Für Dieter Wellershoff
Und für meine Frau Ulrike, die im Auf und Ab meines Lebens immer zu mir gehalten hat
Bodenbildung
Das Allgemeine und das Besondere
Die Freuden der Anpassung
Das Glück der Reduktion
Perspektivwechsel
Die Wirklichkeit
Kult der Genauigkeit
Leere und Fülle
Licht und Dunkel
Das Alter - Leben und Gedanke
Endgültig ist nur der Tod
Stoizismus
Vertrauen
Das da bin ich. Dieser nicht mehr ganz junge Mann, den der englisch geschnittene Anorak schmaler macht als er in Wirklichkeit ist. Eben noch ist er energisch ausgeschritten, jetzt beugt er den Kopf mit dem noch dichten, fast vollständig ergrauten Haar über die antiquarischen Bücher, die in offenen Holzkisten am Rande der Fußgängerzone aufgereiht stehen, und blättert sie mit Zeige-und Mittelfinger durch wie früher, als 18-Jähriger, die quadratischen Hüllen in den Plattenläden.
Wer ihn beobachtet, wird den Eindruck gewinnen, dass er auf sein Äußeres achtet - jemand, der sich nicht gern gehen lässt. Die Art, wie er ein Buch aus der Kiste nimmt und angestrengt, vielleicht mit schon etwas weitsichtigem Blick prüft, hat etwas Skrupulöses – fast als ob er im Begriff stünde, etwas Verbotenes zu tun, indem er das an den Ecken angestoßene, von vielen Händen abgegriffene Exemplar dieses Romans erwirbt, dessen Verfasser selbst unter Fachleuten kaum jemand kennen dürfte. Und tatsächlich: Wie andere Menschen von sich sagen würden, dass sie sich im Griff haben, würde er von sich sagen, dass er sich im Blick hat, vor sich steht in der Helligkeit eines Bewusstseins, das nur schläft, wenn er selbst die Augen zumacht.
Der erste Eindruck ist nicht falsch. Es stimmt, ich kleide mich mit einer gewissen Sorgfalt, ich lebe diszipliniert. Ich rauche nicht, trinke höchstens ein Glas Rotwein zum Essen (mit dem ich im übrigen keine Völlerei betreibe), gehe abends um zehn zu Bett, stehe morgens um sieben auf (manchmal früher); ich bin meiner Frau treu. Ich kenne Der Panther von Rilke auswendig und weiß ziemlich genau, worum es in dem Brief geht, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom schrieb. Man könnte hinzufügen: Ich spiele etwas Klavier, Gitarre, habe eine gute Stimme und bin – meine Freunde jedenfalls sind dieser Meinung – ein angenehmer Zeitgenosse, jederzeit für ein niveauvolles Gespräch zu haben und allem Schönen und Geistvollen gegenüber aufgeschlossen.
Und ich bin – gescheitert. Nein, ich bin nicht Feuilletonredakteur der FAZ, bin kein Professor, nicht mal Psychologe in eigener Praxis (die Psychologen mögen mir verzeihen), bin nicht Schriftsteller, nicht Rockmusiker. Ich bin, um die Wahrheit zu sagen: ein Mensch und sonst nichts. Ich habe keinen Beruf, bin auf keinem Gebiet Fachmann. In dem Hartz-IV-Empfänger, der vor laufender Fernsehkamera auf dem verschlissenen Sofa in der Plattenbauwohnung über die Ungerechtigkeit der Welt lamentiert, mag ich mich trotzdem nicht wiedererkennen, dann schon lieber im Bajazzo von Thomas Mann, jenem gefallsüchtigen Sohn eines Unternehmers, der sich, nachdem die Eltern gestorben sind, mit seinem Erbe in einer mittelgroßen Universitätsstadt niederlässt und fortan dem durch geistige Interessen veredelten Müßiggang frönt. Ich bin vielleicht der Gescheiterte einer früheren Epoche, einer Epoche, in der die Vorstellung, dass Leistung den Wert eines Menschen definiert, nicht so selbstverständlich war wie heute, ein altmodischer Gescheiterter gewissermaßen.
Wenn überhaupt, muss Scheitern absolut sein, soll der Gescheiterte irgendeinen Nutzen aus seinem Scheitern ziehen. „Bodenbildung“ ist in der Sprache der Börse der tiefste Punkt in der Entwicklung eines Aktienkurses. Der Kurs hat „Bodenbildung“ erreicht, sagen die Börsianer. Und meinen damit: Ab jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Wer scheitert, muss in seinem Scheitern Bodenbildung erreichen. Er muss eines Morgens mit dem Gefühl aufwachen, dass es tiefer hinab schwerlich gehen kann. Erst jetzt wird er imstande sein, ausgestreckte Hände zu ergreifen – und Hilfe anzunehmen, ohne seinerseits Bedingungen zu stellen. Dieser Umstand macht deutlich, wie verhängnisvoll es sein kann, wenn wohlmeinende Freunde den Scheiternden zu trösten versuchen: „Ist doch alles halb so schlimm.“ Falsch. Der Scheiternde sieht, wenn solche intuitiven Fähigkeiten in ihm noch nicht ganz abgestorben sind, ab einem gewissen Punkt auf dem Weg nach unten sehr deutlich, dass seine letzte Chance darin besteht, die Katastrophe beim Namen zu nennen: ICH BIN GESCHEITERT!
