… „ein Versprechen, …
dass die schützende Macht,
wenn auch die Omnipotenz*
auf jeder Schwelle und
bei jedem Erwachen zu
neuem Leben bedroht scheint,
immer, und für immer,
im Heiligtum des Herzens
gegenwärtig ist und auch in oder
hinter dem unvertrauten Antlitz der Welt.
Man braucht nur zu wissen und zu vertrauen,
damit die alterslosen Wächter erscheinen.“
Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. (1949)
* (lat: omnis: alles, ganz, potentia: Kraft, Macht, Vermögen, Fähigkeit)
Sonne, Mond und Sterne
Inhalt
Einführung
Die Vorbereitung
Aufbruch
Der Große Fluss
Orientierung
Vorboten und Wegezeichen
Arglist und Fallstricke
Zwischen Himmel und Erde
Ohlescha
Die entsiegelte Frage
Wenn zwei Wege sich finden,
zum großen Kreis sich verbinden
Feuerland
Zusammenkunft im Kahlen Berg
Neue Pfade und Entschlüsse
Die Wasserreiche
Die Zeichen der Drachen
Botschaften am Grünen Fluss
Das Felsenschloss
Die Ereignisse verdichten sich
Das Tor der Worte
Ursprungsland im Farnwald
Des Wandels Licht zeitigt sich
Die Stadt der Brücken
Das geheime Labyrinth
Winterland
Das Lichtfest am Mittwintersee
Zu einer Zeit, in der sich im Reich der Menschen die allermerkwürdigsten Dinge ereigneten, stand jemand auf dem Dach eines verfallenen Hauses und war zutiefst verzweifelt.
„Hilf mir Himmelswind zu fliegen, lerne mir fliegen, mit dir zu fliegen!“ Diese flehende Leere umklammerte mit eiskaltem Griff das Herz. Ein steckengebliebener Schrei drückte die Kehle zu. Vor einigen Tagen war alles noch ganz anders gewesen. Augen und Kopf drehten sich rastlos voller Panik hin und her. Spitze Zweige stachen zu, als sie sich weit vornüber lehnte. Sie fasste sich zitternd an den schmerzenden Bauch. Ich sterbe, ich sterbe.
Der Fotograf ließ seine Augen über die steilen Dächer schweifen. Laute Rufe, die vom Himmel zu kommen schienen, drangen in seine Ohren. Er suchte in den vorbeiziehenden Wolkenfiguren und zückte seine Kamera. Dabei tauchte vor seiner Linse ein Kaminkehrer auf. Sein schwindelerregender Spaziergang auf dem Dachfirst lenkte ihn ab. Doch wieder irritierten ihn die befremdlichen Laute.
Für kurze Zeit änderte er seinen Blickwinkel und stutzte. Neugierig geworden, zoomte er das schreiende Etwas näher zu sich heran. Wild gestikulierend bedeutete er dem Kaminkehrer das breite Nest über den Dächern. Endlich reagierte er. Dann begann eine gewagte Rettungsaktion. Der Fotograf nahm das zarte Geschöpf vorsichtig an der Leiter in Empfang, er klemmte es fest unter seinen Arm.
Dunkle, weit aufgerissene Augen sahen ihn an, als er es absetzte. Sehnsuchtsvoll. Das Wesen berührte ihn.
Seltsam, wie aufrecht es auf zwei Beinen steht… Entschlossen hob er den Findling wieder auf und trug ihn nach Hause, nicht ohne zu fühlen, wie er sich vogelig flatterig, ganz leicht an ihn schmiegte.
Der Begegnung mit seinem Haustier sah er allerdings mit gemischten Gefühlen entgegen. Der Kater saß erwartungsvoll da. Der Hausherr musterte ihn eingehend, während er das zitternde Wesen absetzte. Lennie erhob sich, knurrte leise und zog mit Abstand einen Kreis um den Eindringling.
Der Ankömmling vibrierte.
Falle, falle, kann nicht fliegen, alles verschlossen, eng so eng! Weg, nur weg! Himmelswind, Himmelwind wo bist du? Der feine Flaum an dem bebenden Körper stellte sich auf, gespreizte flügelgleiche Arme standen aufgeregt zur Seite.
Der Fotograf stellte sich knapp hinter das Katzentier in Stellung, jederzeit bereit es zu ergreifen. Des Katers Schnurrhaare trafen auf fremde Beine. Als er den Kopf hob, streifte etwas an den Ohren.
Das fremde Wesen erstarrte. Es hielt den Atem an. Sein Gesicht verzog sich unter geweiteten Augen zu einer Grimasse. Kurze Atemstöße folgten. Ein angesetzter Schrei erstarb auf halbem Weg, als Lennie begann an ihm zu schnuppern.
Vor seiner Nase blendete ihn plötzlich eine glänzende Perle. Er hob die Pfote und zeigte die Krallen. Alarmiert bewegte sich der Fotograf auf den Kater zu. Nun hatte er beide gut im Blick. Die Augen nahmen dabei etwas Rötliches wahr. Noch bevor Lennie seinem Spieltrieb freien Lauf lassen konnte, verfing der Kater sich ihn Wollfäden. Das kitzelte ihn an der empfindlichen Nase, sodass er auf der Stelle herzhaft zu niesen begann.
