Umschlagbild: Theresia Schrowange
Tuschezeichnungen im Buch: Manfred Kühn
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischen Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
2. Auflage, 2009
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Deutschland
ISBN 978-3-8448-2622-7
1. Auflage Lit-Verlag 2002
Alle Rechte bei den Herausgebern. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung unzulässig und strafbar.
Vorworte
ROSEMARIE TÜPKER
Musik bis ins hohe Alter
MICHAEL SCHMUTTE
Singen mit alten Menschen in Chorarbeit und Musiktherapie
BARBARA WALSLEBEN
Im fortgeschrittenen Alter ein Musikinstrument lernen
NATALIE HIPPEL; FRIEDEMANN LAABS
Improvisieren mit älteren Menschen? Schwierigkeiten und Möglichkeiten
HANS HERMANN WICKEL
Zur Organisation musikalischer Angebote in der Sozialen Arbeit mit älteren Menschen am Beispiel von Altenpflegeheimen
ROSEMARIE TÜPKER
Musiktherapeutische Konzepte mit alten Menschen
BARBARA DEHM-GAUWERKY
„Übergänge“ – Tod und Sterben in der Musiktherapie mit Dementen
MICHAEL HERRLICH
Erinnerungen an Herrn K. Beispiele musiktherapeutischer Arbeit mit behinderten SeniorInnen in einer Langzeiteinrichtung der Behindertenhilfe
MARKUS MÜNSTERTEICHER
Musiktherapie mit einer depressiven Patientin
MANUELA-CARMEN PRAUSE
Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musikerleben und die musiktherapeutische Arbeit
HANS HERMANN WICKEL
mit Beiträgen von DORIS BRANDT- ESCHENBACH LISELOTTE ELFERING SUSANNE NOLTENIUS Musik als Hilfe zur Alltagsbewältigung in lebensgeschichtlichen Krisen
Zu den Autorinnen und Autoren
Neuere Literatur zum Thema
Es hat sich viel getan seit der Veröffentlichung dieses Buches vor sieben Jahren: Musiktherapie mit alten Menschen ist längst kein „Studentenjob“ mehr, wie dies noch im Einführungsvortrag zur Tagung beklagt wurde, die der Erstauflage dieses Buches vorausgegangen war (s. S. 12ff). Es gibt musiktherapeutische Dienstleistungsunternehmen, die in verschiedenen Alteneinrichtungen qualifizierte Musiktherapie anbieten und die Kultur in angemessenen Formen in die Einrichtungen bringen, so z.B. das in Münster gegründete Unternehmen „Musik auf Rädern“ mit Zweigstellen im gesamten Bundesgebiet, die Gruppe „Grammophon – Mobile Musiktherapie“ in Magdeburg und viele freiberuflich tätige Musiktherapeuten, die auf Honorarbasis in Seniorenheimen arbeiten.
Das Chorangebot für alte Menschen hat sich ebenso deutlich erhöht wie das Interesse der InstrumentallehrerInnen an älteren Menschen, die ein Instrument neu erlernen oder wieder aufgreifen möchten. 2007 nahm sich der Deutsche Musikrat des Themas an mit einer Tagung unter dem Titel „Es ist nie zu spät – Musizieren 50+“. Auch wenn das Umdenken von einer leistungsorientierten zu einer am Menschen orientierten Musikerziehung nach wie vor schwer fällt, bildet sich doch ein wachsender Kreis von MusikpädagogInnen heraus, die durch eigene Erfahrungen mit älteren SchülerInnen merken, dass es hier nicht nur einer veränderten Methodik des Unterrichtens bedarf, sondern dass ein solches Umdenken auch Chancen für das eigene Leben mit der Musik birgt.
Die Zusammenarbeit zwischen Fachhochschule und Universität Münster setzte sich fort mit der Gründung der Kontaktstelle „Musik bis ins hohe Alter“ am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Westfälischen Wilhelms-Universität und der Weiterbildung Musikgeragogik am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster. Musikgeragogik versteht sich als eine neue Fachdisziplin im Schnittfeld von Musikpädagogik und Geragogik, die sich mit musikbezogenen Vermittlungs- und Aneignungsprozessen sowie musikalischer Bildung im Alter beschäftigt. Die einjährige berufsbegleitende Weiterbildung richtet sich an Fachkräfte aus den Bereichen Soziale Arbeit, Pflege und Musikpädagogik. Sie wurde 2006 mit dem Förderpreis des Deutschen Musikrates „Inventio“ und der Yamaha Stiftung für herausragende musikpädagogische Innovationen ausgezeichnet. Ähnliche Weiterbildungen konnten in Mainz an der Landeszentrale für Gesundheitsförderung Rheinland-Pfalz und in Rendsburg mit dem Landesverband der Musikschulen Schleswig-Holstein e.V. initiiert werden.
2005 luden wir deutsche und niederländische Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten zu einem Arbeitstreffen ein und gründeten das „Netzwerk Musiktherapie mit alten Menschen“, welches sich seither in eigenständiger Regie jährlich trifft und sich gegenseitig berät und unterstützt. Das Netzwerk findet bundesweit eine große Resonanz, denn trotz der finanziell eingeschränkten Mittel ist eine deutlich wachsende Nachfrage nach Musiktherapie innerhalb der Pflege festzustellen, und es werden allerorten kreative Mittel und Wege gefunden, die Musiktherapie in angemessener Weise zu bezahlen.
Angesichts dieser erfreulichen Entwicklungen schien uns einerseits eine Neuauflage gerechtfertigt, andererseits hätte eine Anpassung der einzelnen Artikel an die jeweils aktuellen Entwicklungen den Charakter des Buches allzu sehr verändert. Wir haben daher entschieden, die Artikel bis auf kleinere Korrekturen unverändert zu übernehmen und den Band lediglich durch eine Literaturliste zu ergänzen, die auf die wichtigsten neuen Bücher zu diesem Thema verweist, die nach der ersten Auflage dieses Buches erschienen sind. Sie enthält auch die entsprechenden Diplomarbeiten des Studiengangs Musiktherapie an der Universität Münster, soweit sie über den Bestellservice verfügbar sind, und Webadressen der hier erwähnten Neugründungen. Zusätzlich sind neuere thematisch bezogene Aufsätze und Buchbeiträge der einzelnen AutorInnen am Ende der jeweiligen Artikel aufgeführt.
