‚Glücklich sein‘… Was ist das eigentlich? Wie lange dauert so etwas und wie genau fühlt sich das an? Ist dieses Gefühl käuflich, austauschbar, wie fast alle Dinge im Leben? Oder ist Glück nur eine Art Intervall? Ein kurzer Moment, der mit einem Küchentuch beseitigt wird und uns müde und matt zurücklässt. Was sind wir bereit, für diesen Zustand zu tun – ihn nicht als gegeben hinzunehmen, sondern uns dessen bewusst zu sein, dass nur durch permanente Arbeit das Rädchen der Zufriedenheit schnurrend weiterläuft?
Wo Erkenntnis beginnt, reift die Erfahrung und wo das Innehalten nicht als Faulheit oder gar Schwäche zugelassen wird, sondern wir dem Leben mit Achtsamkeit begegnen, dort dürfte der Boden für die Frucht des Glücks recht nahrhaft sein.
Der stärkste Feind des Glücks scheint wohl die Gewohnheit zu sein – oder es treibt uns das Streben nach noch viel besserem, vollkommenerem Glück und lässt uns das alte achtlos zurück lassen! Wie definiert man nun überhaupt diese Erscheinung scheinbarer Zufriedenheit? Heißt das Stillstand? Ist das tatsächlich nur in einer Person oder einer einzigen Sache zu finden? An der nächsten Ecke wartet doch schon das nächste Hoch und alles und jeder ist austauschbar! Auch Glück? Auch Liebe?
Haben wir verlernt, einfach wir selbst zu sein, etwas bescheidener – für andere da zu sein – Liebe zu geben ohne stets aufzuwiegen und den eigenen Vorteil zu suchen – unser Glück zu erkennen, ohne es abhängig davon zu machen, ob es konform mit den Wertvorstellungen unserer Umgebung geht? Wo sind die Individualisten? Nicht die aufgesetzten Revoluzzer, die im Streben nach Einzigartigkeit letztlich auch nur nach Anerkennung ihrer Mitmenschen lechzen…
Durch die Begleitung der Romanfigur Julia werden wir unter anderem mit diesen Fragen und Gedanken konfrontiert und auch die weiteren Personen in diesem Buch bringen den Leser zum Nachdenken. Und so mancher wird sich hier auf beeindruckende Weise inmitten der Wirrungen der Liebe wiederfinden. Wird an seine Liebe denken, an seine Freunde und diese Sache, die es festzuhalten gilt:… das Glück!
„Die einen waren auf der Suche und
deshalb unzufrieden,
die anderen hatten gefunden und
waren letztlich
mit dem Gefundenen unzufrieden.
Und der Gefundene…?
… wäre wohl oft am liebsten nie
entdeckt worden!“
René B. Werner
Wenn Berlin so verträumt da liegt, seine Umwelt in tristes Grau bettet, die Autos in sich aufsaugt, um sie mit dem nächsten Atemzug in gleicher Menge wieder freizugeben, dann bleiben bisweilen die Zeiger der Zeit für einen Augenblick stehen und manche Menschen nutzen diesen Moment, um kurz innezuhalten und ganz tief Luft zu holen.
Heute war einer dieser Tage und Julia blies die angestaute, warme Luft mit einem tiefen Seufzer an die Fensterscheibe ihres Zimmers. Sie vernahm das Rauschen der Heizung und spürte die Wärme durch ihre Jeans dringen. Oft stand sie hier, schaute einfach hinaus und gab sich ihren Gedanken hin. Für kurze Zeit nahm ihr das von der Atemluft beschlagene Glas die Sicht. Julia – es war einer dieser blonden Engel, die es vermochten, ihre Umwelt zu verzaubern. Diese Wesen haben eine unheimliche Kraft. Männer werden zu Trotteln, die Türen der Welt öffneten sich weit und die neidvollen Blicke der weiblichen Konkurrenz pflasterten ihren Weg zum nächsten Tresen, an dem das Freigetränk wartete. Ihr Alter von fast 27 Jahren sah man ihr nicht an. Man mochte sie auf Anfang Zwanzig schätzen. Während sie so am Fenster stand, ihre Stirn an die kalte Fensterscheibe drückend hinaus in das wippende Grün der vom Winde getriebenen Blätter schaute, malten ihre Gedanken eifrig Bilder. Mal ganz bunt, mal einfach nur schwarz-weiß. Hier lachte, weinte, telefonierte sie, hier wurden Pläne geschmiedet und wieder verworfen, hier wurde Kummer verarbeitet und begraben, hier wartete sie auf ihn und hier legten sich so manches Mal zärtlich Männerarme um ihre Hüften und wurde somit der Anfang für den ein oder anderen Akt der Liebe gelegt.
Wenn sie grübelte, dann drehte ihr Zeigefinger unendliche Spiralen in ihr langes, blondes Haar. Wieder und wieder stellte sie ihre Augen auf Weitsicht um dann im nächsten Augenblick wieder der Versuchung nachzugeben, ihr Spiegelbild aus nächster Nähe in der Fensterscheibe zu betrachten, die Konturen wohlwollend wahrzunehmen und zufrieden mit dem was sie sah wieder in die Ferne zu schauen.
