Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8448-3657-8
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Gerti für die Gestaltung des Umschlages und bei Felix für die Korrektur und die guten Hinweise zur Überarbeitung des Buches.
Vielen Dank Euch beiden!
Ärzte hatten in aller Regel während der gesamten Schulzeit die besten Schulnoten ihrer Jahrgänge. Das beweist ihre exzellente Lernfähigkeit sowie ihre Eigenschaft das Gelernte auch in Stresssituationen zumindest theoretisch abrufen zu können.
Leider ist die Fähigkeit sehr gute schulische Leistungen zu erzielen das einzige Auswahlkriterium zum Medizinstudium. Deshalb stehen Karriere, gesellschaftliches Ansehen und hohe Verdienstmöglichkeiten bei zu vielen Ärzten weit vor dem Wunsch kranke Menschen zu heilen.
Ärzte haben möglicherweise das schwierigste Studium bewältigt, aber zu viele haben sich wahrscheinlich bereits während dieser Zeit abgewöhnt, medizinische Erkenntnisse zu hinterfragen und auf den Prüfstand zu stellen, was sie mit und an ihren Patienten tun.
Der junge Arzt, Dr. Jörg Müller, hat einen Traum, er möchte krebskranke Menschen wirklich heilen. Todesfälle nach Krebserkrankungen in der Familie waren sein Motiv. Er geht seinen Weg als Onkologe in einer deutschen Klinik, findet Gleichgesinnte, Freunde, seine große Liebe und stößt im Beruf sehr schnell an Grenzen. Der Ärztekreis, fünf Studienfreunde, ist Ausgangspunkt und Ende dieser Erzählung.
Dieses Buch habe ich meiner Freundin Carola gewidmet, die Anfang Oktober 2011 gestorben ist. Krebs an Lunge und Bauspeicheldrüse haben ihr zugesetzt. Carola ist gestorben, obwohl oder weil sie sich in ärztliche Behandlung begeben hatte. Sie war so zuversichtlich und stark und hat gekämpft. Alle ihre Freunde und Verwandte bewundert sie dafür. Viel zu schnell hat sie diesen Kampf verloren. Carola starb, obwohl, oder weil sie sich Operationen, Chemotherapien und Strahlentherapien unterzog, die sie eigentlich heilen sollten. Ich glaube, sie könnte heute noch leben und mit uns lachen und feiern. Ich werde dein Lachen immer in Erinnerung behalten. Liebe Carola, es tut mir leid, wie alles gekommen ist. Ich werde oft an Dich denken.
Von Carolas Tod haben nur ihre Verwandten, Bekannten und Freunde erfahren, die Menschen, die sie mochten.
Wenn ein Prominenter stirbt, spricht die ganze Welt davon.
Wenige Tage nach ihr starb Steve Jobs, der bekannte Apple-Gründer. Bei ihm wurde im Jahr 2003 ebenfalls Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert und es wurde bekannt, dass er sich naturheilkundlich behandeln ließ. Mit dieser Krankheit hat er dann noch acht Jahre gelebt. Nach medizinischer Prognose (siehe klinisches Wörterbuch Pschyrembel) liegt die Überlebensrate nach fünf Jahren bei nur fünf Prozent der Erkrankten. Das heißt, dass 95 Prozent der Menschen, die Bauchspeicheldrüsenkrebs haben, innerhalb der ersten fünf Jahre sterben. Nach ärztlicher Erfahrung sterben diese Menschen schon innerhalb von sechs Monaten. Gestorben ist Herr Jobs dann auch, nachdem er sich in medizinische Behandlung begeben hatte.
Jörg weiß, das ist nicht das Ende, aber jetzt muss er vieles ändern. Sein großer Traum ist geplatzt. Er wollte die Behandlung von Menschen, die an Krebs erkrankt sind, revolutionieren, andere Mittel und Methoden der Therapie finden. Mittel und Methoden, die diese kranken Menschen weniger stark belasten als Operationen, Chemotherapien und Strahlentherapien. Damit ist er gescheitert. Er muss einsehen, dass dafür die Zeit noch nicht gekommen ist. Zu viele Gründe, hauptsächlich ökonomischer Art, stehen dagegen. Nun weiß er aber auch, dass es möglich ist, die Krankheit Krebs zu heilen und er weiß auch wie. Dennoch muss er die Onkologie gerade jetzt verlassen. Als Arzt kann er dort nicht mehr tätig sein. Zu viel war passiert und die neu gewonnenen Erkenntnisse lassen nur diesen Entschluss zu.
