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© 2009 Wolfgang Hachtel
2. überarbeitete Auflage 2011
Satz und Umschlaggestaltung:
Wolfgang Hachtel
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8448-7760-1
„Von den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg über die Nachkriegszeit bis heute reicht der geschichtliche Rahmen der vielgestaltigen Erzählungen.“
Aus dem Vorwort zur ersten Auflage 2009
„Vom Fremdsein zum Verschwinden bewegen sich die kurzweiligen Erzählungen von Wolfgang Hachtel. Dass der Leser sich, wie es scheint plötzlich, auf Schauplätzen zwischen Neuland und (Selbst-)Mord wiederfindet, liegt am Erzählstil, der mit unerwarteten Verstrickungen die zunächst auf die psychologische Entwicklung der Protagonisten bedachten Geschichten mit gesellschaftlichem Geschehen subtil durchsetzt. Und gerade letzteres ist es, das die Figuren zu ihren Handlungen antreibt, die beispielsweise in der Erzählung Fräulein Wagners Ende auf den ersten Blick rätselhaft wirken. Doch der Autor wirft einen zweiten, aufklärenden Blick auf die Geschichte und überrascht dabei. Geisterhaft wirkt der Abgang der Protagonisten oftmals und das Ereignete bleibt hinter einem zarten Schleier der Unergründlichkeit zurück. In der Erzählung Der Fremde beispielsweise nimmt eine sich anbahnende Liebesgeschichte ein trauriges Ende, der Fremde ist zugleich Täter und Opfer; die Zurückbleibende, untröstlich über diese Tatsache, wird selbst zu einer Fremden und wandert aus. Der Erzähler verschränkt jeweils die Perspektive des Fremden mit der der Einheimischen, die sich dadurch gleichfalls fremd fühlen können, und gestaltet das Verhältnis von Täter und Opfer innovativ in jeder Geschichte.“
Josefin Dohrer, Lektorin, Berlin
„Die Kurzgeschichten sind überaus spannend und trotzdem lebensnah.“
Hans G. Trüper, Universitätsprofessor, Bad Godesberg
„Die Geschichten sind mitten aus dem Leben gegriffen.“
Albert Föckeler, Diplom-Ingenieur, Bonn
„Die Kurzgeschichten sind allemal kurzweiliger als manches andere, was ich zu lesen bekommen habe.“
Diedrick Menzel, Universitätsprofessor, Bonn
„Von der Vita der Protagonisten bin ich nicht wieder losgekommen. Die subtile Art des Autors ist wirklich erstaunlich. Es ist umwerfend, wie er eindrucksvoll, feinnervig und mit prägnanten Worten den Figuren der Kurzgeschichten Leben einhaucht, den Leser verzaubert und in Bann schlägt! Ich hätte nie vermutet, dass ein Professor der Botanik zu einem phantastischen Geschichtenerzähler und Meister der deutschen Sprache mutiert.“
Rolf Deyhle, Geschäftsmann, Stuttgart
„Den Erzählband habe ich mit großem Vergnügen gelesen.“
Berthold Schwemmle, Universitätsprofessor, Tübingen
„Die Geschichten sind spannend und in schöner Sprache geschrieben.“
Lieselotte Diemert, Lehrerin, Düsseldorf
„Die Novellen erinnern mich – auch in ihrer sprachlichen Qualität – stark an einen meiner Lieblingsautoren, Stefan Zweig. Glückwunsch!“
Wilhelm Barthlott, Universitätsprofessor, Bonn
Wolfgang Hachtel, 1940 in Stuttgart geboren, studierte Naturwissenschaften, promovierte 1971 und habilitierte sich 1982. Er ist seit 1989 Professor für Botanik an der Universität Bonn und Autor zahlreicher fach- und populärwissenschaftlicher Artikel, u.a. in Planta, Plant Physiology, Plant Science, Protist und Molecular and General Genomics bzw. Spektrum der Wissenschaft und Biologie in unserer Zeit. Gegenwärtig hat er einen Lehrauftrag für Biologische Meereskunde.