Während sie den silbernen Ring an ihrem Finger betrachtete dachte sie an IHN – ihren Verlobten – Steve. Sie kannten sich nun schon neun Jahre lang. Eine Ewigkeit, wenn man bedenkt, inmitten einer unsagbar schnelllebigen Zeit zu leben. Einer Zeit voller Versuchungen. Die Auslage stets prall gefüllt von immer wieder neuen Verlockungen, die Vertrautes allzu schnell verblassen lassen konnten. Im gesellschaftlichen Streben nach oben, nach Erfolg, Geld und Macht, blieb keine Zeit für Schwächen oder den Blick nach links oder rechts. Unter dem Dauerdruck allgegenwärtiger Schönheitsideale schienen Werte ebenso schnell in Vergessenheit zu geraten, wie das Abendprogramm der Vorwoche. Getrieben von diesen Faktoren des vermeintlichen Glücks, waren die Kliniken Berlins gefüllt von Menschen, die diesem Druck nicht mehr standhielten; die ihr Leben bisher einfach anders definierten und an diesen Idealen zu scheitern drohten. Zumeist handelt es sich hierbei um Menschen, die wir alle gern haben. Liebevoll, sensibel, nachdenklich und in der Regel ein wenig schüchtern. So begegnet uns diese scheinbar aussterbende Rasse des menschlichen Wesens, verdrängt an den Rand des Alltags, den Ellbogen ausweichend kaum mehr Platz findend, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, ohne sich auszugrenzen, gar zu isolieren.
Julia runzelte die Stirn. Waren sie denn auch so? Waren sie nicht ganz ‚normale‘ Menschen? Auch wenn Julia hier in ihrer WG und Steve noch immer im Haus seiner Eltern wohnten. Sie hatten es trotzdem geschafft, eine Beziehung zu führen und nicht nachzugeben, auch wenn in letzter Zeit das Glück tagtäglich ein Stück weiter in die Ferne gerückt zu sein schien. Ja, Steve und Julia waren ein Traumpaar und dieses Bild neun Jahre lang nicht verblassen zu lassen, dem scheinbar existierenden Anspruch durch Freunde und Bekannte über einen solchen Zeitraum gerecht zu werden – allein das war bereits ein akrobatischer Kraftakt. Es war inzwischen doch eher ein Kampf, auf dem Pinsel des Lebens zu balancieren, immer schön gerade und konzentriert, um bei all den Wirrungen der Gefühle das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Und hier am Fenster wurden irgendwann auch die ersten Zweifel an der Beziehung zu Steve laut. Die Angst, etwas zu verpassen, wurde größer und größer. Sie spürte das Treten auf der Stelle und war sich bewusst, dass auch für sie die Uhr des Lebens unaufhörlich weitertickte. Längst war das Thema ‚Baby‘ im Laufe der Zeit zum Streitgegenstand geworden. Obwohl das Wort Streiten falsch platziert erschien. Es war eher ein Totschweigen und in ihrem Inneren brodelte ein Vulkan, der jederzeit auszubrechen drohte. Nie war der richtige Moment da. Steve war noch nicht bereit und viel zu sehr mit seinen Karriereplänen beschäftigt. Und sie selber? Julia hatte sich damals für die Lehre zur Bürokauffrau entschieden. Eine Sackgasse, wie sie später merkte. Je alltäglicher ihr Arbeitsleben wurde, desto mehr nagte an ihr der Blick auf ihren strebsamen Freund und erst recht das Thema Nachwuchs. Letzteres lastete wie ein schwerer Klotz auf ihr und war somit ein nahrhafter Boden für die Entstehung von reichlich Frustpotenzial. Hier sah sie den Ursprung ihrer Unzufriedenheit.
Wie oft konnte sie in letzter Zeit den Anblick von Steve, seine bloße Anwesenheit, einfach nicht mehr ertragen. Wie oft war schon der sich nähernde Atem ein Grund, sich widerwillig abzuwenden, beim Versuch der ungewollten Nähe zu entkommen. Wie oft sah sie Steve heimlich nach. Sein Po und sein viel zu vertrauter Penis waren schon lange nicht mehr Teil ihrer Begierde. Wo noch vor einigen Jahren Wogen des Verlangens über ihr zusammenschlugen, sie die Stärke seiner Männlichkeit nicht oft genug in Empfang nehmen konnte und unter den Stößen zufrieden wippend in eine Kissenecke biss, war scheinbar nur noch Leere. Was war geblieben? Der Alltag hatte zunehmend Oberhand über sie gewonnen. Ein noch so schöner Mensch ergraut im Schatten des täglichen Einerleis. Die Schönheit verblasst und auch Brad Pitt hängt seine Unterhose über die Wäscheleine und pupst bei der Morgentoilette… Was hält die Farben frisch? Wer hat nun den Zauberpinsel, der die Konturen immer wieder nachzieht und die Farben am Leuchten hält? Wo liegt das Geheimnis? Ist es eigentlich möglich, dieser von der Zivilisation geschaffenen Monogamie gerecht zu werden? Wie viel Opfer kann eine Liebe denn überhaupt verlangen? Und was eigentlich ist Liebe? Unzählige Bücher wollen dem Geheimnis auf die Spur gekommen sein. Es werden Empfehlungen ausgetauscht wie Großmutters Backrezepte und ein jeder hegt den Anspruch auf die einzig wahre Lösung. Doch lieben wir einander oder lieben wir am Ende nur uns selbst? Ist nicht jede Abwägung im Leben nur eine Entscheidung für das Angenehmere, Bequemere – den Weg des geringsten Widerstands und dem erhofften positiven Ergebnis fürs eigene Empfinden?