Jörg muss jetzt vor allem die jüngste Vergangenheit aufarbeiten. So vieles war geschehen und Jörg denkt zurück an die Zeit, als er endlich sein Ziel erreicht zu haben glaubte. Er war Arzt und konnte den Titel „Doktor der Medizin“ tragen. Das hatte er geschafft.
Es war geschafft. Das Studium war lang und entbehrungsreich, die Promotion eine Qual. Natürlich hatte Jörg während des Studiums auch sehr schöne Zeiten, aber jetzt begann ein neues Leben, und da wollte er sich mit ganzer Kraft hineinstürzen. Doch vorher kam die Abschlussfeier mit seinen Freunden, die mit ihm diesen langen Weg gegangen waren. Herr Doktor, das hörte sich großartig an. Er sah es schon ganz deutlich vor seinem geistigen Auge, er würde ein ganz Großer werden. Er kann es schaffen, was so vielen vor ihm nicht gelungen war. Jörg war sicher, wenn er erst einmal etwas zu sagen hat, würde er ganz neue Wege gehen und Erfolg haben. Darauf freut er sich jetzt schon.
Heute aber traf er sich mit den Leuten, mit denen er sich über die vielen Jahre am besten verstanden hat und alle hatten ihren Doktor geschafft. Die beste allerdings war Tina. Sie zu erleben war einfach beeindruckend. Jörg hatte immer geglaubt, ihr war alles nur so zugefallen und was sie einmal gehört hatte, das saß unauslöschlich in ihrem Gedächtnis. Er musste immer sehr aufwendig lernen, stundenlang saß er über diesem Mediziner-Latein, das er sich einfach nicht einprägen konnte. Manchmal war er auch so weit, alles hinzuschmeißen, wie so viele aus dem Studiengang. Erst viel später hatte er mitbekommen - auch Tina musste lernen, nur hatte sie dafür eine effektivere Methode. Aber Tina hatte nie das Genie heraus hängen lassen, war immer freundlich, immer nett. Eigentlich hätte er sich in sie verlieben sollen. Na ja, es sollte wohl nicht sein.
Jan war der ruhigste von allen. Klar, bei Feiern konnte er schon mal richtig aus sich heraus gehen, aber dazu hatte er wohl so einen gewissen Alkoholspiegel im Blut gebraucht. Er war in der Gruppe der Ruhepol und wer Sorgen und Probleme hatte, der ging damit zu ihm. Jan konnte gut zuhören und er hatte nur dann etwas gesagt, wenn es von ihm erwartet wurde. Er fand dann auch immer die richtigen Worte. Wenige, aber die auf den Punkt gebracht. Damit konnte er helfen. In den Anamnese-Übungen hatte ihm das sehr geholfen. Jan wird ganz bestimmt ein guter Arzt, dachte Jörg. Wenn er selbst einmal ernsthaft krank werden sollte, würde er zu Jan gehen.
Mit Frank hatte er immer mal Stress gehabt. Eigentlich wusste er heute gar nicht mehr so genau, warum. Frank war manchmal provozierend gewesen und man hatte ihm anmerken können, wie viel Freude ihm das machte. Wenn er erst einmal einen so richtig auf die Palme gebracht hatte, zeigte sich ein breites Grinsen in seinem Gesicht und dann hätte man ihm da am liebsten mal rein gehauen. Komischerweise hatte er immer wieder die Kurve bekommen und es dann wieder so gedreht, dass man ihm nicht einmal böse war. Bei ihm musste man aber immer auf alles gefasst sein. So war er halt, aber im Grunde seines Herzens auch ein liebenswürdiger Mensch. Der Arzt seines Vertrauens würde er aber dennoch nicht. Der letzte in der Runde und zugleich der lustigste, war Alex. Er konnte ganze Gesellschaften über Stunden unterhalten und wurde nicht müde dabei. Mit nur wenigen Bieren konnte er sich so richtig hochschaukeln und da fiel ihm ein Witz nach dem anderen ein. So manches Mal glaubte man, der Witz sei ihm jetzt gerade erst eingefallen und doch war der meist ein Knaller. Alex hatte immer Stimmung in die Runde gebracht. Aber er war nicht nur der Alleinunterhalter, nein er konnte in seiner Stimmung alle mitreißen und man hatte sich wohl gefühlt, wenn er da war.