Für das Umschlagbild danken wir Frau Theresia Schrowange, die es im Alter von 87 Jahren malte.
Rosemarie Tüpker, Hans Hermann Wickel
Mai 2009
Seit einigen Jahren bildet die Auseinandersetzung mit musiktherapeutischen Konzepten in der Arbeit mit alten Menschen einen neuen Schwerpunkt im Zusatzstudiengang Musiktherapie an der Universität Münster. Durch die Zusammenarbeit mit der sozialpädagogischen Ausbildung an der Fachhochschule Münster mündete dies in die gemeinsame Tagung „Musik bis ins hohe Alter. Fortführung – Neubeginn – Therapie“, die vom 11. – 12. Mai 2001 in Kooperation mit dem Förderverein Musiktherapie in den Räumen der Fachhochschule stattfand.
Die Arbeit mit älteren und alten Menschen rückt durch die gestiegene Lebenserwartung und die Veränderungen in der Altersstruktur unserer Gesellschaft immer stärker in das Zentrum therapeutischen wie auch sozialpädagogischen Engagements. Die Gerontologie entwickelt Modelle und Interventionsverfahren für ein erfolgreiches und produktives Altern, die Gerontagogik setzt auf die Entwicklungspotentiale im Alter und die praktische Altenarbeit zielt verstärkt auf Selbstbestimmung und den Erhalt, den Aufbau oder die Wiederherstellung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Zuständen ab. Der überholte defizitäre Ansatz ist abgelöst worden durch eine kompetenzorientierte Sicht des Alters und Alterns.
Damit kann auch die Musik im Rahmen der psychosozialen Betreuung alter Menschen eine wichtige Rolle spielen. Singen, aktives Musizieren und assoziations- und erinnerungsstimulierendes Musikhören helfen, das Selbstvertrauen, die Kommunikations- und die Kontaktfähigkeit zu stärken und damit einer Isolation und Vereinsamung entgegenzuwirken. Musiktherapie als ein neueres Psychotherapieverfahren, welches über das Gespräch hinaus andere Ausdrucksmittel zur Verfügung stellt, kann dazu beitragen, dass auch im hohen Alter die Möglichkeit einer Psychotherapie bestehen bleibt bzw. geschaffen wird. Der Kontakt mit Musik erhöht die Lebensqualität der alten Menschen, musikalische Arbeit ist in den Alten- und Pflegeheimen oder bei den Altennachmittagen hoch willkommen und führt unmittelbar zu einer verstärkten Kommunikationsbereitschaft. Bei der sonst überwiegend körperlichen Betreuung setzt die Begegnung mit Musik immer wieder bei den sozialen und emotionalen Bedürfnissen an.
Im beruflichen Handeln gibt es für MusiktherapeutInnen und SozialpädagogInnen eine Menge an Berührungspunkten und Möglichkeiten einer gewinnbringenden Zusammenarbeit. Schon deshalb lag es nahe, einmal diese beiden Ausbildungsbereiche in einer interdisziplinären Tagung zusammenzuführen. Die Vorträge boten Themen von der Psychologie des Alterns über musiktherapeutische und sozialpädagogische Fragen bis hin zu den Möglichkeiten des Musikunterrichts und persönlichen Berichten über Musik als alltägliche Selbstbehandlung auch im höheren Alter. In Workshops bestand außerdem die Möglichkeit des Erprobens freier Formen des Musizierens. Ein Büchertisch, die Möglichkeit zu einem Hörtest und verschiedene Posterpräsentationen ergänzten das Angebot, und am Abend gab es Live-Musik von „Alten“ und „Jungen“: dem Seniorenorchester Münster und der Band der Fachhochschule Münster. Als besonders förderlich für die Diskussionen und Gespräche erwies sich die Tatsache, dass die TeilnehmerInnen der Tagung aus verschiedenen Altersgruppen und unterschiedlichen Berufen kamen.
Die nun vorliegende Buchpublikation ist ein weiteres Ergebnis dieser Zusammenarbeit, wobei Tagungs- und Buchbeiträge nicht identisch sind: Zum einen konnten aus verschiedenen Gründen nicht alle Vorträge Eingang in diese Veröffentlichung finden, zum anderen wurden zwei Beiträge (Dehm-Gauwerky und Tüpker 2) ergänzt. Auch die übrigen Beiträge wurden für die schriftliche Fassung gründlich bearbeitet und erweitert. Wir haben allerdings auch versucht, mit diesem Band die Thematik „Musik bis ins hohe Alter“ in ihrer Breite zu erhalten, ohne dass wir damit den Anspruch erheben, die vielen hier interessierenden Bereiche abzudecken oder gar erschöpfend zu behandeln. Vielmehr sehen wir dies als einen Anfang an, der hoffentlich zu weiteren Ausdifferenzierungen anregt.
Danken möchten wir an dieser Stelle für die Zusammenarbeit während der Tagung sowohl den ReferentInnen, LeiterInnen der Workshops und den MusikerInnen als auch den vielen Studierenden und sonstigen HelferInnen, die bei der Vorbereitung dabei waren und die praktische Organisation übernommen haben. Der Buchhandlung Krüper danken wir für einen spannenden Büchertisch und der Hörgerätefirma auTec auch für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Bei der Finanzierung diese Buches halfen der Förderverein Musiktherapie an der Universität Münster e. V. und ein anonymer Spender, denen ebenfalls an dieser Stelle gedankt sei.