Für Julia war Liebe ein Naturereignis. Ein Vulkanausbruch. Eine Explosion. Nichts war stärker als das Gefühl unbändiger Kraft. Ein Gefühl, was das Leben von einem Tag auf den anderen in ein neues Licht tauchte. Die Farben wurden intensiver, die Blätter an den Bäumen wippten vergnügt. Der Mensch stand früh auf und lächelte den Morgen an. Alles wurde süß, die Kugel Eis schmeckte noch viel besser, das Licht strahlte heller. Melodien im Radio erreichten das Herz, Liebesfilme waren auf einmal gar nicht mehr so kitschig. Und wo war nun dieses Gefühl geblieben? Es lag doch schon längst im Gestern begraben. War bedeckt vom furchtbaren Grau des Alltags. Das Licht war schon lange nicht mehr hell und überhaupt – Eis macht dick!
Der Montagmorgen in Berlin war ein grauer Tag. So richtig wollte sich der Sommer in diesem Jahr nicht durchsetzen. Julia fuhr dennoch, wie fast jeden Morgen, mit dem Fahrrad zur Arbeit. Für sie war es ein gutes Training und generell war die Fahrt mit dem Auto durch Berlin so aufreibend nervig, dass sie, wann immer möglich, auf das Fahrrad auswich. Zudem schonte das den Geldbeutel und brachte jeden Morgenmuffel in Schwung.
Thomas hatte sie gestern nicht mehr gesehen. Aber gedanklich war er ihr stets ganz nah. Es schien ihr, als wäre er eben noch da gewesen. Sie war umhüllt von diesem Ereignis. Alles Handeln, eine jede Tat fanden nur hintergründig statt. Als hätte jemand den Ton leiser gestellt, war jeglicher Fokus nur auf sie selbst gerichtet. Jedes Taxi ließ ihren Puls in die Höhe schnellen, jedes Klappern erinnerte sie an seine Gürtelschnalle… Sie sonnte sich in den Strahlen der Erinnerung.
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie nicht mal seine Telefonnummer hatte! Das musste sich dringend ändern. Spätestens heute Abend würde sie ihn entweder selber danach fragen oder Michael darum bitten, sie ihr zu geben. Andernfalls bestand die Gefahr, vor Sehnsucht zu platzen. Wenigstens ganz kleine Nachrichten sollten fortan die Stunden ohne Thomas erträglicher machen. Heute Morgen hatte sie eine SMS auf ihrem Handy gehabt. Allerdings war diese von Steve. Er fragte, ob sie sich heute sehen könnten. Montagnachmittag in ihrem Stammcafé. Julia hatte Angst vor einem Wiedersehen. Sie wusste um die Bedeutung dieses Treffens. Denn erstmals seit ihrem Fehltritt musste sie ihm in die Augen sehen. Dabei war ihr nicht klar, ob es Zeit war, alles auszuschütten und das Geschehene für die Beendigung der Beziehung zu nutzen oder ob sie einfach lügen sollte. Vielleicht war das ganze ja nur ein Akt der Selbstbestätigung. Die Sehnsucht nach der Lust, fremdes Begehren, einfach der Kick des Neuen. Sie konnte sich nicht vorstellen, zweigleisig zu fahren. Sicher – das ist heutzutage fast schon Standard und treue Paare werden eher bewundert, belächelt oder als altmodisch abgestempelt. Aber spätestens hier spürte Julia deutlich, dass sie gern an alten Werten hing. Und genau das klang jetzt so furchtbar absurd. Denn Julia war nun eine von vielen…
Steve saß schon da, als Julia das Café betrat. Er sprang auf, um sie zu begrüßen und zu küssen. Reflexartig wich sie seinem Kuss aus. So landeten seine Lippen halb auf ihrer Wange, halb auf dem Mund. Peinlich berührt setzten sich beide verlegen hin. „Alles ok bei dir?“ Er schaute sie fragend an. „Ja, alles ok“, antwortete sie knapp. Das schien vorerst zu genügen, denn Steve wirkte nun etwas erleichtert.
„Willst du auch einen Latte?“, grinste Steve jetzt schon etwas mutiger und sie nickte. „Und? Wie war dein Wochenende? Warum hast du denn nicht mal zurückgerufen?“ Da waren sie wieder. Diese Kontrollfragen und indirekten Vorwürfe. Julia wäre am liebsten gleich wieder aufgestanden und gegangen. Wozu sich das antun? Was will der Typ? Die Markierung auffrischen? Julia merkte, wie sie ungerecht wurde. Ihr gegenüber saß schließlich ihr Verlobter. Da fiel ihr der nackte Ringfinger ein und instinktiv versteckte sie die Hand unter der anderen. Sie musterte ihn. Bisher schien er den fehlenden Verlobungsring nicht bemerkt zu haben.
„Ich weiß auch nicht. Mein Handy spinnt. Wollte dich heute gleich anrufen aber auf Arbeit war die Hölle los. Und als ich dann deine SMS las, hab ich ja auch ganz schnell geantwortet!“ Steve begnügte sich ein weiteres Mal mit ihren Ausflüchten. Da kam zum Glück schon die Kellnerin, um die Bestellung aufzunehmen. Die Order der Getränke half über die steife Konversation hinweg. „Kann ich heute bei dir schlafen?“, fragte Steve, kaum, dass die Kellnerin außer Reichweite war. Julia spürte wie es ihr kurz den Atem nahm. Was um Himmels willen sollte sie nun tun? Was, wenn Thomas heute wieder da sein sollte. Und wie soll sie damit umgehen, wenn sich die beiden begegneten? „Von mir aus gern. Aber ich hab meine Tage“, antwortet sie betont lustig und mit einem gespielten Augenzwinkern. Sie hoffte, dass dies ein wenig abschreckend wirkte, denn was sollte Steve sonst bei ihr wollen? „Wir können ja sonst am Mittwoch auch mal ins Kino gehen“, ging sie weiter in die Offensive. „Dann nehme ich beides“, hörte sie Steve ganz vergnügt sagen, „eine tolle Idee!“ Julia spürte, wie eine Hitzewallung ihren Körper in Besitz nahm. Sie hätte schreien können ‚Alter, du nervst. Verzieh dich!‘ Aber sie konnte kein Wort über die Lippen bringen. Sie nickte nur und lächelte so ungezwungen wie möglich. Steve schien amüsiert und voller Zuversicht auf die bevorstehenden schönen Stunden mit ihr.