Sie trafen sich heute Abend in ihrer Stammkneipe „Zur Braukunst“. Sie würden sich nochmals zum „Dr. med.“ gratulieren, sie würden in den letzten acht Jahren herum schwelgen und sie würden sicher auch etwas wehmütig werden, denn danach trennten sich ihre Wege. Jeder würde an seiner Karriere basteln, eine Familie gründen, und so verlor man sich aus den Augen. Natürlich würden sie sich in die Hand versprechen, sich regelmäßig zu treffen, öfter zu telefonieren, einfach in Verbindung zu bleiben. Aber alle wussten auch, dass eine neue Zeitrechnung begann, ein neuer Abschnitt ihres Lebens und da ließ man die Vergangenheit nun einmal ganz gern hinter sich. Außerdem würde jeder mehr mit sich beschäftigt sein und die räumliche Trennung würde jede Brücke in die Vergangenheit eines Tages gänzlich abreißen.
Jörg war sicherheitshalber einige Minuten früher in der Kneipe, denn er wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Während des Studiums war er es nämlich, der öfter mal zu spät kam. Sein Zeitmanagement war einfach zu chaotisch. Vorlesungen, an denen er eigentlich teilnehmen wollte, hatte er vergessen und sich hinterher sehr darüber geärgert. Jan sagte dann oft: „Wenn du das vergessen hast, war es auch nicht so wichtig für dich.“ Das war seiner Meinung nach falsch, aber warum er einen für ihn so wichtigen Termin vergessen konnte, war ihm einfach unklar. Vielleicht hatte Jan ja auch Recht, denn wenn er sich nach der verpassten Vorlesung danach erkundigte, hatte er so ziemlich immer die Antwort bekommen: „Da hast du nichts verpasst. “Das hat ihn zwar auch nicht klüger gemacht, aber schon etwas beruhigt.
Er setzte sich an den noch leeren Stammtisch und bestellte ein Bier. Bis die anderen kamen, konnte er ja noch ein bisschen die Atmosphäre genießen, die ihm immer so gut getan hatte. Es waren nur noch zwei andere Tische mit jeweils einem Pärchen besetzt. Aber die waren mit sich beschäftigt und schienen ihn am Stammtisch gar nicht wahrzunehmen. Sein Bier wurde gebracht und die Kellnerin versuchte ihm ein banales Gespräch aufzudrängen. Aber das würgte er gleich ab, denn er wollte sich jetzt nicht mit ihr unterhalten.
Dann kamen Alex und Tina und sie begrüßten sich herzlich. Ihnen war deutlich die Vorfreude auf den Abend anzumerken. Alex musste natürlich gleich seinen Spaß dazu machen, dass ausgerechnet er, Jörg, der erste im Stammlokal ist: „Na ja, wenn ihm halt mal etwas wichtig ist, dann klappt das auch mit der Pünktlichkeit.“ Und er grinste schelmisch. Ihm nahm man so kleine Spitzen nicht übel. Tina schaute heute wirklich zum Verlieben gut aus. Ihre Figur hatte er schon immer bewundert, aber ihre engen Hosen und die dazu passende dunkelbraune Bluse mit dem Glitzerzeug standen ihr wirklich gut. Schade, dass sie schon vergeben war. Und wenn Tina vergeben ist, hatte bei ihr niemand eine Chance, glaubt er.
Auf die Minute pünktlich war Jan und es hatte den Anschein, als hätte er noch vor der Tür gewartet, bis der Sekundenzeiger auf die Zwölf gerückt war, bevor er die Türklinke zur Kneipe herunter gedrückt hatte. Auch in seinen Augen war große Freude zu sehen und er versprach gleich, heute Abend bis zum Schluss zu bleiben. Jan war immer der erste, der bezahlt hatte und gegangen war. Er hatte immer behauptet, er habe einen anstrengenden Tag vor sich und müsse ins Bett. Zwar hatten alle immer einen ähnlich anstrengenden Tag, aber Jan sah wirklich meist müder aus als die anderen und hatte rote Augen, die ihm jeden Moment zuzufallen drohten. Ob er wohl heute durchhalten würde? Die Ausrede des darauf folgenden anstrengenden Tages zog heute nicht, denn da hatten alle frei. Wenn Jan aber zu müde war, dann döste er auch schon mal ganz gern am Tisch ein, wenn keine Ausrede zur Hand war. Da machte er sich überhaupt nichts draus, legte seine Arme auf den Tisch, den Kopf drauf und schlief den Schlaf der Gerechten.
Zehn Minuten zu spät kam Frank. Eigentlich war das so gar nicht seine Art, aber heute war ihm etwas dazwischen gekommen. „Ausgerechnet heute“, sagt er entschuldigend. Seine Freundin Anne hatte den Plan gehegt, den heutigen Abend mit ihm zu verbringen. Es hatte einige Überredungskünste benötigt, bis er sie hatte überzeugen können, dass dies nicht möglich sei. Aber dafür hatte er sie noch nach Hause bringen müssen und dort sei die Verabschiedung natürlich noch künstlich in die Länge gezogen worden. Er meinte dazu nur, heute hätten ihn ihre Küsse echt genervt.