Persönlich möchte ich, Rosemarie Tüpker, die Arbeit an diesem Band meiner Mutter widmen, deren vorbildliches persönliches wie soziales Engagement mir nicht nur ein wichtiger Anstoß für die Beschäftigung mit der Thematik der Tagung sowie des Buches war, sondern auch Ermutigung dafür ist, auf die Verwandlungsfähigkeit im höheren Alter zu vertrauen.
In meinen Eltern sehe ich, Hans Hermann Wickel, ein Vorbild für die Kunst des „erfolgreichen Alterns“: die Kraft, die Hürden des Alters mit großer Gelassenheit und Zuversicht anzugehen, ist sicherlich ein Resultat liebevoller Pflege der Beziehungen zu ihren Mitmenschen, aber auch der Tätigkeiten wie Malen, Klavierspielen und Musikhören. Ich möchte ihnen meinen Anteil an diesem Projekt widmen.
Rosemarie Tüpker, Hans Hermann Wickel
Mai 2002
In diesem Buch werden viele Begegnungen mit Menschen geschildert. Zur Wahrung der Anonymität wurden dabei alle Namen geändert. |
Vier Impulse bildeten den Rahmen für die Vorträge und Arbeitsgruppen der Tagung. Sie sind auch zu verstehen als Standortbestimmung und persönliche Stellungnahme derer, die sich zur Entstehung der Tagung wie auch dieses Buches zusammengefunden haben.
Als ich mit 18 Jahren bei meinem Eintritt ins Kölner Konservatorium Gambe als Zweitinstrument wählen wollte, bekam ich die Auskunft, dafür sei ich zu alt. Leider war ich damals zu jung – und zu unerfahren – um zu widersprechen. Wenn heute jemand mit sechzig oder siebzig zu einer Musikschule kommt und Gambe lernen will, dann hoffe ich, dass man ihm nicht sagen wird, er oder sie sei dafür zu alt. Und falls man es tut, so kann ich nur empfehlen, es nicht zu glauben, sondern auf einem anderen Wege einen Lehrer zu suchen.
Die Musiktherapie hat uns als MusikerInnen hier einen neuen Begriff von Musik eröffnet: Sie hat uns gezeigt, oder uns daran erinnert, dass Musik für Menschen ist und dass sie etwas zwischen Menschen sein kann, eine zusätzliche Möglichkeit der Verständigung, des Miteinanders, des Beisammenseins, in der modernen Sprache: der menschlichen Kommunikation (vgl. Tüpker 2001). Das ist im Musikleben unserer Zeit in vielen Bereichen verloren gegangen. Die TeilnehmerInnen der Tagung konnten diese Art des Musizierens in den Workshops ausprobieren, auch wenn sie zuvor noch nie ein Instrument in der Hand hatten oder nie „mitsingen durften“ – eine Erfahrung, die doch erschreckend vielen Menschen aus der Schulzeit in Erinnerung ist.
Es ist nie zu spät ein Instrument zu lernen, wenn wir nicht den Leistungsgedanken in den Mittelpunkt der Musik stellen, sondern uns fragen, was die Musik einem Menschen geben kann, wobei sie ihm helfen, was sie ihm ermöglichen kann, wozu er sie braucht. Denn Musik ist für den, der sie macht, aber auch für den, der sie hört, sich mit ihr beschäftigt, eine Form der Selbstbehandlung im Alltag.
Mit Selbstbehandlung im Alltag ist psychologisch gemeint, dass wir alle ja uns im Alltag immer schon selbst behandeln – vor aller Therapie (vgl. Salber [1980] 2001, S. 17f). Behandlung ist ja zunächst nicht gleichzusetzen mit Therapie, sondern meint unser Handeln in der Welt, unseren Umgang mit ihr. Alltagsbehandlung meint die Art, wie wir uns auf die Welt einlassen und sie in uns einlassen: Wir behandeln uns, unsere Mitmenschen, aber auch unsere Möbel, unser Geschirr oder unseren Hund. Die Umgangssprache nutzt hier Begriffe, die auf durchaus interessante psychologische Zusammenhänge verweisen: So sprechen wir davon, dass manche Menschen ihr Werkzeug mit großer Sorgfalt behandeln, ihre Mitmenschen aber eher oberflächlich, manche pflegen ihre Beziehungen, andere ihre Möbel. Und umgekehrt behandelt unser Umgang mit den Dingen, den Mitmenschen und der Welt wiederum uns selbst, prägt uns, verwandelt uns, macht uns zu dem, was wir sind. Wir widmen uns einer Sache, beschäftigen uns mit ihr und ehe wir uns versehen, hat sie uns im Griff, raubt uns unsere Zeit oder schenkt uns Momente des Glücks oder der Zufriedenheit oder hat uns über etwas hinweggeholfen, was mit dieser Sache gar nichts zu tun hatte.
Über Formen der Selbstbehandlung mit Musik (auch) in lebensgeschichtlichen Krisen berichten in diesem Band Doris Brandt-Eschenbach, Lieselotte Elfering und Susanne Noltenius in Zusammenarbeit mit Hans Hermann Wickel (s. S. 204ff)
In der Vorbereitung der Tagung wie auch in den musiktherapeutischen Gruppen in der Klinik habe ich von vielen (älteren) Menschen gehört, dass sie immer schon die Sehnsucht hatten, selbst Musik zu spielen, zu lernen. Und dass dies eine alte und tiefe Sehnsucht ist. Doch oft war das Geld zu knapp, dann kam der Krieg, vielleicht die Flucht, der Aufbau, der Beruf, die Kinder …. Aber nun, nun ist dies vielleicht die Zeit, dieser Sehnsucht nachzugehen? Mit der Tagung sowie diesem Buch wollen wir ermutigen, dies zu tun, sich auf Musik einzulassen, auch aktiv, und nicht zu denken, nun sei es zu spät. Musik, gehörte wie selbst gespielte, kann – auf jedem „Niveau“ – dazu dienen die eigenen Stimmungen, Sehnsüchte, Wünsche und Sorgen zu behandeln. Natürlich, so heißt es an dieser Stelle oft, kann man kein Musiker mehr werden.