2009 erschienen acht Erzählungen unter dem Titel Der Fremde und andere Erzählungen, die nun in einer zweiten, überarbeiteten Auflage vorliegen. 2010 folgten Als Wessi in der DDR – Reisen und Begegnungen, Erinnerungen zwanzig Jahre nach dem Ende des anderen deutschen Staats, und der Roman Die Söhne der Indios. 2011 ist mit Grenzen, überall soeben ein weiterer Band Kurzgeschichten und Erzählungen erschienen.
Penelope
Fräulein Wagners Ende
Liebe in Zeiten des Kriegs
Der Fremde
Tod im Sandveld
Die Tochter des Apothekers Nagel
Der Absturz
Judith verheiratet in Amerika
Seit Mutter fort war, führte Betty, die Tochter, den Haushalt des Dorflehrers. Sie war jetzt knapp zwanzig Jahre alt und mit Paul verlobt. Betty hatte nur die Dorfschule des Vaters besucht; einen Beruf konnte sie nicht lernen, musste sie doch schon früh die verstorbene Mutter ersetzen. Wenn sie an ihre Mutter dachte, wurde sie immer noch traurig, weil sie die Mutter vermisste, aber auch deshalb, weil die Gestalt ihrer Mutter in ihrer Erinnerung mehr und mehr verblasste, verschwommener und undeutlich wurde. Wie hatte die Mutter gesprochen, wie hatte ihre Stimme geklungen? Wie hatte sie gerochen, wie hatte sie sich bewegt? Wie hatte es sich angefühlt, von der Mutter gestreichelt, von ihr geküsst zu werden? Sie wusste es nicht mehr. Hatte sie es vielleicht nie richtig gewusst?
Nun war es Paul, an den sie ihre stärksten Gefühlsbindungen geknüpft hatte. Sie war fünfzehn, gerade aus der Schule, als sie Paul kennen lernte. Er hatte das Lehrerseminar hinter sich und war als Hilfslehrer ihres Vaters bei ihnen im Schulhaus eingezogen. Er war ihr Beschützer, Verehrer, Spielfreund geworden. Von ihm erfuhr sie Aufmunterung, Trost, Zärtlichkeit. Mit ihm war sie vergnügt und manchmal wild. Er stillte ihre Wissbegier. Als er auf die Universität ging, um weiter zu studieren, fragte er sie. „Ja“, sagte sie, „ich will auf dich warten.“
Dann war Paul weit weg, lange, sie wusste nicht einmal genau wo. Der Name der Stadt sagte ihr nichts. Sie dachte oft an ihn. Er fehlte ihr sehr.
Nach zwei Jahren Kartographie-Studium kam er zurück, küsste sie und verabschiedete sich gleich wieder für eine Weile in die deutsche Kolonie in Südwestafrika, wo er weiße und schwarze Kinder unterrichtete und in der Wüste Namib Forschungen anstellte.
Wieder zurück, war er oft lustlos und schlecht gelaunt. Sie hatten eigentlich heiraten wollen. Sie wollte immer noch heiraten. Wenn er gerade keine Bücher über ferne Länder und Entdeckungsreisen verschlang, saß er herum und langweilte sich. Er konnte sich zu nichts entscheiden. Es war zwischen den beiden nicht mehr wie früher, etwas schien sich zwischen sie geschoben zu haben. Manches Mal war er aber auch ganz der Alte, fröhlich, draufgängerisch, kraftvoll, charmant, strahlend, liebevoll. Dann wusste Betty doch wieder, dass und warum sie ihn liebte.
In diese Zeit platzte ein Telegramm der Geographischen Gesellschaft zu Berlin. Die Herren dort fragten Paul, ob er Sven Hedin, den berühmten Asienforscher, auf einer Expedition begleiten wolle. Die Expedition sollte von Peking über Baotou zur Mongolei und in die Wüste Gobi führen. Er lebte auf. Seine Antwort stand schon fest, kaum dass er das Telegramm gelesen hatte. Bevor er zwei Wochen später in den Postbus stieg, der ihn zur Bahnstation brachte, sagte er: „Vielleicht werde ich berühmt, jedenfalls mache ich etwas Nützliches. Wartest du auf mich?“
Nun wartete sie wieder. Was sollte sie auch sonst tun in dem abgelegenen Landstrich im Nordosten von Württemberg, wo es nur ungebildete Bauernburschen gab, ein paar reiche Brauereibesitzer, die keine arme Schluckerin zur Frau wollten, und verarmte und dennoch hochnäsige Landadelige?