Die Runde war endlich komplett und jeder bestellte sich nun sein Abendessen. Eine Speisekarte war nicht erforderlich, denn jeder kannte die Vorlieben der Anderen. Jan bestellte Bratkartoffeln mit Sülze und viel Remoulade, Frank sein Bauernfrühstück, Alex aß am liebsten das Hamburger Schnitzel, Tina wie immer ein Ragout fin und er, Jörg, bestellte sich ein saftiges Rumpsteak mit Pommes. Das Gespräch kam nur langsam in Gang, obwohl sich alle so auf den heutigen Abend gefreut hatten. Irgendwie spürten alle das Endliche des heutigen Abends und bei ihnen machte sich eine gedrückte Stimmung breit. Aber zum Glück hatten sie Alex dabei. Er unterbreitete den Vorschlag, jeder sollte doch mal seinen vollen Namen mit dem Doktortitel aussprechen. Jan und Frank fanden das albern und meinten, sie würden sich schon noch daran gewöhnen, aber Alex ließ nicht locker. Tina saß am Tisch vom Eingang aus gesehen am weitesten rechts und Alex meinte, „Tina beginnt“. Sie zierte sich auch gar nicht lange und sagte langsam und ausdrucksstark: „Frau Doktor Martina Lange“. Das hörte sich an, als hätte sie es schon mehrfach geübt. Jan sagte nur knapp: „Hört sich ganz nett an“. Ihm war das wohl unangenehm, aber er machte dann doch mit, denn er war der nächste und sagte brav: „Doktor Jan Eichler“. Alle schmunzelten etwas, denn aus seinem Mund klang es sehr unsicher, beinahe unterwürfig. Frank sagte darauf sofort: „He Jan, du bist jetzt wer, lass es raus.“ Aber die Runde ging weiter zu Alex und der sagte sofort mit einem Strahlen im Gesicht: „Ich bin Doktor Alexander Thoms.“ So war er halt, der Alex. Der brauchte das nicht lange üben, der wusste, wer er ist. Und er erzählte auch gleich, wie er auf die Idee gekommen war, das in diese Runde einzubringen. Sein Vater, der vor vielen Jahren seinen Doktor-Titel gemacht hatte, sei lange nicht damit klargekommen, mit „Herr Doktor“ angesprochen zu werden. Ihm sei es immer so vorgekommen, als ob die Leute gar nicht mit ihm reden würden. Jetzt habe er sich daran gewöhnt, aber lieber wäre es ihm doch, wenn ihn die Leute nur mit seinem Namen ansprechen würden. Er komme sich heute noch etwas randgruppenmäßig vor. Und deshalb habe sich Alex gedacht, wir wollen doch mal sehen, wie jeder mit dieser neuen Situation umgehen kann. Nach der langen Erklärung von Alex dachte Jörg schon, er wäre jetzt um diese Peinlichkeit herumgekommen, aber Tina und Alex bestanden darauf, dass auch Jörg und Frank dieses Spiel zu Ende bringen. Frank sagte sehr selbstsicher: „Doktor Frank Heller“. In diesen Worten steckte Selbstbewusstsein. Jörg war nun an der Reihe und er spürte, wie Hitze in seinen Kopf drang und dachte, „Mist, jetzt wirst du auch noch rot“, tat aber so als würde er sich nur konzentrieren und sagte mit möglichst fester Stimme: „Dr. Jörg Müller“. Er spürte sofort, dass er da noch etwas üben musste. Müller war sowieso kein Name für einen Doktortitel. Jörg war schon froh, dass keiner etwas dazu sagte, wie er sich dabei angestellt hat. Die Gaststätte hatte sich langsam gefüllt und einige Gäste waren schon auf diese Runde aufmerksam geworden. Tina wechselte einfach das Thema und begann in Erinnerungen zu wühlen. Wie sie sich kennen und schätzen gelernt hatten und wie sie erst dachte, was ist denn der Heller für ein Arsch. Frank reagierte sofort und fiel ihr ins Wort: „Aber ich war doch immer nett zu dir.“ ,Aber zu den anderen warst du ziemlich fies und ich dachte damals, du bist immer so. Deine Scherze sind auch manchmal grenzwertig“, antwortete Tina. „Du musst manchmal an Grenzen gehen und provozieren. Da merkst du, wie das Leben läuft und du lernst die Kurve zu kriegen und einzulenken, bis sich alles wieder entspannt. Außerdem lernst du die Menschen besser kennen, wie sie ticken, worauf sie reagieren und worauf nicht. Habe ich euch etwa damit verletzt?