Dabei haben die meisten Menschen dann Bilder im Kopf von einem Menschen (Musiker) auf der Bühne, der mit seiner Musik die Gefühle derer, die da im Publikum sitzen, beeinflussen kann, der sie froh oder traurig stimmen, sie tief bis ins Innerste berühren kann. Und wenn wir uns nach der Musik sehnen, so sind dies oft auch solche Träume des Bewegens- und Bewirken-Könnens. (Etwas auf die männliche Seite verengt, aber auch auf den Punkt gebracht ist dies in dem Liedtext: „Man müsste Klavier spielen können, wer Klavier spielt hat Glück bei den Frau’n …“) Aber Musiker-Sein bedeutet auch noch etwas anderes, eher die umgekehrte Seite: nämlich sich bewegen lassen, sich verwandeln lassen. Wenn jemand täglich ein Instrument spielt, übt, wenn er dies vielleicht sogar mehrmals am Tag tut, dann macht das etwas mit ihm. Wir finden dies in den Karikaturen über Musiker, in denen der Flamencogitarrist ein Knäuel von Fingern hat, der Geiger zum Triller oder der Cellist zu einem Teil seines Cellos geworden ist: Musik „bildet“ – denjenigen, der sie macht um, bisweilen nicht nur in den Karikaturen bis ins Leibliche hinein. Musik machen, aber auch Musik hören, sich auf Musik einlassen, die zunächst fremd erscheint, sie sich vertraut zu machen, verwandelt den, der das tut, der sich darauf einlässt. In diesem Sinne möchte ich daran zweifeln, dass man im fortgeschrittenen Alter kein Musiker mehr werden könne.
„Musik bis ins hohe Alter“ als Motto meint die Ermutigung, sich immer wieder – ohne Alterbegrenzung – auf solche Verwandlungen durch Musik einzulassen und für sich in der Musik neuen Sinn zu entdecken.
Für diesen Band hat Barbara Walsleben aus instrumentalpädagogischer Sicht dargestellt, welche Aspekte beim Musikunterricht im fortgeschrittenen Alter zu berücksichtigen sind (S. 42ff) Die Darstellung Michael Schmuttes zum Singen im Alter berührt sowohl den Chorbereich, der vielleicht von den meisten älteren Menschen in der aktiven Musikausübung genutzt wird wie auch den Übergang zur Musiktherapie (S. 26ff). Auch die Ausführungen zur Improvisation von Natalie Hippel und Friedemann Laabs sind ebenso für den therapeutischen wie auch den Bereich der allgemeinen Musikausübung im hohen Alter zu verstehen (S. 57ff).
Mit diesem Impuls wenden wir uns an die Verantwortlichen der Altenheime, der Altenpflege und vor allem an diejenigen, die verantwortlich sind dafür, wie diese Gesellschaft mit alten Menschen und insbesondere mit schwer kranken, altersverwirrten, sozial isolierten alten Menschen umgeht. Damit natürlich auch an uns selbst als Teil unserer Gesellschaft in eben dieser Verantwortung.
Die Musiktherapie hat Methoden entwickelt, mit denen es möglich ist, mit Hilfe von Musik auch schwer kranken alten Menschen Erleben, Ausdruck und Kommunikation zu ermöglichen. Dazu findet sich Genaueres in einzelnen Beiträgen dieses Buches. (Wickel S. 76ff, Tüpker S. 93ff, Dehm-Gauwerky S.149ff, Herrlich S. 162ff)
Dass Musiktherapie mit alten Menschen in Deutschland aber dennoch ein Stiefkind ist, liegt daran, dass es bisher außerhalb von Kliniken, das heißt außerhalb des Bereichs der Gerontopsychiatrie, kaum Stellen für MusiktherapeutInnen gibt. Und auch dort betreut meist ein Musiktherapeut mehrere Stationen einer großen Psychiatrie und kommt vielleicht ein- oder zweimal in der Woche für ein oder zwei Stunden auf die „Altenstation“. In der ambulanten Pflege hat sich eine musiktherapeutische Arbeit fast überhaupt noch nicht etablieren können, weil sie in keinem der Sozial- und Gesundheitssysteme vorgesehen ist. (Das gleiche gilt auch für andere Formen wie Kunsttherapie etc.) Und in stationären Alteneinrichtungen (dem klassischen Altenheim wie auch in neueren Formen), finden musiktherapeutische Angebote fast ausschließlich als „Studentenjob“ oder in vergleichbaren „Beschäftigungsverhältnissen“ statt, die in Wirklichkeit keine sind. Das führt dazu, dass Erfahrung sich nicht etablieren und weiterentwickeln kann, da die von Studierenden begonnene Arbeit für sie selbst mit dem Examen und der Notwendigkeit, eine realistische Stelle suchen zu müssen, endet. Konkret heißt das für die betroffenen alten Menschen natürlich auch, dass therapeutische Kontakte immer wieder abgebrochen – und bestenfalls vom „nächsten Studenten“ weiter geführt werden.
Anfragen von Alteneinrichtungen nach musiktherapeutischen Angeboten, die ich in meiner Funktion als Studiengangsleiterin erhalte, bewegen sich ausschließlich auf diesem Niveau und häufig mit „Honorarangeboten“, die man gewerkschaftlich nur als Schwarzarbeiterlöhne bezeichnen könnte. Auch Räume und Instrumentarium sind eher selten vorhanden. Dass sich dennoch immer wieder Studierende für diese Arbeit finden, hat wirklich viel mit Engagement und Idealismus zu tun, was schön ist – einerseits. Zugleich zeigt diese Situation aber auch das zu geringe gesellschaftliche Interesse an den hier betroffenen hilfsbedürftigen alten Menschen. So lobenswert Idealismus oder Altruismus Einzelner sein mögen, das hier propagierte Recht auf Kultur hieße für die Betroffenen wie ihre Familien auch, nicht auf Barmherzigkeit angewiesen zu sein.