Und das ist so schlimm, wie es sich anhört. Kann ich mich aus eigener Kraft befreien? Das Wort sagt es schon: Scheitern hat mit Freiheit zu tun. Genauer: mit der Abnahme von Handlungsoptionen. Ganz kurz bevor der Scheiternde Bodenbildung erreicht, wird er das erstickende Gefühl haben, über keinerlei Handlungsmöglichkeiten mehr zu verfügen. Es ist, als ob er vor einer Anzeigetafel steht, die schwarz bleibt, für ihn fährt kein Zug mehr.1 Erst im Moment, wo er Bodenbildung erreicht hat, öffnet sich der Horizont – und es werden Optionen sichtbar, die sich noch einen Moment zuvor hinter falschen Hoffnungen, Illusionen und Selbstbetrug verbargen.
„Sie sind sehr ehrgeizig!“
Die Dame musterte mich mit einem kühlen Blick aus Augen, deren helles Grau demjenigen ihres Haupthaars ähnlich war.
„Ich? Wieso?“
„Sie haben den Ehrgeiz, besonders zu sein. Sie fürchten sich vor der Banalität.“
Nur sehr selten ist es mir in meinem Leben widerfahren, dass jemand mir etwas Neues über mich selbst mitteilte. Hier, in diesem Zimmer eines Therapiezentrums im Süden von Köln, geschah das Wunder: Ich hatte nach einer neuen beruflichen Orientierung gesucht – und fand? einen Scharfsinn, der mir die Sprache verschlug. Ehrgeizig? Ich? Als ich mit 24 anfing, mich auf die Magisterprüfung vorzubereiten, setzte ich mir zum Ziel, eine 2 zu schaffen. Mit einer Note „gut“, sagte ich mir, würde ich zufrieden sein. Das war kein Ehrgeiz! Da kannte ich ganz andere Beispiele! „Ich kann Ihnen sagen... “
„Das meine ich nicht“, unterbrach mich die Therapeutin, der ich noch heute dankbar bin. Denn nun folgten jene zwei markigen Sätze, die mir seither zu einer Begleitmelodie meines Lebens geworden sind. Und für immer wird sich mir die Vorstellung von Unbestechlichkeit mit dieser Frau verbinden, die meinen mutmaßlichen Versuchen, ihren Blick auf mich zu manipulieren, mit Entschiedenheit widerstand.
Manchmal helfen uns gerade jene Menschen am meisten weiter, denen wir am wenigsten sympathisch sind. Dieser Dame war ich ganz offensichtlich so unsympathisch, dass sie mich sofort an einen Kollegen delegierte: „Ich kann die Gespräche mit Ihnen nicht führen.“ - Der Kollege erwies sich als vernünftiger, kompetenter Mann, hielt sich aber mit Kommentaren zurück, ließ vor allem mich reden und unterbrach mich nur, wenn er das Gefühl hatte, dass die Maschine „heißlief“. Ich denke gerne an die Treffen mit Herrn A. zurück, aber welches der richtige Beruf für mich ist, wusste ich nach den sechs Nachmittagen so wenig wie zuvor.
„Fachmann für das Allgemeine“: So ist der Beruf des Schriftstellers oft definiert worden. Aber: Auch ein Fachmann für das Allgemeine ist noch immer ein Fachmann. Wer einmal versucht hat, einen Roman zu schreiben und damit zu Ergebnissen gelangte, die nicht nur seinen besten Freund oder Tante Helga interessieren, weiß, wovon ich rede. Wenn ich kein Schriftsteller bin, hat das ernste Konsequenzen: Es bedeutet, dass ich mich entscheiden muss. Für Menschen, denen eine Gabe wie die des Schriftstellerns nicht zur Verfügung steht, gliedert sich das Allgemeine in eine unüberschaubare Zahl von Besonderheiten, und als reifer Mensch sollte ich imstande sein, aus dieser großen Zahl von Besonderheiten zu wählen. Wenn ich ehrlich bin: eine grauenvolle Perspektive. In unserem Zeitalter hochgradiger Spezialisierung gibt es Menschen, die ihr Leben damit verbringen, Ab- oder Zunahme der Population von Blattschneiderameisen an den Rändern des brasilianischen Regenwaldes zu untersuchen. Es gibt Menschen, die ihr Leben der Frage widmen, wie sich die Anordnung der Atome in bestimmten Materialien verändert, wenn diese Materialien einem Lichtimpuls ausgesetzt werden. Und es gab da jenen Unglückseligen, der neben mir an der Werkbank saß und Fräserköpfe entgratete – ich machte diese Arbeit für vier Wochen, er für den Rest seines Lebens.