“ Jetzt war zu spüren, wie alle nach einer gescheiten Antwort suchten. Jan fand sie wohl zuerst, jedenfalls sagte er: „Manchmal hätte ich dir schon ganz gerne eine in die Fresse gehauen, aber meine gute Erziehung hat mich davon abgehalten, danke Mama“. Frank lachte und fragte: „So schlimm war es? Mensch Alter, ich hab dich damit doch auch vorwärts gebracht. Oder hättest du sonst diese dummen und sehr persönlich gemeinten Anfeindungen von unserem Professor ,Sargnagel‘ so unbeschadet überstehen können?“ Jörg war platt, da hatte er doch schon wieder auf ganz elegante Art die Kurve bekommen. Wer konnte ihm denn jetzt noch böse sein? Professor „Sargnagel“ war Professor Nagel und der hatte die Vorlesungen und Seminare in Anatomie gehalten. Er hatte Jan aber so was von nieder gemacht, weil er im zweiten Semester die Beschreibung und Lage von Magen, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse und Milz nicht hinbekommen hatte. So gesehen taten Abhärtungen schon ganz gut, jedenfalls für den Rest des Studiums.
Jetzt erst kam das Gespräch so richtig ins Laufen. Zukunftspläne wurden diskutiert und kritisiert. Heftigster Streitpunkt waren die Pläne von Jörg. Für ihn stand immer fest, dass er in die Onkologie gehen würde und deshalb war er auch nur Arzt geworden. Die Krebsbekämpfung war schon seit Jahren das Thema, mit dem er sich befasste. Als er neun Jahre alt war, starb sein Onkel Günter mütterlicherseits, den er geliebt hatte. Er hatte mit ihm im Garten Fußball gespielt, er hatte ihn zum Lachen gebracht und er war einfach sein Lieblingsonkel. Und plötzlich war er krank geworden und ins Krankenhaus gekommen. Zu Besuchen hatten ihn seine Eltern nicht mitgenommen. Er würde sich vor dem Anblick nur erschrecken und er solle ihn so in Erinnerung behalten, wie er ihn kannte, haben sie gesagt. Seine Mutter hatte ihm ein postkartengroßes Bild in sein Zimmer gestellt, auf dem er mit seinem Onkel Günther abgebildet war und beide hatten sich aus vollem Herzen angelacht. Nach wenigen Wochen bereits war der Onkel gestorben. Jörg hatte es nicht begreifen können und bitterlich geweint. Er war doch im Krankenhaus, bei den Ärzten gewesen. Die hätten ihn doch gesund machen müssen! Warum hatten die das nicht gemacht? Sein Vater hatte ihm erklärt, dass die Ärzte alles versucht hatten, mit den teuersten Behandlungen, aber es hatte alles nichts geholfen. Seine Mutter hatte lange nicht über dieses Thema reden können. Auch sie hatte ihren Bruder sehr geliebt und immer wenn das Gespräch auf ihn kam, musste sie wieder weinen und Jörg dann auch. Als Jörg 17 war, starb seine Mutter, auch an Krebs. Sie war 41 Jahre alt, als die Diagnose Gebärmutterhalskrebs gestellt wurde und mit 42 wurde sie beerdigt. Auch in vielen Familien seiner damaligen Freunde starben Angehörige an Krebs und allen hatten die Ärzte nicht helfen können. Für ihn stand fest, er wollte Arzt werden und in die Krebsbekämpfung oder in die Krebsforschung gehen.
Jetzt am Stammtisch wurde Jörg wieder mit Gegenargumenten überhäuft. Eigentlich war das immer so, wenn über die Onkologie gesprochen wurde. Alle waren sich einig darüber, dass die Onkologie ein sehr undankbarer Bereich der Medizin ist. Die Therapien, die zur Verfügung standen, waren keine heilenden Therapien, sondern galten nur als lebensverlängernd. In den meisten Fällen starben die Patienten nicht mehr an ihrem Krebs, sondern an den Nebenwirkungen von Chemotherapie und Strahlentherapie oder während durchgeführter Notoperationen. Das konnte für einen Arzt nicht befriedigend sein. Vor allem Alex und Tina meinten, solange die Medizin keine anderen Therapien bei Krebserkrankungen anbieten könne, würden sie niemals freiwillig in die Onkologie gehen. Jörg aber war durch derartige Reden nicht von seinem Ziel abzubringen. Er würde Onkologe werden und Krebskranke heilen. Wenn nicht mit schulmedizinischen Therapien, dann mit anderen Therapiemaßnahmen und die musste es schließlich auch schon in Ansätzen geben.