Sie betrachtete Steve. Er erschien ihr in diesem Moment so unattraktiv. Seine Gesten, seine Aussprache – er war ihr noch nie so fern gewesen wie in diesem Augenblick.
Die Kellnerin brachte die Bestellung und flirtete unverblümt mit Steve. Julia nahm das ohne eine innere Regung wahr. Einzig stellte sich ihr abwertend die Frage, was die wohl an Steve so toll fand. Sie versuchte, die Gedanken abzuschütteln und nahm einen Schluck von dem noch viel zu heißen Getränk. Erschrocken zog sie das Glas vom Mund zurück und verschüttete dabei ein wenig Kaffee über ihre Hose. Sie schnellte hoch, wischte hektisch über die Flecken und entschuldigte sich energisch, um sogleich auf die Toilette zu verschwinden. Die Tür hinter sich zuwerfend atmete Julia ganz tief durch. Unerträglich empfand sie die Enge in der Gegenwart von Steve. Auf das Waschbecken gestützt betrachtete sie sich im Spiegel. Augenringe zeichneten sich ab. Julia war unzufrieden und fühlte sich fad und alt. Die Kellnerin betrat das WC und begann, sich neben Julia vorm Spiegel aufzuhübschen. „Alles ok?“ Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Einen tollen Typen hast du da!“ Während sie sprach, ließ sie ihr Spiegelbild nicht aus den Augen. Sie spitzte die Lippen zu einem Kussmund und schien zufrieden mit dem, was sie sah. „Lass mich raten. Jurist oder Arzt?“ Scheinbar hatte sie mit ihrem Bedientablett auch das Gehirn hinterm Tresen gelassen. Julia war leicht irritiert. Doch es lenkte sie kurzzeitig von ihren eigenen Gedanken ab. „Findest du? Fällt mir gar nicht so auf. Er ist Student und wir sind verlobt. Und glaube mir, nach neun Jahren siehst du ihn mit anderen Augen!“ Die Kellnerin blickte ungläubig auf Julia. „Na wenn du meinst. Ich nehme ihn gern. Sag einfach Bescheid!“ Sie öffnete einen weiteren Knopf an ihrer Bluse, inspizierte kurz ihr sichtbar gewordenes Dekolleté und machte sich frohen Mutes auf den Weg zurück ins Café. „Bis gleich, Glückspilz!“
Als Julia nach ein paar Minuten den Gastraum betrat, schwänzelte die Bedienung bereits wieder um den Tisch von Steve. Nun doch etwas genervt, ging sie zu den zwei Turteltäubchen und bemerkte, kurz nachdem sich das Dekolleté mit dem Rest des Körpers ein paar Meter entfernt hatte: „Können wir bitte gehen? Oder willst du hier bei dieser Saftschubse bleiben? Mir ist´s egal! Aber ich mache jetzt los, mich nervt das hier einfach! Lass uns von mir aus zu Hause weiterreden, wenn überhaupt! Ich bin einfach nicht in Stimmung!“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie hinaus ins Freie. Einfach nur raus hier!
Als Steve aus dem Café trat, gingen beide ohne ein weiteres Wort bis zu ihrem Fahrrad. Ohne ein Wort! Da war es wieder! Steve war so lieb, dass es wütend machte. Da waren keine Emotionen. Früher hätte er sie in die Arme genommen, hätte ihre Stirn geküsst und mit seinem Blick ein Pflaster über ihre Wunde gelegt. Und heute? Da war einfach nichts. Aber woher sollte er denn überhaupt ahnen, was in ihr vorging? Wie sollte er eine Verletzung sehen, die nur in ihrem Inneren klaffte? Und er war ja nicht mal auf den Flirt der Kellnerin eingegangen. Julia sah nur, was sie sehen wollte, um den Ausbruch ihrer Emotionen zu legitimieren.
„Ich verstehe dich einfach nicht“, hörte sie Steve stammeln. Sichtlich verunsichert blickte er vor sich auf den Boden. „Was ist nur los mit dir?“ Wieder war da dieser bohrend fragende Gesichtsausdruck. ‚Was für ein Weichei!‘ Nun wurde Julia ungerecht, aber nur so konnte sie Sicherheit im Umgang mit ihrem Geheimnis gewinnen. Sie lieferte sich fadenscheinige Rechtfertigungen für ihr Handeln. Das tat gut! Und Steve? Der hatte bei diesem Spiel keine Chance…
Sie verstauten ihr Fahrrad im Auto von Steve und machten sich gemeinsam auf den Heimweg.
Als Steve das Auto vor ihrem Haus parkte, sah sie schon das gelbe Taxi in der Parklücke stehen. Thomas war also da. Wie schön hätte das Wiedersehen verlaufen können. Sie hätte ihre Mitbewohner eingeweiht und hätte Thomas mit zu sich ins Zimmer genommen, um von jetzt an jede Möglichkeit zu nutzen, um mit ihm zusammen zu sein. Und sie wollte wieder mit ihm schlafen. Es war kein Ausrutscher. Sie spürte tiefe Emotionen und unsagbares Verlangen. Auch wenn es für derartige Gefühle viel zu früh war, fühlte sich dieses Verliebtsein so gut an! Und wenn es nur der Wunsch war, eine Illusion, dann sollte es einfach nicht aufhören! Sie wollte das hier und jetzt genießen.