Frieder, Bettys Bruder, hatte mit knapper Not das Lehrerexamen geschafft, wollte aber nicht Lehrer sein. Er war seit Kindestagen kränklich, hatte ein schwaches Herz, mochte sich, konnte sich nicht anstrengen. Später hatte er offene Beine mit ständigen Entzündungen. Er hing zuhause herum, las Bücher und Zeitungen. Er erlebte die Welt im Kopf, in seiner Phantasie. Kitschige Gedichte schrieb er auch. Ständig bedrängte und tadelte ihn sein Vater; der hielt ihn für einen Simulanten und Faulenzer, beklagte seinen Mangel an Ehrgeiz und seine seltsamen Ansichten, seine ewigen Träumereien.
Der Vater schleppte Frieder immer mal wieder mit in die Schule, wenn kein Hilfslehrer da war. Frieder sollte dann aufpassen, dass die Großen ihre Aufgaben ordentlich erledigten, während der Vater sich die Kleinen vornahm. Im Dorf riefen die älteren Kinder schon mal ein Spottwort hinter ihm her, mehr trauten sie sich nicht wegen des Alten.
Karl war nun der neue Hilfslehrer, als Ersatz für Paul. Frieder war froh, dass er da war; nun konnte der Vater den kritisieren, nun musste der seine Reden und Moralpredigten anhören, seine Meckerei über die Regierung, die Politik, das Wetter, die Preise, die aufmüpfigen Arbeiter in den Städten, überhaupt den ganzen Sumpf dort, über die Frauen, die jetzt auch einen Beruf erlernen und ausüben wollten, nicht mehr nur Hausfrauen sein und Kinder großziehen.
Am Sonntag musste nun Karl den Blasebalg der Orgel in der Kirche treten, wenn der Vater im Gottesdienst spielte, der musste im Kirchenchor mitsingen und die Noten für die Sänger bereit legen. Und wenn er das mal vergaß oder beim Treten einschlief, sodass keine Töne mehr kamen, dann kriegte jetzt Karl die Wut des Alten ab.
Karl sah Betty im Sommer zufällig beim Baden im See, sie hatte nur wenig an. Seither war er hinter ihr her, himmelte sie an, wollte mit ihr zum Tanz auf die Dorffeste gehen. Seine Absichten waren klar. Der Vater mäkelte zwar an ihm herum, er sei ungeschickt, ein Trottel, zur Not hielt er ihn aber trotzdem für eine gute Partie für seine Tochter und einen geeigneten Nachfolger als Lehrer im Dorf. Denn der Paul, der war ja schon so lange fort und weit weg, der kam nicht wieder; das hoffte Karl und befürchtete der Vater.
Betty versuchte, Paul vor ihr inneres Auge zu rufen. Sie sah seine hochgewachsene, schlanke Gestalt, sein schmales Gesicht, die klugen Augen, die oft leicht amüsiert dreinblickten, aber oft auch ernst und durchdringend schauten. Wenn er eine charmante Bemerkung gemacht hatte, zog er die rechte Augenbraue hoch und verzog den Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Sie sah die Abenteuerlust aus seinen Augen sprühen, wenn er Pläne für die Zukunft machte. Sie liebte den Duft seiner Zigaretten, seine eleganten Knickerbocker-Hosen, die blanken Schuhe und gut geschnittenen Jacketts, seine früh sich abzeichnenden Geheimratsecken.
Mit Paul konnte sich keiner vergleichen, schon gar nicht Karl.
Karl machte Betty Geschenke noch und noch, Blumen, Schokolade, Pralinen. Er schenkte ihr einen Armreif, der so gar nicht ihren Geschmack traf, ein Parfum, das sie nicht mochte, Taschentücher zu jeder Gelegenheit. Er beglückte sie mit schmachtenden Gedichten und Sprüchen, die er auf kleine Zettel schrieb und ihr vor dem Essen heimlich unter den Teller schob. Er machte Komplimente über ihr blendendes Aussehen, ihr wundervolles Haar, das hübsche Kleid, die zierlichen Schühchen, den vollkommenen Busen.