Tina zog es in die plastische Chirurgie. Nicht wegen der Schönheitsoperationen, mit denen so viel Geld verdient werden konnte, nein, sie hatte während der vielen Praxiseinsätze in Krankenhäusern mitbekommen, wie viel man sowohl schon für Unfallopfer tun konnte, als auch bei Menschen mit genetisch bedingten Fehlbildungen. Jörg war überzeugt, egal was Tina anfängt, sie würde eine sehr gute Ärztin werden.
Jan wollte sich als Arzt in einer Praxis für Allgemeinmedizin in seiner Heimatstadt niederlassen. Er wusste sogar schon, welche Praxis er einmal übernehmen würde. Eine gute Freundin seiner Eltern wollte demnächst in Rente gehen und sie hatte den Wunsch, ihm ihre Praxis zu übergeben. Auch er kannte Juttchen, wie seine Mutter Frau Dr. Jutta Mehnert immer nannte, schon so lange er denken kann. Aber bis zur Übernahme der Praxis musste er noch ein paar Jahre als Stationsarzt arbeiten. Er meinte dazu, dass ihm diese Praxisjahre ganz gut tun würden und seinen Patienten vor allem auch.
Alex sollte eigentlich die Arztpraxis seines Vaters übernehmen, aber das wollte er nicht. Sein Vater hatte es schon lange aufgegeben, ihn weiter zu bedrängen. Das Leben, das sein Vater bisher geführt hatte, täglich bis zu 14 Stunden in der Praxis, das war nichts für ihn. Und so hatte ihm sein Vater einen Platz an der Uniklinik besorgt und dort wollte er gar nicht unbedingt an und mit Patienten arbeiten, die zogen ihn immer so runter, nein er wollte in die Forschung gehen. Möglich war für ihn auch, dort in der Verwaltung zu arbeiten. Das würde sich noch finden, sagte er sich. Alex ging das Ganze sehr locker und entspannt an und Jörg glaubte, so käme er durch sein ganzes Leben, locker und entspannt und immer einen lustigen Spruch auf den Lippen.
Frank wusste noch nicht so genau, was er mal machen würde. Seine Freundin Anne hoffte, dass sie gemeinsam hier blieben, deshalb hatte er erst einmal eine Stelle als Stationsarzt am hiesigen Klinikum angenommen. Ein Onkel von Anne hatte das wohl unter der Hand eingefädelt. So richtig glücklich war Frank allerdings damit nicht. Er träumte davon, als Arzt ins Ausland zu gehen. Das würde er eines Tages sicher auch machen, egal ob mit oder ohne Anne. Von sich aus hatte Frank auch noch nie von Heiratsplänen gesprochen und alle dachten, das mit Anne sei ohnehin bald vorbei. Aber wer wusste das schon?
Der Abend war doch noch recht entspannt geworden. Tina und Jan hatten wie immer Wein getrunken und die anderen dieses köstliche Bier, ein noch ungefiltertes Kellerbier, das man nur hier in dieser Gaststätte bekam. Nach dem dritten Bier wurde Jan redselig, aber heute irgendwie schwermütig. Er setzte sich zu Jörg und erzählte von seiner Mutter. Sie war jetzt 52 Jahre alt und vor etwa drei Monaten war bei ihr Krebs diagnostiziert worden. Seine Mutter hatte bis vor kurzem noch geraucht und sie war auch etwas zu dick. Sie behauptete immer, dass sie überhaupt nur rauche, damit sie nicht noch dicker werde und war seit geschätzten vier Jahren wegen Diabetes in Behandlung, nahm aber nur Tabletten. Jetzt war nach vielen Fehldiagnosen durch ihre Hausärztin Lungenkrebs und Bauspeicheldrüsenkrebs festgestellt worden. Jan wusste natürlich, dass bei dieser Diagnose die Prognose mehr als schlecht ausfiel, die eigentlich einem Todesurteil gleich kam. Immer wieder aber hörte und las man auch von Spontanheilungen bei Krebskranken. Selbst bei Patienten mit Krebs im Endstadium, die also aus medizinischer Sicht als austherapiert galten, waren Fälle von Spontanheilungen bekannt geworden. An solche Hoffnungen klammerten sich viele Betroffene und deren Angehörige. Wenn die medizinische Forschung diesem Phänomen schon einmal nachgegangen wäre, wüsste man heute, wie man Krebs wirklich heilen kann, statt das Wachsen der Tumore nur aufzuhalten oder zu verringern. Jörg wusste, was jetzt in Jan vorging. Das hatte er viel zu früh erlebt und das hatte sein ganzes Leben danach geprägt. Was aber sollte er jetzt zu Jan sagen? Phrasen, wie „Vertrau der Medizin, Kopf hoch, das wird schon, die medizinische Forschung kann morgen schon ein Mittel dagegen gefunden haben!“ konnte er sich bei Jan sparen. Jörg spürte seine eigene Hilflosigkeit. Was sollte er sagen? Ja, das war sein Thema, aber er war ja noch nicht einmal im Job. Was konnte er da mitreden? So sagte er, was ihm am klügsten in dieser Situation erschien: „Lass die Ärzte erst mal machen, sie wissen ja, dass jemand in der Familie ist, der sich in der Medizin auskennt. Das wirkt manchmal Wunder. Und wenn du merkst, dass alles schief zu gehen droht, ruf mich an, vielleicht kann ich dann schon helfen.“ Natürlich spürte Jörg sofort, dass das keine befriedigende Antwort für Jan war, aber was hatte der auch erwartet?