Augen zu und durch. Julia ging voran die Treppen hinauf. Als sie Steves Hand zwischen ihren Beinen spürte, raunzte sie ihn an: „Mensch, pass doch auf. Das ist jetzt alles ein bisschen empfindlich, du Grobian! Wie kannst du jetzt überhaupt an so etwas denken! Merkst du eigentlich, dass mich dein Verhalten verletzt?“ Steve trat einsichtig den Rückzug an. „Ich möchte einfach, dass alles wieder normal ist. Lass uns doch den Abend genießen! Ich möchte nicht mit dir streiten“, sagte Steve mehr zu sich selbst.
Julia war in Gedanken schon längst woanders. Der Spannungsbogen drohte zu zerbersten, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte. „Hi Micha“, rief sie theatralisch in die Küche. Michael saß zum Glück allein dort. „Na, Julia“, kam gedankenversunken aus Micha hervor, der jetzt aber aufblickte und seine Augenbrauen freudig hochzog. „Mensch, Steve, alte Rakete. Auch mal wieder da?“, rief Michael cool und sichtlich erfreut. Julia hatte es indes eilig, in ihrem Zimmer zu verschwinden. „Na. Die kann es wohl kaum erwarten!“, rief Michael den beiden hinterher. Steve trottete wortlos seiner Verlobten nach. Julia schloss schnell die Tür ihres Zimmers. Das wäre erst einmal geschafft.
Wie immer schnappte sich Steve die Fernbedienung ihres Fernsehers und warf sich auf die Couch. Wie sie das hasste. Hatte er keinen Fernseher zuhause? Weshalb brauchte er sie zum Glotze gucken? Ok, in den Werbepausen konnte man mal galant unter ihr T-Shirt greifen, in dem Glauben, die bloße Anwesenheit seiner Hände würde sie in Verzücken versetzen und ihr ungeahnte Ekstasen bescheren.
Julia erschrak davor, dass sie zunehmend so etwas wie Abscheu und Respektlosigkeit vor diesem Menschen spürte. Er spielte eigentlich gar keine Rolle mehr in ihrer Welt und das wusste sie. Am liebsten wollte sie die Augen schließen und hoffte, beim nächsten Öffnen der Lider eine leere Couch vorzufinden. Aber da lag er. Ihr Jugendtraum hatte sich in einen Einrichtungsgegenstand verwandelt. Und sie merkte, dass sich ihr Geschmack fürs Mobiliar im Laufe der Zeit geändert hatte. Einfach mal alles neu streichen. Raus mit den alten Möbeln. Durchatmen. Die Fenster öffnen und die Freiheit ganz tief einatmen!
„Hast du ein Bierchen da?“ Die Frage von Steve riss sie aus ihren Gedanken. Mit dem Oberkörper wippend sah er sie mit fragendem Blick an. Warum musste er ständig diese Verniedlichungsformen benutzen. Konnte er nicht einfach nach einem Bier fragen und dabei sprechen wie ein Mann und nicht wie ein Eunuch? „Warte, ich schau mal in der Küche…“, hörte sie sich sagen. Schon hatte sie die Tür geöffnet und verschwand. Sie spürte ihr Herz schlagen. Schon der Gedanke, dass ER in der Küche sein konnte, versetzte sie in Aufregung. War der Flur schon immer so lang gewesen…? Julia stand in der Küchentür. Die Kühlschranktür war offen und sie sah zwei Beine unter der Tür hervorlugen. „Thomas?“, fragte sie ohne zu überlegen. Ein Kopf trat zum Vorschein und dieser gehörte leider nicht zu Thomas. Es war Lukas. Der durchgeknallteste Typ, den Julia bisher kennengelernt hatte. „Nee! Aber du kannst mich gern nennen wie du willst, Schatz!“ Lukas grinste und streichelte sich vergnügt über seinen Bierbauchansatz. „Ach Lukas. Bevor ich dich kannte, dachte ich, die Welt sei in Ordnung…“ Julia war von dieser Situation amüsiert. Sie merkte, wie sehr sie das Leben hier mochte und wie fern ihr Zimmer am Ende des Flures in diesem Moment war. Vielleicht schläft Steve ja ein.
Sie nahm sich vor, einfach hier in der Küche zu bleiben. „Wie viel Bier hast du dir schon hinter die Binde gekippt?“, wollte sie wissen. Lukas spielte den Überraschten. „Ist mein erstes. Glaub ich. Willst du auch eins?“ Ach, warum eigentlich nicht. Julia zog einen kleinen, aufmüpfigen Flunsch und gab Lukas zu verstehen, dass sie nicht abgeneigt war. Sie war bereit für Veränderungen und das zur Unzeit vertilgte Bier sollte der Beginn einer neuen Zeitrechnung sein.
Die zwei Bierflaschen stießen aneinander. „Hopp, hopp. Rin in Kopp!“ Julia musste kichern. Sie mochte Lukas. Eigentlich diesen ganzen Haufen Jungs hier, die alle auf ihre Art liebenswert waren. Aber wo steckte Thomas nur? Sollte sie einfach noch mal fragen? Oder fiele das zu sehr auf?