Zwei Jahre waren nun seit Pauls Abreise vergangen. Im ersten Jahr waren gelegentlich Nachrichten eingetroffen, ein Brief, Funksprüche, ein Telegramm, die sie bei der Poststation in Empfang nahm. „Wir sind ein gutes Team“, ließ er sie wissen. „Wir haben interessante Entdeckungen gemacht, Du wirst staunen. Wir haben die Wüste Alaschan erforscht und kartiert. Die Fahrzeuge bereiten uns gelegentlich Probleme, Wasser ist manchmal knapp. Es gibt Schwierigkeiten mit den einheimischen Führern und Helfern, immer wieder Streit mit den Bewachern, die uns zu wenig Bewegungsfreiheit geben wollen.“
Ein fiebriger Infekt war umgegangen, Paul hatte Verdauungsschwierigkeiten gehabt und stark abgenommen. Er vermisse sie sehr, er träume von ihr, sie versüße seine Träume. Alles was er entdecke, entdecke er für sie. Sie sei der Grund für seinen Überlebenswillen. Er hatte Sorge, dass die Europäer von einem der Nomadenstämme, die Partisanenkriege gegen die Regierung führten, als Geißeln genommen würden, um ihre Forderungen durchzusetzen. Die Handvoll Soldaten, abkommandiert zu ihrem Schutz, war vor kurzem verschwunden.
Dann nichts mehr.
Betty fand nach und nach andere Aufgaben, außerhalb der Haushaltsführung für sich und die drei Männer. Mit älteren Schülerinnen ihres Vaters und jüngeren Frauen, auch aus den Nachbardörfern, veranstaltete sie im Winter regelmäßige Leseabende: neue Romane, Lyrik, Dramen wurden gelesen. Im Sommer sangen sie zusammen und gingen an den Sonntagen gemeinsam spazieren. Dabei lernten sie die Wildpflanzen kennen, die Singvögel, Kriechtiere und bunten Schmetterlinge. Ihr Vater, der ihr den baldigen Schiffbruch mit diesem Zirkel prophezeit hatte, musste sich widerwillig eingestehen, dass seine Tochter das gut machte. Nun, kein Wunder, sie war ja seine Tochter! Er hatte sie nicht auf eine weiterführende Schule schicken können, aber er hatte sie vieles gelehrt, ja, eigentlich fast alles, was er selbst wusste, und das war nicht wenig.
Der Druck auf Betty wurde immer größer. Man sagte, sie solle doch akzeptieren, dass Paul nicht zurück komme, dass er verschleppt worden sei, dass er nicht mehr am Leben sei.
Und da war ein Kerl in ihrer Nähe, der Karl, der sie anbetete, heiraten wollte, sie auf Händen tragen würde. Ihre jüngere Cousine hatte schon geheiratet, ebenso ihre Freundin; die kriegte schon das erste Kind. Und Betty wurde älter.
Nun hatte auch ihr Bruder Frieder von Heirat gesprochen, der Verräter. Er, der sich mit Paul angefreundet hatte, glaubte auch nicht mehr an dessen Rückkehr. „Er wird im Sandsturm umgekommen sein, Partisanen haben ihn erschossen, er ist verdurstet oder verhungert“, meinte Frieder. Sie antwortete ihm nur: „Ich liebe Karl nicht.“ Dem Vater das zu sagen vermied sie.
Dann, zu Ostern, verkündete Betty ihrer Familie und den Freunden überraschend, sie werde Karl übers Jahr, am Ostersonntag, heiraten, wenn von Paul bis dahin kein Lebenszeichen gekommen sei. Sie sagte es unter Tränen. Alle spürten, nur Karl vielleicht nicht in seiner Verliebtheit, dass sie es anders wünschte.
Wie rasch verging dieses Jahr. Lebenszeichen von Paul gab es keine. Ostern stand vor der Tür. Vorbereitungen wurden getroffen, ein Brautkleid gekauft. Gäste waren geladen. Der große Saal im Gasthaus Zum Bären wurde festlich geschmückt, ein Musiker und Unterhalter wurde bestellt, für reichlich Speis und Trank sollte gesorgt sein. Karl erstand Ringe und für sich einen neuen Anzug. Er war überglücklich.