Musiktherapie mit alten Menschen darf kein Studentenjob bleiben. Es muss möglich sein, dass MusiktherapeutInnen langfristig und gezielt, d.h. auch indikationsspezifisch mit alten Menschen arbeiten können (s. auch Tüpker, S. 101f) Daneben müsste es selbstverständlich werden, dass Alteneinrichtungen – möglicherweise im Verbund – eine Kulturarbeit leisten die nicht dem Zufall überlassen bleibt, sondern die gewährleistet, dass die Teilhabe an der Kultur ebenso selbstverständlich wird wie eine ausreichende körperliche Ernährung und Pflege. Das schließt ehrenamtliche Kräfte nicht aus, sondern hier ist eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufsgruppe und den Ehrenamtlichen gefragt, wie auch Wickel dies in diesem Band darstellt (S. 76ff). Das meint übrigens natürlich nicht, dass alten Menschen Musik oder anderes „aufgezwungen“ werden darf. Auch in jüngeren Jahren geht nicht jeder ins Konzert und es ist wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Individualität im Alter nicht weniger wird. Kultur, wie sie hier gedacht ist, meint immer auch persönliche Wahl, auch eigener „Geschmack“, wie immer der sein mag, freie Teilhabe, Vielfalt und Selbstbestimmung.
Eng mit dem vorigen Gesichtspunkt hängt auch die gesamte Frage der Psychotherapie mit alten Menschen zusammen. Denn auch hier gibt es einen fachlich nicht länger zu vertretenden Bruch, durch den eine schwerwiegende Lücke in den psychotherapeutischen Hilfsangeboten ab einem gewissen Alter in unserem Gesundheitssystem entsteht.
Dazu möchte ich zunächst eine kleine Therapiegeschichte erzählen: Als ich vor einigen Jahren in der psychosomatischen Klinik Frau Hein aufgenommen hatte, fragte mein Chef gleich zu Beginn der Behandlung: „Was machen Sie denn nun mit der?“ „Sie kommt mit in die Gruppe und begleitend bekommt sie Einzelgespräche!“ war meine Antwort. Das entsprach genau dem, was für die meisten unserer PatientInnen üblich war. Amüsiertes Erstaunen bis Skepsis war die Reaktion, auch bei verschiedenen KollegInnen. Was war an Frau Hein so besonderes, dass das Übliche hier auf eine solch erstaunte bis kritisch-ironische Reaktion stieß? Eigentlich gar nichts, außer dass sie 76 Jahre alt war. Damit war sie zu dieser Zeit die erste Patientin höheren Alters in dieser Klinik. Das Durchschnittsalter derer, die aufgrund seelischer Erkrankungen in unsere Klinik kamen, lag rechnerisch um die 40 Jahre, wobei jeweils eher wenige sehr junge Patienten kamen und kaum solche, die über 60 waren. (Das lag an den Rahmenbedingungen der Zuweisung durch die BfA. Die sog. psychosomatischen „Kuren“ dienen offiziell der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.)
Die Reaktion in der Klinik spiegelte genau das wieder, was über Psychotherapie und ältere Menschen damals üblicherweise gedacht wurde, dass Psychotherapie ab einem gewissen Altern einfach nicht mehr geht, weil man „dafür“ irgendwann zu alt ist, sich nicht mehr verändern kann oder will, keine seelischen Wandlungen mehr möglich sind. Freud, der Vater aller Psychotherapie, meinte noch, bis 45 wäre Psychotherapie sinnvoll, später ging das hier angegebene Alter etwas rauf. Aber 76?
Frau Hein konnte überhaupt nur zu uns kommen, weil sie bei einer der wenigen Kassen versichert war, die uns – neben der BfA – PatientInnen schickte. Wie sie es genau geschafft hat, trotz ihres Alters zu uns zu kommen, weiß ich nicht. Zu mir kam sie, weil ich damals für die Kassenstation zuständig war und in dieser Woche „dran war“, neue PatientInnen aufzunehmen. Also alles Zufall. Auch ich war natürlich neugierig und gespannt, ob es möglich wäre, Psychotherapie mit einem Menschen zu machen, der älter ist als wir es gewohnt waren und wie es mir, ich war damals 34 Jahre alt, mit einer Patientin gehen würde, die ich innerlich der Generation zwischen meinen Eltern und Großeltern zuordnen würde. Bevor ich dann Frau Hein selbst kennen lernte, hörte ich schon von den Schwestern, dass sie „total süß“, eine „richtige Oma“ sei, aber auch Schwierigkeiten verspreche, einen Gehstock mithabe, sich aber weigere, ihn zu benutzen, worüber es schon eine wohl heftige Auseinandersetzung zwischen ihr und dem Chefarzt, der übrigens im Rollstuhl saß und der sie kurz begrüßt hatte, gegeben hatte.
In der ersten Begegnung traf ich dann eine wütende ältere Dame, die gar nicht süß war, sondern offen und grimmig mit Suizid drohte. Anstelle irgendwelcher „süße-Oma-Assoziationen“ verlangte das nun sofort und unmittelbar etwas ganz anderes von mir, nämlich meine ganz normale, aber auch meine ganze Professionalität. Vor allem auch, weil ich sie für ernsthaft suizidgefährdet hielt und die hinter ihrer Aggressivität verborgene Depression und Verzweiflung spüren konnte. Vielleicht war es gerade die Heftigkeit und das Tempo dieser ersten Begegnung, was mir half erst einmal jenseits aller Vorurteile zu reagieren: Ich „kämpfte“ mit ihr – um ihr Leben, ihr Im-Leben-Bleiben – auch nicht anders als ich dies sonst eher von sehr jungen suizidalen PatientInnen gewohnt war. Sie verließ mich nach diesem Gespräch eher noch wütender, aber ihre Wut war nicht mehr diffus und gegen sich selbst gerichtet, sondern richtete sich nun auf einen konkreten anderen Menschen, nämlich auf mich. So ging sie zornig, aber mit dem persönlichen Versprechen „in die Hand“, sich nicht umzubringen, sondern sich zu melden, wenn diese Gefühle, wieder stärker würden.