In der Ecke von Alex wurde es immer lustiger, einige Witze hatten Jan und er schon verpasst, deshalb wandten sie sich nun den anderen zu, um davon noch etwas mitzubekommen. Dummerweise schaute Tina jetzt auf die Uhr und sagte: „Hui, schon nach Mitternacht. Wir sind die Letzten hier“. Und tatsächlich waren sie die Einzigen in der Gaststätte und die Kellnerin sah mit diesem Blick zu ihnen, aus dem sprach: „Und wann wollt ihr endlich gehen?“.
Jetzt wurde Alex feierlich: „Freunde, ihr werdet mir fehlen
und wenn es zu schlimm wird, dann organisiere ich ein Treffen. Und wehe, jemand fehlt, das werde ich ihm persönlich sehr übel nehmen. Also lasst uns aufbrechen in die neue Zeit, ich bin so gespannt auf das, was kommt.“ Dann wurde die Kellnerin an den Tisch gerufen, die die Rechnungen sogar schon fertig hatte. Jeder bezahlte seine Zeche und die war heute gepfeffert und richtig gut für die Gaststätte und den Wirt. Sie verabschiedeten sich und alle hatten dieses Gefühl tiefer Dankbarkeit dafür, dass sie über eine so lange Zeit so gut zusammen gehalten hatten und einer für den anderen da war. Es war eine schöne Zeit, auf in die Neue!
Er hatte dasselbe Gefühl, wie bei seiner Einschulung. Was würde ihn jetzt erwarten? Wie werden die Kollegen sein, wie die Krankenschwestern und das Wichtigste, woran er eigentlich bisher noch gar nicht so richtig gedacht hatte, wie werden ihn die Patienten aufnehmen, wie wird er auf sie eingehen und mit ihnen umgehen können? Ist er wirklich gut auf alles vorbereitet worden oder wird das ein Sprung ins kalte Wasser? Also weg mit diesen Gedanken, in einer Stunde war er schon etwas klüger. Er trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse in die Spülmaschine, nahm seine Tasche, die er gestern Abend schon gepackt hatte und ging zur Tür. Da stutzte er, hatte er wirklich an alles gedacht? Aber was sollte das jetzt, das war nur seine eigene Unsicherheit, die er überspielen musste. Jetzt ging er erst einmal los und stellte sich seinen neuen Kollegen vor, alles andere würde sich schon finden.