Da wurde Betty von Panik ergriffen. Sie wusste, wenn sie jetzt nichts unternimmt, ist ihr Schicksal entschieden. Aber sie konnte doch nicht Karl heiraten! In aller Herrgottsfrühe zog sie sich an, packte ein paar Sachen ein. Die anderen schliefen noch, alles war ruhig. Sie nahm ihr Fahrrad, verließ das Haus durch die Tür zum Garten und verschwand zwischen den Bäumen. Wo aber sollte sie hin? Sie konnte nicht zu ihren Verwandten, nicht zu ihren Freundinnen, alle hatten sich gegen sie verschworen. Da fiel ihr Gertrud ein, eine Freundin ihrer Mutter, die im nahen Städtchen lebte. Sie hatten einander immer gern gehabt, aber in den letzten Jahren aus den Augen verloren; der Vater konnte Gertrud nicht leiden.
Gertrud war völlig überrascht. Was machte Betty denn hier? Heute sollte doch ihre Hochzeit sein. Aber sie verstand Betty, sie nahm sie auf. Betty schrieb ihrem Vater ein paar Zeilen, damit er wenigstens wusste, wo sie war, dass sie sich nichts angetan hatte.
Betty war unglücklich wie vielleicht noch nie in ihrem Leben. Sie wusste nicht mehr, was richtig war und was falsch. Sie grübelte, sie weinte, sie haderte mit Paul, mit sich selbst, mit ihrem Geschick.
Zwei Tage später stand der Vater vor der Tür, er war hochgradig erregt, stritt sich mit Gertrud, die versuchte, ihn zu beschwichtigen. Er verlangte, seine Tochter zu sehen und mitzunehmen. Betty weigerte sich standhaft. Er hielt ihr vor, was sie Karl und ihm angetan habe, was das für eine Schande sei, im Dorf zerrissen sie sich die Münder. Er drohte ihr, er wollte sie zwingen.
Als er in seinen wilden Reden eine Pause einlegte, sagte sie knapp und entschieden, sie könne Karl niemals zum Manne nehmen, Versprechen hin oder her. Karl sei einfältig; nichts, absolut nichts fände sie an ihm, ja, er ekle sie an. „Dann bleib doch, wo der Pfeffer wächst. Meine Tochter bist Du nicht mehr!“ Noch nie hatte Betty den Vater so wütend gesehen.
Einige Tage später kam der Vater zurück. Sie erkannte ihn nicht wieder. Schon von weitem rief er laut ihren Namen, ein übers andere Mal. Es klang freudig, gar nicht mehr zornig. Er hatte neue Nachricht, gute Nachricht, eine Nachricht von Paul!
Peking, Palmsonntag 1929
Meine Betty, meine liebste!
Von allen Sorgen, die ich mir gemacht habe, sind die meisten eingetroffen. Wir sind in einen schrecklichen Sandsturm geraten. Ich bin fast verdurstet. Ich war sehr krank. Einige meiner Kameraden sind umgekommen. Inzwischen geht es mir besser. Jetzt bin ich in Peking. Morgen fahre ich nach Hongkong und schiffe mich nach Europa ein. Wir waren sehr erfolgreich, ich habe vieles Neue entdeckt, was vor mir noch niemand (kein Europäer) gesehen hat. Wir haben das Geheimnis des Lob nor gelüftet.
Wann werde ich Dich wiedersehen, Dich in meine Arme schließen? Ich sehne mich nach Dir. Hab noch Geduld. Es wird bald sein.
Mit lieben Grüßen
Dein Paul
Betty verließ ihre Zuflucht. Im Dorf wusste man die Neuigkeit schon. War Betty eine Hellseherin, hatte Gott ihr ein Zeichen gegeben? Welch glückliche Fügung. An Karl dachte niemand mehr.
Dann aber wieder nichts. Nichts als Warten, Warten. Endlich kam eine Nachricht, aus Hamburg.
Meine liebste Betty!
Bin in Hamburg angekommen. War schwer seekrank. Das war fast so schlimm wie in der Wüste. Würde am liebsten sofort nach Hause kommen und Dich wiedersehen, muss aber erst nach Berlin. Die Geographische Gesellschaft, die unsere Expedition finanziert hat, will, dass ich zuallererst einen Kurzbericht über die Reise schreibe, zusammen mit Professor Günter.