Das vielleicht auffälligste an der weiteren Behandlung war, dass sie sich ziemlich wenig von anderen Behandlungen unterschied. Zumindest konnte ich einen generellen Unterschied aufgrund des fortgeschrittenen Alters nicht ausmachen. Frau Hein nahm an der zu diesem Zeitpunkt beginnenden neuen Gruppe teil, die zweimal in der Woche bei mir Musiktherapie hatte und – immer im Wechsel – zweimal Kunsttherapie. Mehrmals in der Woche sah ich Frau Hein ferner bei der zweimal wöchentlichen Visite, beim Stationstreffen, zu einem Einzelgespräch einmal in der Woche und wenn sie es drüber hinaus wünschte. An der Gruppe nahmen sieben PatientInnen teil, wobei die meisten von Frau Hein aus gesehen eine Generation jünger waren, eine sehr junge Patientin ihre Enkelin hätte sein können.
Zu Beginn meinte übrigens auch Frau Hein, dass sie nicht in die Gruppe passe. Im Grunde hatte sie die gleichen Vorurteile umgekehrt: Die seien alle zu jung und könnten ihre Probleme sowieso nicht verstehen. Im Laufe der zur Verfügung stehenden Zeit entstand aber dann eine sehr intensive Gruppenarbeit und es zeigte sich, dass Frau Hein auch mit dem Gebrauch der beiden Medien, nämlich der freien musikalischen Improvisation in der Musiktherapie und dem Malen und Plastizieren nicht mehr und nicht weniger Schwierigkeiten hatte als alle anderen auch. Eindrucksvoll für alle in der Gruppe war es, dass gerade die Jüngste und die Älteste im Laufe der Zeit das Gefühl bekamen, einander aufgrund verwandter Kindheitserfahrungen zu verstehen. Über einen Altersunterschied von 54 Jahren hinweg hatten sie den Eindruck, gleiche Gefühle grenzenloser Einsamkeit als Kind erlebt zu haben, sich ausgeschlossen zu fühlen, nutzlos und nicht gewollt.
Einsamkeit, sich ausgeschlossen fühlen, nutzlos, nicht gewollt und zusätzlich nicht in der Lage, durch eigene Aktivität etwas daran ändern zu können. Das ist eine Empfindungsgestalt, wie wir sie durchaus als eine soziale Situation kennen, die im Alter entstehen kann. Das ist schlimm genug. Noch einmal schlimmer aber ist es, wenn eine solche Empfindungsgestalt reaktiviert wird, wenn sie also als eine frühkindliche Konstellation den Lebensanfang geprägt hat und nun noch einmal auftaucht. Dann steigern sich die alten Empfindungen und neuen Erlebnisse wechselseitig und es besteht die Neigung, dass das Unbewusste alle Erfahrungen, die nur entfernt mit dieser Gestalt zu tun haben, in dieser alten Form erlebt, in gewissem Sinne auch in diese Form bringt. Bei Frau Hein war dies so: Reale Situationen der Einsamkeit im Alter warfen sie in die bodenlose Einsamkeit ihrer Kindheit zurück.
Mit dem Ende dieser Kindheit, genauer mit der Begegnung mit ihrem Mann, war für sie eine traurige Zeit überwunden und beendet. Sie erlebte eine lange glückliche Zeit der Gemeinsamkeit. Die Kindheit war in der Ehe nicht vergessen, eher aufgehoben. Sie erzählte, dass sie mit ihrem Mann oft stundenlang über ihre Kindheit gesprochen habe. Mit dem Tod ihres Mann vor anderthalb Jahren war sie – psychologisch gesehen – wie in einer üblen, nicht gewollten Zeitreise, zurückgerutscht in die Empfindungswelt ihrer Kindheit. Und dies in aller Heftigkeit und ohne Möglichkeit der distanzierenden Reflexion. Damit meine ich, dass sie nicht das Gefühl hatte, jetzt erlebe ich etwas, das fühlt sich an wie in meiner Kindheit, sondern sie erlebte dieselben kindlichen Gefühle als etwas Aktuelles, als heutige Situation. (Das ist es, was wir psychoanalytisch mit den Begriffen der Übertragung bzw. des Wiederholungszwanges bezeichnen.)
Wie diese Kindheit aussah, lässt sich mit einer Szene ins Bild rücken, die Frau Hein einmal erzählte: Sie war Einzelkind und bis auf Schule und ähnliche Pflichtveranstaltungen war ihr kaum ein Kontakt zu anderen Kindern erlaubt. Sonntags nachmittags gingen die Eltern aus und sie blieb alleine zurück. Und das auch noch mit einer an die elterliche Herrschaft bindenden Aufgabe: Sie musste die ganze Zeit häkeln und bei Rückkehr wurde die Anzahl der Reihen gezählt. Psychologisch spürt man hier eine Art diktatorischen Bann: Ihr wird sowohl der Kontakt als auch die Entwicklung eines Eigenen verwehrt. Sie wird verlassen, darf sich aber zugleich nicht entfernen, nicht trennen. In ihrer Erzählung in der Gruppe führt sie aus, wie sie da sitzt, mit verkrampften Fingern häkelnd und sich die Nase plattdrückt an der immer mehr von ihrem Atem beschlagenen Fensterscheibe und weinend zusieht, wie die anderen Kinder da draußen, wo das Leben ist, spielen.