Als junger Mensch sah ich im Fernsehen einmal einen Beitrag über eine Familie, die irgendwo in den Alpen ihr Geld damit verdiente, Stockkörper herzustellen. Der Film zeigte Menschen, die auf einem zugefrorenen See Eisstockschießen spielten, und ein Kommentator erklärte aus dem Off die besondere Qualität der von Familie XY hergestellten Stockkörper. Ich war fassungslos. Es gab Menschen, die einen erheblichen Teil ihrer (kostbaren) Lebenszeit damit zubrachten, solche Dinger herzustellen – und stolz darauf waren. Bedachten diese Leute denn nicht, dass sie irgendwann sterben würden? Und sollte dann nichts von ihnen zurückbleiben als diese lächerlichen Stockkörper? In der Arroganz meiner 20 Jahre, von denen ich allerdings nur den geringsten Teil darauf verwendet hatte, mich im Verständnis für meine Mitmenschen zu üben, wurden die Stockkörper für mich zum Sinnbild eines vergeudeten Lebens. Ich hielt es einfach für unangemessen, angesichts der Tatsache, dass man sterben musste, seine Zeit mit solchem Spielzeug totzuschlagen. Warum steckten diese Menschen nicht all ihre Energie in das Nachdenken über den Sinn des Lebens, wie ich das tat? Dem 20-Jährigen, der sich entschlossen hatte, Philosophie zu studieren (wenn auch nur als Nebenfach, zu etwas anderem fehlte ihm der Mut), blieb es unbegreiflich, dass Menschen nicht wissen wollten, was die Welt im Innersten zusammenhält – und nicht wenigstens einmal versuchten, Platon, Hegel oder Nietzsche zu lesen. Der Gedanke, dass so etwas wie ein Sinn sich eher im Tun als im Nachdenken zeigen könnte, war mir damals noch überhaupt nicht gekommen (und ob dieser Gedanke einer genaueren Prüfung standhält, wird sich noch zeigen). Erst mussten bestimmte Grundfragen der Existenz geklärt sein, dann konnte ich anfangen, darüber nachzudenken, womit ich meine knapp bemessene Lebenszeit ausfüllen wollte. Dazu gehörte auch die Berufsfrage. Die stand bei mir erstens im Verdacht, höchst speziell zu sein (s.o.) und war zweitens noch sehr weit weg. Ich hatte ja gerade erst mit dem Studium begonnen.
Als ich dann – eine knappe Dekade später – den Beruf des Pressereferenten ergriff, hatte ich bald das quälende Gefühl, von anderen Menschen mehr mit diesem Beruf identifiziert zu werden, als mir lieb war. Ich wurde zum Opfer eines Phänomens, das man vor allem von Partys kennt: „Und, was machst du so?“ - „Ich arbeite als Pressereferent beim Bundesverband der...“ Nach meinem Gefühl hätte ich jetzt sagen können: „Kaninchenzüchter“. Oder: „ökologischen Gummibärproduzenten.“ Oder: „halbseitig Gelähmten mit Spitzfußkontraktur“. Natürlich (natürlich?) entsprach das nicht den Tatsachen, und aufrichtig, wie ich bin, immer schon war und leider immer sein werde, vervollständigte ich: „...der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft.“ Keiner meiner Gesprächspartner kam auf die Idee, eine Identität meiner Person, wie er sie dort am Salatbuffet antraf, mit einer Tätigkeit für die Gas- und Wasserwirtschaft zumindest in Zweifel zu ziehen. Oh nein! Stattdessen: „Wow! Da hast du wohl eine eigene Sekretärin?“ Ja, die hatte ich. Allerdings alarmierte es mich jeden Morgen, wenn ich vor dem Spiegel im Bad stand, aufs heftigste, dass mir das schnurzegal war. Davon abgesehen, verdiente ich so viel, dass ich bereits anfing, Dinge zu kaufen, nur weil sich, sagen wir, das damals ultracoole Nokia 5110 in der Hand wesentlich besser anfühlte als das Geld in der Gesäßtasche.
Tatsache war, dass sich der einstige Nietzscheleser in der Stockkörperproduktion wiederfand. Meine Magisterarbeit hatte ich über Gottfried Benn geschrieben, meine ersten Pressemitteilungen handelten von Pestizid- und Nitratgrenzwerten für das Trinkwasser oder der Frage der Durchleitung von Erdgas durch die Pipelines konkurrierender Unternehmen. Ein Journalist für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit muss sich in alles einarbeiten können! Und ich arbeitete mich ein – und registrierte sehr genau, wie ich jedesmal, wenn Achtungsbezeugungen mehr meiner Arbeit als meiner Person zu gelten schienen, innerlich ein kleines bisschen leerer und unglücklicher wurde. Zugegeben: Auf jemanden, der sich, wie man so sagt, mit seiner Arbeit identifiziert, muss das seltsam wirken.
„Was bleibt, wenn man vom Menschen 'an sich' den homo sociologicus abzieht?“ (aus dem Artikel zum Stichwort „homo sociologicus“ der Internetplattform Wikipedia)