke. Die Krankenschwester schimpfte nicht, aber resolut befahl sie mir auf Französisch: „Trinken Sie gut und sehr viel!“
Gerne folgte ich ihrer Anweisung, was mir aber aufgrund der Kühlschrank-Temperatur des Flaschenwassers überhaupt nicht bekam. Zum Leidwesen der Putzfrau spie ich das eiskalte Wasser in hohem Bogen wieder aus.
Wenn ich es mir recht überlege, gesundete ich allerdings nicht durch das Trinken, sondern dank der Spritzen und der Nährlösung aus dem Tropf. Nun gut, auch die fleischreiche Kost tat meinem ausgemergelten Körper gut und brachte mich wieder auf die Beine. Nach drei Tagen Bettruhe war ich über dem Berg und durfte das Krankenhaus von Tamarasset wieder verlassen.
Bereits am Folgetag wurde die Rechnung an die Adresse meines Vaters geschickt. Anstandslos bezahlte er die Forderung per Überweisung, wie ich später aus seinem Mund erfuhr. Gewiss hätte er lieber eine Postkarte von seinem Sohn erhalten. Aber bei langem Schweigen kann auch eine postalische Geldforderung aus der Fremde beruhigen, sagte ich mir, ist sie doch Beweis genug, dass der Sohn noch am Leben ist. Allerdings im Reinen mit mir war ich noch lange nicht. Noch viele Jahre später belastete mich, dass ich den Tuareg nie wiedersehen sollte und ihm bis heute Dank schulde. Dafür ist mir die Erinnerung an die Rettung wie unter die Haut tätowiert.
In Afrika habe ich hautnah erlebt, dass ein Fahrrad nicht nur das Leben sichern, sondern auch Leben retten kann. So schwor ich nach meiner Genesung, das universelle Gefährt mit den zwei Rädern mein Leben lang in Ehren zu halten.
In den siebziger Jahren führte Amerika Krieg in Vietnam und in Westberlin organisierte die Studentenbewegung den Widerstand gegen diesen Krieg. Auf dem Höhepunkt des US-Bombardements waren Vietnamesen ins Audimax der Technischen Universität gekommen, um über ihren Guerillakampf zu berichten. Unter dem Beifall Tausender Westberliner Studenten und Bürger schilderten die Genossen des Vietkong den Überlebenskampf ihres Volkes. Wie sie kämpferisch sprachen, entdeckte ich, der ich in der Frontreihe saß, das gefährliche Blitzen in ihren geschlitzten Augen und zweifelte keine Sekunde an ihrer Kampfentschlossenheit gegen die hochgerüstete US-Armee.
Nun beließen es die Genossen nicht beim Wehklagen über das mörderische Entlaubungsgift Agent Orange und über Napalm-Brandbomben aus der Luft, sondern berichteten auch von einer Geheimwaffe ihres Widerstand am Boden: von Tausenden französischen Peugeot-Rädern, mit denen Zivilisten und Soldaten den Nachschub des Nachts auf dem legendären Ho-Chi-Minh-Pfad zwischen dem Norden und dem Süden organisierten.
Das Fahrrad als Guerilla-Waffe gegen eine todbringende Flotte aus B-52-Bombern – das gefiel dem Revoluzzer in mir und an diesem Abend erlebte ich im brodelnden Saal der TU, inmitten kämpferischer Solidarität, ein Déjà-vu: das Fahrrad als Leben sicherndes und Leben rettendes Vehikel. Den festen Entschluss, mir wieder ein Fahrrad zu besorgen, mehr noch, ein Rad in mein Leben zu integrieren, nahm ich von dieser Großveranstaltung mit nach Hause.
Am nächsten Morgen steckte ich zwanzig D-Mark in die Lederjacke und bestieg am Sophie-Charlotte-Platz die S-Bahn. Anstatt nach Dahlem zur Freien Universität fuhr ich nach Kreuzberg, dorthin, wo in jenen aufgewühlten Jahren des Studentenprotests die Mauer die deutsche Hauptstadt teilte. Die Gegend um das Kottbuser Tor kannte ich vom Flugblattverteilen. Doch diesmal war keine Agitation im Spiel. An diesem Sommermorgen war ich in privater Mission unterwegs. Mich zog es in die Trödelkeller in der Reichenberger Straße.