Die psychotherapeutische Aufgabe bestand hier darin, bewusst und erlebbar werden zu lassen, was am heutigen Erleben aus dieser schrecklichen und einsamen Kindheit stammt und wie die Selbstwerdung damit behindert wurde. Damit versuchen wir in der Psychotherapie das alte Leiden vom neuen zu trennen, es als innewohnende Vergangenheit zu erkennen und aus der Gegenwart zu lösen. Neu war für mich daran die Erkenntnis, dass gerade auch bestimmte Erlebnisse des höheren Alters geeignet sein können, frühkindliche Schädigungen und Mängel wieder zu beleben, die in den besseren Zeiten dazwischen ruhen, nicht ins Erleben dringen. Wenn man das Seelische und seine Nöte so ansieht, wie es hier angedeutet wurde, dann gibt es keinen Grund, weshalb das in irgendeinem Alter oder ab irgendeinem Alter anders sein sollte. Auch nicht dafür, dass das gemeinsame einfühlende Verstehen solcher Prozesse etwas ist, was hilft.
Inzwischen ist die Psychotherapie mit älteren Menschen1 stärker zu einem Thema der Fachdiskussion geworden (vgl. Radebold 1983, 1992, 1997, Radebold, Schweizer 1996, 1997; Heuft 1998), auch wenn die Erfahrungen immer noch in den Anfängen stecken. Auch ist das Gesundheitssystem sicherlich noch nicht auf diese Veränderungen eingestellt. Es stellt sich die Frage, welche Aussichten ein normaler Antrag auf Psychotherapie hat, wenn der Patient über 60, 70 oder 80 Jahre ist.
Die Praxis in den Kliniken hat inzwischen gezeigt, dass Musiktherapie mit ihren über das Wort hinaus erweiterten Möglichkeiten eine besonders geeignete Form der Psychotherapie auch mit alten Menschen sein kann, wie Markus Münsterteicher dies an einem weiteren Fallbeispiel darlegt (S. 174ff).
Damit diese Eignung der Musiktherapie sich aber auch mit den alten Menschen realisiert, die dement sind, einen Schlaganfall erlitten haben, von anderen schweren Erkrankungen des Alters betroffen sind oder am Ende ihres Lebens stehen, gilt es als vierten Gedanken eine Forderung an die Musiktherapie zu stellen.
Mit der Tagung und diesem Buch möchten wir auch Studierende der Musiktherapie wie KollegInnen für den Bereich der Altenarbeit interessieren und zur methodischen Reflexion anregen.
Wir möchten aufzeigen, dass wir bei Musiktherapie mit alten Menschen nicht nur an das Singen vertrauter Lieder denken dürfen und nicht dem Phantasma verfallen sollten, dass die Arbeit mit Menschen ab einem bestimmten Alter immer ganz anders zu sein hat als wir es sonst kennen.
Während der Planung der Tagung wurde deutlich, welch vielfältige Themen in der Musiktherapie mit alten Menschen berührt sind, so z.B. die Frage der Hörschädigungen im Alter (s. Prause S. 183ff), die in der musiktherapeutischen Arbeit zu berücksichtigen sind oder die Arbeit mit aphasischen PatientInnen (vgl. Schmutte S. 33 u. Tüpker S. 116), Fragen der Arbeit mit alten geistig behinderten Menschen (s. Herrlich S. 162ff) oder mit alten Menschen, die aus einem anderen Kulturkreis stammen. Nicht alle Themen konnten Eingang in die Tagung bzw. in dieses Buch finden. Wichtig schien es uns auch, einerseits zu verdeutlichen, was Musiktherapie im engeren Sinne sein kann, aber ebenso die Übergangsbereiche darzustellen.
Mit meinem eigenen zusätzlichen Artikel für dieses Buch habe ich versucht, diesen vierten Impuls nun detaillierter in der Konzeptentwicklung der Musiktherapie aufzuzeigen (Tüpker, S. 93ff) Mit der folgenden Fallszene aus der Arbeit mit einer dementen Patientin wurde diese Einführung in die Tagung abgeschlossen.
Sie stellt dar, wie es möglich ist, Musiktherapie auch im Sinne einer Krisenintervention einzusetzen. Auch wenn ich die Arbeit von Susanne Schneberger-Nowitzky, der dieses Beispiel entnommen ist, im Folgenden (S. 120) noch ausführlicher darstellen werde, soll dem Leser, der Leserin diese eindrucksvolle Fallvignette an dieser Stelle nicht vorenthalten werden. Wie so oft wirkt das Geschehen einer solchen gelungenen Kommunikation ebenso einfach wie gekonnt. (Dargestellt nach Schneberger-Nowitzky 2001, S. 50ff)
Frau T. leidet an Alzheimer Demenz. Sie wird von der Autorin als körperlich noch recht mobil, aber zeitlich, örtlich und situativ völlig desorientiert beschrieben. Sie spricht fast nicht mehr. „Auffällig ist, dass Frau T. sehr häufig, mit durchdringender, hoher Stimme laut und langgezogen ‚aahhh’ schreit, was Mitbewohner der Station sowie auch das Pflegepersonal immer wieder an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen lässt. Es ist des öfteren auf Grund ihres unablässigen Schreiens sogar zu physischen Angriffen von Seiten verschiedener Mitbewohner auf Frau T. gekommen.“ Es wird vereinbart in einer solchen Situation den Versuch einer musiktherapeutischen Intervention zu unternehmen.
„Eine Mitarbeiterin führte Fr. T., die seit ca. 20 Min. unablässig geschrieen, und so wieder einmal den Zorn vieler Mitbewohner auf sich gezogen hatte, in ihr Zimmer“. Die Musiktherapeutin betritt das Zimmer, Frau T. schreit in diesem Moment nicht mehr, sitzt in ihrem Sessel, sieht traurig und verängstigt aus.