Endlich angekommen, klopfte er an die Tür des Chefarztes. Eine Frauenstimme war mit einem kräftigen „Herein“ zu hören. Er betrat den Raum und stand vor einer ganz nett anzuschauenden Blondine mittleren Alters. „Guten Tag, ich bin Dr. Jörg Müller, der neue Assistenzarzt auf Ihrer Station“, hörte er sich sagen. Er hätte diesen Spruch doch vorher etwas üben sollen, überlegte er, denn viel besser als in der Gaststätte „Zur Braukunst“ war es ihm wieder nicht über die Lippen gekommen. War er auch wieder rot geworden? Wenn schon, die Sekretärin ging gar nicht weiter darauf ein: „Ach der Neue, der Chefarzt wartet schon. Sie können gleich rein gehen“, und wies mit der Hand auf die ihm gegenüber liegende, noch geschlossene Tür. Er ging zur Tür, klopfte vorsichtig an und trat ein, nachdem hereingebeten wurde. Die männliche Stimme klang sehr angenehm und nahezu beruhigend und so fiel es ihm nicht schwer, die Klinke nach unten zu drücken und die Tür zu öffnen. Er betrat den Raum des Chefarztes und blickte in ein freundlich lächelndes Gesicht. „Doktor Müller?“, hörte er den Chefarzt fragen und immer noch klang eine angenehme Freundlichkeit in seiner Stimme. „Ja“, sagte er, „ich bin Dr. Jörg Müller, der neue Assistenzarzt“, und seine Verlegenheit legte sich langsam. So eine nette Begrüßung hatte er wirklich nicht erwartet und er war sehr positiv überrascht. So konnte es weiter gehen, dachte Jörg. Der Chefarzt, Dr. Gregor, bat ihn auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und wurde jetzt etwas ernster, aber nicht unfreundlich. „Ich habe mir Ihre Bewerbungsunterlagen sehr genau angesehen. Sagen Sie mir, welche Vorstellungen Sie von der Arbeit auf unserer Onkologischen Station haben.“ Diese Frage hatte er zwar so nicht erwartet, aber natürlich sich selbst schon öfter gestellt. Konnte er aber dem Chefarzt seine Gedanken so anvertrauen? Was wollte der von ihm hören? So begann er etwas zögerlich, von seiner wirklichen Motivation zu erzählen, von seinen Träumen, krebskranken Menschen zu helfen, sie zu heilen. Der Chefarzt runzelte die Stirn und suchte wohl seinerseits jetzt nach den richtigen Worten. „Sie werden hier auf ein wirklich gutes Team treffen. Ich habe alle Mitarbeiter gebeten, Ihnen den Einstieg bei uns so leicht und angenehm wie möglich zu machen. Ihren Träumen hängt die Praxis leider noch etwas hinterher. Sie werden hier sehr viel Leid erleben, Menschen werden sterben, die Ihnen ans Herz gewachsen sind, aber Sie werden daran trotzdem nicht zerbrechen dürfen. Diese Menschen, die sich uns anvertrauen, setzen all Ihre Hoffnungen auf uns, aber wir werden sie nicht immer erfüllen können, leider. Wenn Sie damit Probleme bekommen, bitte ich Sie, sich sofort an mich zu wenden und versuchen Sie nicht, ihren Ärger und Schmerz zu verdrängen. Das könnte Ihnen schaden. Ich stelle Sie jetzt den anwesenden Ärzten und Krankenschwestern unserer Station vor. Sie sind bereits alle im Besprechungsraum versammelt.“ Sie gingen über den langen Flur und ganz am Ende öffnete der Chefarzt eine Tür zu einem Raum, der mit rund 15 Personen gefüllt war. Alle blickten erwartungsvoll auf den Chefarzt und auf ihn. Dr. Gregor ergriff sofort das Wort und stellte mit wenigen Worten den neuen Stationsarzt vor. Jörg war froh, dass er das nicht selber machen musste. Irgendwie war es ihm immer peinlich, auch nur seinen eigenen Namen zu sagen, geschweige denn von sich und seinem Leben zu erzählen. Dann nannte der Chefarzt die Namen aller anwesenden Ärzte mit ihrer Position auf der Station und Jörg war bemüht, sich wenigstens die Oberärzte zu merken. Auch die Krankenschwestern, die leitende Schwester und das Pflegepersonal kamen zu ihrem Recht. Mit dem Chefarzt verließ er anschließend den Besprechungsraum wieder und beide gingen zurück in dessen Büro. Jörg fragte sich, ob er sich noch irgendein Gesicht oder einen Namen der gerade vorgestellten Ärzte und Krankenschwestern gemerkt hatte. Da war nichts. Er wusste keinen Namen mehr und Gesichter hätte er vielleicht das eine oder andere wieder erkannt, wenn er der Person auf dem Gang der Station begegnet wäre. Außerhalb der Klinik wäre ihm wohl keine Person auch nur bekannt vorgekommen. Mit der Zeit und in den nächsten Tagen würde er die Mitarbeiter der Onkologie schon noch kennen lernen. Chefarzt Dr. Gregor wies seine Sekretärin an, mit dem neuen Stationsarzt alle notwendigen Formalitäten zu erledigen und zu Jörg gewandt bat er, dass er ihn am nächsten Morgen pünktlich im Besprechungsraum sehen wolle. Danach verabschiedete er sich von Jörg und begab sich wieder in sein Arbeitszimmer.