„Und. Wer ist noch so da?“, fragte Julia, bereit, über Umwege an ihr Ziel zu kommen. Lukas stieß ein brunftartiges Bäuerchen hervor. „Upps… Hähä… Sorry. Also warte. Ich glaube Michael und dieser Thomas. Die zocken am PC!“ Na gut. Er war also wirklich da. Aber warum versuchte er nicht einmal Kontakt herzustellen? War sie ihm egal? Sie ging weiter in die Offensive: „Wer ist dieser Thomas eigentlich? Woher kommt der auf einmal?“ Lukas war diese ganze Fragerei jetzt eigentlich ein bisschen viel und er verzog schon ein wenig genervt das Gesicht. „Keine Ahnung, Häschen. Aber ich bin doch da! Warum also über irgendwelche Typen labern, wenn doch das gute so nah ist?!“ Mensch, konnte der denn nicht einmal ernst sein? Weiterzubohren hatte wohl keinen Sinn.
Lukas fuhr ungefragt fort: „Der hat wohl hier alles aufgegeben und will in die Schweiz gehen…!“ Julia merkte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. Es war eine Mischung aus aufkommender Wut, Tränen und Leere, die allesamt Anspruch auf Besitznahme von Julias Gemütszustand anmeldeten. „Aha, Schweiz“, sie kämpfte um ihre Fassung und merkte, dass ihre Stimme zu kippen drohte.
„Hast du mal eine Zigarette?“ Lukas hielt inne. „Julia. Bist du das? Du willst eine Zigarette? Ich glaub´s nicht. Unsere WGGouvernante mit Hang zur militanten Anti-Rauch-Bewegung in Wohnformen jeder Art will eine Kippe!!??“ Jetzt war Lukas hellwach! Er hielt ihr die Schachtel aufgeregt vor die Nase, bereit, an diesem historischen Moment teilzuhaben. Das Feuer brachte das Ende der Zigarette zum Glimmen und der erste Zug entlockte ein leises Knistern. Sofort stockte ihr der Atem. Ihre Kehle war noch immer wie zugeschnürt und der Qualm reizte sie so sehr, dass sie drauflos hustete. „Ach Mädchen, was is´n los mit dir?“ Jetzt war Lukas neugierig. Da war doch was im Busch. Er beugte sich wissbegierig über den Tisch und stellte alle Antennen auf Empfang. „Na los, erzähl´s dem Onkel Lukas!“ Julia musste lachen. Irgendwie hatte sie Lust, alles zu erzählen. Endlich mal raus damit. Selbst wenn es Lukas ist. Hauptsache diese Last nicht mehr mit sich herumschleppen. „Ich will nicht mehr so weiterleben wie bisher“, stellte Julia in den Raum. „Ich habe keinen Bock mehr auf so ein Spießerdasein und diese Scheinbeziehung mit einem Halbtoten!“ Jetzt war Julia in Fahrt. „Ich will lachen, mit dir Bier trinken und ich will leben! Ich will Sex machen wie eine 27-Jährige und nicht wie eine Stützstrumpf tragende Mittsiebzigerin!“ Lukas hielt sich seinen Bauch und lachte wie ein kleines Kind. Die Füße trommelten auf den Boden und Tränen standen in seinen Augen. Den schon hochroten Kopf auf Julia richtend und noch mal von einem Lachkrampf geschüttelt, stieß er hervor: „Hey kein Problem. Kann sofort losgehen! Wozu sind denn Freunde da!“ Jetzt drohte der Stuhl unter dem Wippen dieses nie erwachsen gewordenen Jungens in alle Stücke zu zerfallen. „Julia! Ich liebe dich dafür!“ Lukas war damit beschäftigt, seinen Atem wieder auf Normalfrequenz zu bringen. Irgendwie konnte Julia nicht so richtig mitlachen und das ließ die Neugier wieder Besitz von Lukas ergreifen.
„Sorry, Julia! Das kam jetzt so schön und unerwartet aus dir heraus – ich könnte mir einpullern!“ Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute so ernst wie möglich zu Julia. „Los komm. Jetzt mal ernsthaft. Hast du Probleme mit Steve? Was ist los? Ihr seid doch für alle das Traumpaar schlechthin. Wie oft weisen mich meine Eltern auf diese Musterbeziehung hin und mahnen mich, doch endlich erwachsen zu werden.“
Da waren sie schon wieder. Diese Erwartungen. Dieser Druck von außen. Man musste dem Bild entsprechen, welches man selbst von sich über Jahre gemalt hatte. Das Bild war voller Farbe und es war kein Platz mehr für einen weiteren Pinselstrich. Es hieß nun entweder das Bild vor Einflüssen von außen zu schützen oder das Blatt zu wenden, um eine neue Seite mit dem ersten Farbstrich zu beginnen. „Ach Lukas. Was ist denn eine perfekte Beziehung? Das, was es zu sein scheint oder das, was man selber dabei fühlt?“ Das war jetzt aber schwere Kost. Lukas nahm sich noch ein Bier. Er musste jetzt ganz stark sein, denn es ging hier um mehr als nur ein paar coole Sprüche. Julia fuhr fort. Sie erzählte es mehr sich selbst als dem großen Tollpatsch, der ihr gegenüber saß.