Der Präsident der Gesellschaft will mich sprechen, vom Reichspräsidenten und vom Kanzler soll ich empfangen werden. Die Vorstände der Lufthansa wollen mit uns konferieren. Ich soll gleich einen Vortrag halten, man will mich auf große Gesellschaften einladen. Zeitungen wollen Interviews mit mir machen.
Schon wieder bin ich krank, krank vor Sehnsucht nach Dir. Am liebsten würde ich nur gleich Dich sehen, mein süßes Herz, meine liebe Freundin. Aber es geht nicht. Bitte hab etwas Geduld. Es wird noch einige Wochen dauern.
Dein baldiger Ehemann
Paul
Hab etwas Geduld! Hatte sie nicht schon so viel Geduld gezeigt? Und sie sollte, wo er doch schon so nah war, sich weiter gedulden? Konnte der Bericht nicht noch eine Woche warten, eine Woche, in der er kommen würde, in der sie sich endlich wiedersehen könnten? Nein, es ging nicht, sie wurde noch nicht einmal gefragt. Sie war so enttäuscht wie in den ganzen Jahren zuvor nicht. Nun konnte sie auch nachfühlen, wie sehr sich Karl von ihr verletzt gefühlt haben musste, als sie ihn am Tag der Hochzeit verließ.
Es kamen noch weitere Briefe aus Berlin. Sollte sie antworten? Sie hätte ihn gern durch Ignorieren bestraft, aber noch lieber wollte sie ihm schreiben. Also schrieb sie zurück. Paul berichtete ihr über den Fortgang seiner Arbeit. Das Schreiben seines Berichts schien ihm keinerlei Freude zu bereiten, ja, ihm eine Qual zu sein, er schien es zu hassen. Aber man verlangte es von ihm. Lieber hätte er sich wieder den Gefahren des Abenteuers ausgesetzt. Besser schien ihm zu gefallen, dass er in Berlin allmählich ein bekannter Mann war, man bewunderte ihn, man schmeichelte ihm. Aber er musste jetzt die Partys und Vergnügungen absagen, das verlangten Professor Günter und die Geographische Gesellschaft, sonst wäre es mit dem Bericht nicht voran gegangen. Und er hatte einen Termin für die Fertigstellung bekommen.
Pauls Liebesschwüre fingen an, sich formelhaft zu wiederholen. Irgendwann kam Betty der Gedanke, eine andere Frau könnte im Spiel sein. Sollte sie ihn in Berlin aufsuchen? Dazu war sie zu stolz. Seine Briefe wurden seltener. Er entschuldigte das mit der vielen Arbeit, mit der er überhäuft sei.
Plötzlich war er da, im Dorf. Er hatte sich nicht angemeldet. Es sollte eine Überraschung für Betty werden. Er kam zurück, wie er weggefahren war, mit dem Postbus, nur jetzt ohne großes Gepäck. Das sollte nachkommen. Er hatte unauffällig kommen wollen. Als er ausstieg, erkannte ihn sofort einer. Im Nuh kamen andere Leute hinzu, die ihn überschwänglich begrüßten. Da war er nun, der bekannteste Mann, den die Gegend je hervorgebracht hatte! Mit Jubel brachte ihn der kleine Zug zum Lehrerhaus.
Da stand sie nun in der Tür, Betty, in Hauskleid und Schürze. Sie sah ihn mit Unglauben, mit Überraschung, und mit einem Mal stieg die ganze Enttäuschung in ihr auf. Er stürzte auf sie zu, wollte sie in die Arme schließen, er war voll Sehnsucht nach ihr.
Da knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Sie zitterte, das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Scheiß auf Penelope!
Wie Paul diesen ersten Abend in der Heimat verbrachte, wusste er am nächsten Morgen nicht mehr genau. Er wachte in einem Gastzimmer auf, es war der einzige Gasthof in der Nähe, im Nachbarort. Es hieß, er habe Bier gesoffen bis zum Überlaufen. Er fühlte sich miserabel.
Nach dem Frühstück bekam er Besuch, Frieder. Zuerst redeten sie Belangloses, über das Dorf, seine Bewohner, was sich verändert hatte, was geblieben war wie früher. Dann kamen sie zum Wesentlichen. Paul wollte wissen, was mit Betty war. Fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen, hatte sie ihn aufgegeben, wollte sie ihn nicht mehr? Verstand sie ihn denn nicht, sah sie denn nicht, dass er so hatte handeln müssen?