Nach Aussagen des Pflegepersonals war Frau T. im weiteren Verlauf des Vormittags viel entspannter und schrie nicht mehr.“
Heuft, Gereon (1998): Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie. In: PPmP Psychotherapie, Psychosomatik, med. Psychologie 48, Thieme Verlag, Stuttgart, 232-242
Radebold, Hartmut (1983): Gruppenpsychotherapie im Alter. Erfahrungen mit unterschiedlichen Ansätzen, einschließlich der therapeutischen Gruppenarbeit mit alten Menschen und ihren Angehörigen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Radebold, Hartmut (1992): Psychodynamik und Psychotherapie Älterer. Springer Verlag, Berlin
Radebold, Hartmut (1997): Die therapeutische Beziehung zwischen Jüngeren und Älteren. In: Musiktherapeutische Umschau 18, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 114-120
Radebold, Hartmut; Schweizer, Ruth (1996): Der mühselige Aufbruch – über Psychoanalyse im Alter. Geist und Psyche S. Fischer, Frankfurt a. M.
Salber, Wilhelm [1980] (2001): Konstruktion psychologischer Behandlung. Bouvier, Bonn
Schneberger-Nowitzky, Susanne (2001): Die Anwendbarkeit von Musiktherapie in Abhängigkeit vom Fortschreiten dementieller Erkrankungen. Diplomarbeit Studiengang Musiktherapie Universität Münster
Tüpker, Rosemarie (2001): Zum Musikbegriff der musiktherapeutischen Improvisation. In: Einblicke. Beiträge zur Musiktherapie ISSN 1615-0686; Berlin. Hrsg. BVM c/o Hanna Schirmer, Weinmeisterhornweg 105, 13593 Berlin. Heft 12, 44-69
Neuere Veröffentlichungen der Autorin zum Thema:
mit Barbara Keller: Musiktherapie mit alten Menschen. In: Lexikon Musiktherapie, hg. von Hans-Helmut Decker-Voigt; Eckhard Weymann. Hogrefe, Göttingen 2009
Musik und Altern. In: Psychotherapie im Alter. Themenheft Beziehungswelten, hg. von Astrid Riehl-Emde. Psychosozial, Gießen 2009
1 Weil es in manchen Zusammenhängen fast schon zum Fachterminus geworden ist, benutze ich, wie hier, bisweilen auch den Terminus „ältere Menschen“. Dass ich demgegenüber häufiger unverblümt von „alten Menschen“ spreche, wird hoffentlich nicht als unhöflich empfunden. Es scheint mir aber ein eher unwirksames Mittel (und sprachlich ein Ideologem) gegen ein negatives gesellschaftliches Bild des Alters zu sein, wenn man lediglich das Wort „alt“ durch neu geschaffene Begriffe ersetzt (wie vielleicht auch Senioren?). Bezüglich des Begriffes der „Älteren“ zeigt sich dies m. E. besonders frappierend, weil hier das, was sprachlich eine Steigerung ist, vorgibt eine Abschwächung zu sein: So ist eine ältere Frau jünger als eine alte Frau? Oder erklärt sich der Begriff „die Älteren“ als Abweichung von der Durchschnittsnorm, also: älter als üblich, älter als vorgesehen, älter als wir selbst, die wir „normal alt“ sind? – Das macht es auch nicht besser.
In meiner 20 Jahre währenden Tätigkeit als Chorleiter arbeitete ich die längste Zeit davon als hauptamtlicher Kirchenmusiker mit den unterschiedlichsten Alters- und Leistungsgruppen: Kindern, jungen Erwachsenen, Chorleitungs-Studenten, einem Oratorienchor, einem Kammerchor, Kirchenchören, ein Jahr mit einem ‚Senioren-Kirchenchor‘1, über acht Jahre mit einem Senioren-Singkreis. Derzeit studiere ich Musiktherapie an der Universität Münster und habe eine Stelle als Kirchenmusiker inne.
Dieser Beitrag will einige Aspekte des Singens mit alten Menschen beleuchten: die Bedeutung von Gesang, den Einsatz und die Veränderung der Stimme im Alter und was daraus für den Leiter erwächst. Auch soll überlegt werden, inwiefern das chorische Singen mit alten Menschen andere Qualitäten des Leiters2 erfordert als das Singen mit anderen Alters- und Leistungsgruppen.
‚Alt‘ meint in unserem Zusammenhang ein Lebensalter von etwa 70 Jahren und älter, was dem Durchschnittsalter der von mir geleiteten Seniorenchor-Gruppen entspricht.
Manches Gesagte gilt für das Singen in der Musiktherapie, manches für den Seniorenchor-Bereich, manches für beide Bereiche – eine Trennung ist oft nicht zu ziehen, was im Folgenden deutlich wird. Der Leser mag hier selber entscheiden.
Einige Überlegungen vorweg:
Sprechen wir von alten Menschen, sprechen wir auch immer über ihre Vergangenheit, über ihr So-geworden-Sein. Im Folgenden möchte ich Erfahrungen von heute alten Menschen mit dem Singen vorstellen, um die Bedeutung des Singens für ihre Biographie transparenter zu machen.
Wie sehr das Singen den früheren Alltag vieler heute alter Menschen mitgeprägt hat, mögen folgende Erlebnisberichte veranschaulichen:
„Ich hatte nur am Sonntagnachmittag ein paar Stunden frei. Das schönste Sonntagserlebnis war, wenn ich mit den Nachbarsmädchen singend durch das Dorf gehen konnte. Oft gingen wir auch auf den Berg, welcher gleich ober dem Dorf steil anstieg, und sangen unsere Lieder auf einem Stein sitzend in das Dorf hinunter. Dies hörten auch manche Burschen im Dorf, und waren bald in unserer Nähe, aber sie sangen nie mit. Später daheim wurde ich von Vater sehr beschimpft. Er … meinte, ich wolle nur einen Kranz Buben um mich haben. Dies war ein arger Dämpfer, aber das nächste Mal sangen wir wieder.“ (Anna Rubin bei Muthesius 1999, S. →)