„Wer fragt denn, wie es einem wirklich geht? Will das denn jemand wissen? Ist man nicht eigentlich total überfordert, wenn man einen Bekannten beiläufig im Supermarkt trifft und fragt ‚Na wie geht’s‘ und der dann antwortet ‚Also eigentlich nicht so gut. Du glaubst nicht was meiner Schwiegermutter gestern passiert ist. Und auch mein Wellensittich verliert zurzeit Federn. Und mein Stuhlgang ist derzeit so unregelmäßig…!‘ Wen interessiert das? Niemanden.“ Die schöne Julia und der smarte Steve. Ich kann das nicht mehr hören! Schön aussehen ist doch nicht alles! Ich will doch keine Familie aus dem Regal der unbegrenzten Möglichkeiten des Privatfernsehens. Das schlimmste ist, dass ich nicht mal selber weiß, was ich will. Ich spüre nur, dass ich das nicht will, was ich da im Moment habe. Dass es sich schrecklich anfühlt und jeder Tag dem Vortag so gleich ist. Es gibt keine Überraschungen mehr. Keine Glücksgefühle. Bin ich denn völlig blöd, dass ich solche Gefühle vermisse? Oder ist das Leben einfach so, dass man nur kurz diesen Zauber des Glücks mit einer solchen Wucht erfahren darf und der Rest des Lebens dann ein ‚Glücklich sein, mit dem was man hat‘ bedeutet? Ab wann ist es Respektlosigkeit vor der Gewohnheit und dem Alltag? Und ab wann ist es einfach nur das Innehalten auf dem Beschreiten einer Sackgasse? Kennst du sie, die Weggabelungen des Lebens und die vergebliche Suche nach dem Zurück auf den richtigen Pfad seines persönlichen Glücks? Woran soll man denn diesen scheiß Weg erkennen!?“
Lukas merkte, wie er Schwierigkeiten hatte, den Worten zu folgen und wie seine Gedanken abglitten. ‚Jetzt bloß keine Müdigkeit zeigen! Aber wie komme ich hier am schnellsten aus der Küche raus. Hat die einen Roman verschluckt? Was nimmt die für Zeug?‘
„Da hast du recht!“, erwiderte er so schnell er konnte. „Man muss einfach seinem Herzen folgen!“ Jetzt war er stolz auf sich und seine spontane, fast schon intelligent klingende Antwort. Das musste doch gesessen haben! Vielleicht war er ja doch ein ziemlicher Frauenversteher, auch wenn das die Frauen bisher noch nicht so erkannt haben. Angespornt von seinem unerwarteten Erfolgserlebnis holte er zu einer weiteren Floskel aus: „Wenn ich irgendwas für dich tun kann oder du mal eine Schulter zum Anlehnen brauchst, lass es mich nur wissen. Ich bin da, hörst du?“ Innerlich klatschte er sich nun selber ab. Es war eine Punktlandung. Wo hatte er nur diese Sätze aufgeschnappt. Vielleicht ergab sich auch in nächster Zukunft eine Trostrunde mit Julia. Lukas nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle…
Julia betrachtete Lukas und dachte: ‚Hoffentlich hält der dicht. Eigentlich gar nicht so ein Blödian wie er immer tut. Und wenn er sich mal die Haare schneiden lassen würde, dann wäre das auch ein ziemlich gut aussehender Mann. Wer hätte gedacht, dass Lukas so einfühlsam sein kann.‘ „Ich bin froh dich zu kennen und ich liebe meine WGJungs hier!“ Euphorisch warf sie Lukas einen Handkuss zu.
‚Schweiz. Dann soll er doch! Was mische ich mich denn auf einmal in sein Leben ein? Ich war es doch, die ihn verführt hat.‘ Julias Gedanken waren wieder bei Thomas. Es ging ihr etwas besser und klare Gedanken erfüllten ihren Kopf. „Na ihr zwei?,“ Steve stand in der Tür. „Da muss ich mir wohl mein Bier selber holen, stimmt´s, Schatz?“ Er küsste im Vorübergehen ihren Kopf und begab sich an den Kühlschrank. „Prost!“ Etwas verloren stand er nun vor dem Tisch. Wie lange wird er schon in der Tür gestanden haben? Julia musterte ihn genau. Da war keine unübliche Regung. Er hatte wohl nichts mitbekommen. Schnell sagte sie: „Na dann mal ab ins Bett!“ Nur schnell raus hier aus der Küche bevor es zum Aufeinandertreffen mit Thomas kam. Steve gab ihr einen Klaps auf den Po und schlenderte ihr betont lässig hinterher. „Hach, welch ein herrlicher Anblick!“, hörte sie ihn sagen. Kaum war die Tür zu ihrem Zimmer, nach scheinbar unzähligen und nie enden wollenden Metern durch den Flur, geschlossen, drückte Steve seine Verlobte von innen dagegen. Sein biergetränkter Atem stieß ein „Ich will dich!“ hervor und er griff ihr fordernd in den Schritt während er sie mit wilden Küssen übersäte. Mit der anderen Hand versuchte er ungeschickt ihre Brüste aus der Umklammerung des BHs zu lösen. Er wollte sie sehen. Es waren seine Brüste. Und er wollte Sex.
Julia spürte, wie ihr die Situation unangenehm war. „Hör auf damit!“, fuhr sie ihn an. „Ich will nicht!“ Steve reagierte nicht. Wie im Rausch und im Glauben, Julia ziere sich nur anfangs, setzte er seine ungebetenen Liebkosungen fort. Mit festem Griff drückte er Julias Hand auf seine Erektion. „Du kotzt mich an!“, sie drückte so fest sie konnte zu und sah in sein schmerzverzerrtes Gesicht. „Lass mich in Ruhe!“, stieß sie hervor, öffnete die Zimmertür und rannte ins Bad. Sie spürte die Abscheu gegen diesen Menschen. „Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Julia sank auf den kalten Fliesenboden und weinte hemmungslos. Es waren angestaute Gefühle die sich in Selbstmitleid entluden. Sicher war ihr Verhalten unverhältnismäßig, doch sie packte in diese Situation all ihre Wut, all ihre Verzweiflung und gab sich nun beiden dankbar hin. Kaltes Zittern ließ ihren ganzen Körper vibrieren. Keine Decke dieser Welt hätte es in diesem Moment vermocht, ihr Wärme zu geben…
Steve stand wie versteinert da. Noch immer spürte er den Schmerz an seinem Glied, doch viel mehr tat es weh zu merken, wie fremd sie sich geworden waren. Bisher wollte er es einfach nicht wahrhaben, aber dieses Ereignis öffnete ihm abrupt die Augen. Er war hier unerwünscht. Seine eigene Freundin wies ihn ab. Er sah noch immer ihre Augen. Scheinbar voller Ekel und Hass hatten sie ihn wie ein Messer durchbohrt. So hatte er Julia noch niemals erlebt.