„Nein“, sagte Frieder, „meine Schwester versteht das alles nicht mehr; jahrelang hat sie an dich geglaubt, an deine Liebe, deine Rückkehr zu ihr. Sie liebt dich immer noch. Aber jetzt müsse alles von vorne beginnen, meint sie, ihr müsstet euch neu kennen lernen, du müsstest um sie werben wie früher.“
Am nächsten Tag stand Paul erneut vor der Tür des Lehrerhauses. Er hatte sich fein gemacht, Anzug, Krawatte, er brachte Blumen, hatte ein Geschenk. Der Vater öffnete, umarmte ihn, sagte, wie schön es sei, wie er sich freue, dass Paul wieder da ist, nach so langer Zeit. Er bat ihn ins Haus, in die gute Stube, bot ihm Zigaretten an, einen Schnaps. „Du bist ja immer noch der Verlobte meiner Tochter, so kann man das doch sagen, auch wenn ihr damals keine Ringe getauscht habt. Und jetzt will ich meine Tochter holen.“
Paul und Betty verlebten glückliche Wochen. Tagsüber schrieb er oft an seinem ausführlichen Buch über die Expedition. Am Abend waren sie zusammen, sie redeten, hatten sich viel zu erzählen. Sie kochte für ihn. Er wurde wieder kräftiger. Sie streiften durch die Natur. Sie liebten sich, sie heirateten – endlich. Ihr erstes Kind kam auf die Welt, ein Junge, Heinz. Nun gehörte Paul ihr, ganz, glaubte sie.
In der kleinen Stadt war eine feste Lehrerstelle frei geworden, sie schlug ihm vor, sich dort zu bewerben, er hätte gewiss die besten Chancen, bei seiner Bekanntheit, seinem Ansehen. Sie hoffte, er würde zustimmen.
Er glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben. Es sei doch viel zu früh, sich schon dauerhaft irgendwo niederzulassen. Sie war enttäuscht. Er träumte von neuen Abenteuern. Frieder, nun sein Schwager, träumte mit ihm. Das Buch war fertig, er reiste für Wochen in die Reichshauptstadt und kam mit neuen Plänen zurück. Sie erschrak zutiefst. Wollte er sie etwa wieder zurücklassen, allein, mit dem zweiten Kind im Bauch?
Die neuen Pläne zerschlugen sich erst einmal.
Paul nahm die Lehrerstelle an, sie zogen um. Doch unterrichten, faule oder unbegabte Kinder, die eingezwängt auf alten Holzbänken saßen, auf denen schon ihre Eltern und Großeltern die Kindheit zugebracht hatten, in muffigen Räumen, der Rhythmus des Daseins bestimmt durch das Läuten der Pausenglocke, das war nicht nach Pauls Geschmack. Er war zutiefst unglücklich, er litt. Hiergegen waren die Qualen des Dursts und des Hungers in der Wüste leicht zu ertragen gewesen. Dort war er frei, hier fühlte er sich geknechtet. Dort hatte auf ihn eine große Aufgabe gewartet, hier war alles Routine, Langeweile. Sollte er hier den Rest seiner Tage verbringen?
Und Frieder stachelte ihn an. Wovon er selbst nur phantasierte, das sollte sein Freund und Schwager vollbringen. Er habe doch eine Verantwortung für die Wissenschaft, für Deutschland, flüsterte Frieder ihm ein.
Die Familie war um Helmut weiter gewachsen, ein drittes Kind war unterwegs. Wenige Jahre verheiratet, und schon drei Kinder! Paul brauchte Betty nur mit Lust anzusehen, schon war sie schwanger. Und er hatte solche Lust auf sie!
Er konnte sich nicht beklagen, er hatte die beste Frau, die er sich wünschen konnte. Sie liebte ihn, mehr denn je. Was wollte er mehr vom Leben? Doch er fühlte sich eingeengt, auch von ihr. Und was war, wenn die Familie weiter wuchs? Er machte sich Sorgen. Wie sollte er alle satt bekommen, wie sie groß ziehen?