Er schnappte seine Jacke. Keinen Augenblick wollte er mehr hier sein. Steve knallte die Wohnungstür hinter sich zu. Nur weg von hier! Irgendwo hin. Was hatte er ihr getan? Warum verhält sie sich so? War nicht bisher immer alles so harmonisch verlaufen? Er konnte sich das nicht erklären. Er trat auf die halbdunkle Straße und blickte entlang der Häuserzeilen auf die sich in den Regenpfützen brechenden Lichter der Abendlaternen. Ein stumpfer Schmerz steckte in seinem Herzen. Wut mischte sich in seine Gedanken. Er wollte schreien, Scheiben einschlagen, Autos demolieren… irgendwas, nur raus mit diesem Unverständnis, das ihm gerade den Atem nahm. Er lief ohne ein Ziel die Straße entlang und spürte, wie er mit den Tränen rang. Ohnmächtig schaltete sich die Außenwelt in seiner Wahrnehmung ab. Dem unerträglichen Gefühl der Ablehnung davoneilend, lief er los. Es regnete wieder und das Wasser mischte sich mit seinen Tränen, die er nicht mehr beherrschte. Er rannte und keuchte die Anstrengung seines Schmerzes in die Nacht. Bis zum Park, wo der Weg anstieg. Hier hielt er inne. Er konnte nicht mehr. Schwer zu sagen, wie lange er gerannt war, aber seine Beine waren müde. Er setzte sich auf die Parkbank, die einladend zu seiner Rechten stand. Sofort drang kühle Nässe durch seine Hosen. Zuerst kurz irritiert, nahm er nun den feuchten Stoff gerne in Kauf. Es sollte jetzt so sein und passte zu seinem Gemütszustand. Ihm war jetzt alles egal.
„Kippe?“ Ein Duft von Fusel und Zigarettenqualm drang ihm in die Nase. Ein mächtig zerlumpter Typ bot ihm mit regungsloser Miene seine Zigaretten an. Dankbar griff Steve zu, während er wortlos nickte. Beim ersten Zug schloss er die Augen. Das tat jetzt gut. „Liebeskummer?“ Der Fremde ließ nicht locker. Sicherlich suchte er einen Gesprächspartner für den Abend. Steve nickte ein weiteres Mal. Wissend nickte der Alte und nahm ungefragt Platz. „Mein Junge. Kein Weib dieser Welt ist ein graues Haar wert!“ Mit flinkem Griff zog er seine Mütze vom Kopf und wies auf sein weißes Haar.
„Und die sind alle von ein und derselben!“ Ein tiefer Seufzer entglitt ihm. „Ich heiße übrigens Bernd. Wie das Brot.“ Ein röchelndes Lachen ließ seine etwa noch zehn verbliebenen Zähne zum Vorschein kommen.
„Den Nachnamen hab ich vergessen.“ Die Flamme seines Feuerzeuges entzündete den nächsten Glimmstengel und kurz war es ganz still. „Und du? Wie heißt du?“, wollte er nun wissen. „Steve.“ Eigentlich hatte Steve überhaupt keine Lust, mit einem dahergelaufenen Penner zu reden. ‚Der soll die Flocke machen. Wo kam der eigentlich so plötzlich her? Obwohl, die Schachtel Zigaretten könnte er schon dalassen!‘
„Steve?“ wiederholte dieser Bernd. „Kommst wohl nicht von hier? Oder bist du ein Mitbringsel aus dem Urlaub?“, wieder röchelte Bernd vergnügt vor sich hin und kam jetzt wohl erst richtig in Fahrt. „Mach dir nix draus. Hier sind wir Multikulti! Guck, ich trinke Whisky, der ist auch nicht von hier!“, stellte Bernd nun gebildet fest. „Whisky. Auf den ist Verlass. Der ist ehrlich, widerspricht nicht, wärmt und macht einen klaren Kopf!“ Bernd hielt die Flasche hin und seine Gesten forderten Steve auf, einen Schluck aus der Pulle zu nehmen. „Nein danke. Ist mir zu krass!“ Nun schaute Bernd etwas ungläubig und setzte nach: „Ich wusste ja nicht, dass Steve ein Mädchenname ist!“ Das Röcheln blieb diesmal aus. Bernd war nun doch verunsichert. An wen war er denn hier geraten. Eine wegwerfende Handbewegung sollte diesen Vorfall vergessen machen und Bernd trank einfach ein Schlückchen für Steve mit. In seine Whiskyflasche füllte er stets billigen Fusel. Sie war sein Souvenir, sein Partner zum festhalten, ausheulen und zuhören. Die edle Flasche hatte er auf einem seiner Streifzüge gefunden. Seither war die Braune seine treue Begleiterin und gab dem Inhalt ein wenig Würde…