Ein Band aus Wolle hielt das rote Tuch zusammen, das dem Wesen um die Schultern lag. Es lockerte sich. Das zischende Geräusch durchfuhr die Trägerin des roten Stoffes mit panischem Schrecken. Augenblicklich flüchtete sie unter das alte Sofa.
„Wie heißt du“, flüsterte der Kater, nachdem etwas Ruhe eingekehrt war. Er legte den Kopf auf den Boden und blickte unter das Sofa.
Das verschreckte Etwas war in die hinterste Ecke geschlüpft und kauerte dort. Es öffnete vorsichtig die Augen, seine Lider erzitterten. Wann, nur wann sprach jemand zuletzt so zu ihr? In dieser vertrauten Sprache? Kurz blitzte ein Bild in den Geist. Ein Berg im Nebel. Grünes Wasser und in Gold getauchtes Land.
„Gwendolyn“, hauchte es tonlos aus einer längst entschwundenen Welt, sie rutschte ein Stück näher und blickte in zwei schwarz blitzende Augenschlitze. Der Kater schob sachte eine seiner weichen Pfoten entgegen. Rosa Ballen, mit samtiger Haut.
In diesem Moment griff der Fotograf nach dem Kater, trug ihn in den mit großen Fenstern ausgestatteten Vorraum vor der Veranda und schloss die Glastür.
„Hüte dich Lennie!“ Er strafte ihn mit einem ernsten Blick.
Gwendolyn beobachtete genau, was das große Menschenwesen tat. In einem Futternapf stellte es etwas zu essen bereit, kurz darauf verschwand es.
Dann war sie allein.
Als es dämmerte, traute sie sich aus dem dunklen Schutzraum hervor. Hunger hatte sie nicht, das flaue Gefühl im Bauch wollte einfach nicht nachlassen. Den Kopf nach allen Seiten wendend, befühlte sie mit feinen langen Fingern ihre Glieder, so als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch ein Ganzes und nicht in Tausend Teile zersprungen war. Das gelockerte Band zog sie schnell wieder fest.
Alles war still. Mit leisen, schlurfenden Schritten ging sie im Raum umher. Der Holzboden knackte. Wieder tastete es aus weiter Ferne, ein Nebelland, eine unerreichbare Hand. Warum war es nur so kalt? Sie fröstelte. Was war geschehen? Wo doch Tage zuvor noch Wärme und Wohlbehagen um Gesicht und Körper streiften und noch alles in Ordnung gewesen war.
Eine Glastür. Dahinter schlief der Kater im Korb. Durch eine zweite durchsichtige Wand drangen grüne Flächen. Weiter oben sah sie ihn.
„Himmelswind!“ flüsterte sie. Das beruhigte sie, denn sie hatte das Gefühl, dass der Himmel eine Art Verbündeter sein musste. Damit hatte sie nicht unrecht, denn die starken Winde des Himmels waren das Erste gewesen, das sie im freien Flug zur Erde am meisten gespürt hatte. Hoch über den Wolken. Zwischen den Sternen. Jemand oder etwas hatte sie hierhergetragen. Alles andere klaffte in einem tiefen Vergessen.
Lange Zeit stand Gwendolyn reglos da und blickte mit flehenden Blicken in die endlose Weite, als gelte es ihr eine Erinnerung abzuringen. Um Mitternacht schließlich umfing die Hand den Griff der Glastür. Sie drückte ihn langsam nach unten.
Der Kater bemerkte sie erst nicht. Später tat er so, als sähe er sie nicht. Mit Erstaunen beobachtete er, wie sie die Tür öffnete. Mit einem Mal war er hellwach. Als sie sich seinem Korb näherte, fing er allmählich an sich zu strecken. Dem eleganten Katzenbuckel folgte ein weites Gähnen. Dabei entblößte er spitze Zähne.
„Tu mir nichts“, flüsterte Gwendolyn erschrocken. Ihre Augen verfielen in unruhiges Blinzeln. Lennie machte Anstalten aus dem Korb zu steigen. Das Wesen wich zurück, stotternd sagte es: „Und, und komm mir nicht zu nahe!“ Der Kater hielt inne. Seine Pfote baumelte kurz bewegungslos in der Luft. Er schaute erstaunt an ihr hinab.
„Sind das Menschenschuhe?“ Das Katzentier rümpfte verächtlich die Nase. Geschmeidig vollendete es die Bewegung, setzte sich und leckte genüsslich an den rosa Ballen. Gwendolyn ging in die Hocke. An der rundlichen Spitze ihrer weißlich flaumigen Stiefel schimmerten blaue Halbmonde.
„Sie leben, doch siehe selbst!“ Sie konzentrierte sich auf das Halbmondspiel, wie sie es im Nest des braunen, warmen Vogels oft getan hatte, bis sie irgendwann allein war. Wie von Zauberhand stellten sich die kleinen Monde auf und drehten sich im Kreis, dabei schillerten sie.
„Wie machst du das“, fragte der Kater beeindruckt und fächelte spielerisch mit seiner Pfote um die Monde, bis er mit der Nase näher an die wundersamen Stiefelspitzen herankam.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Gwendolyn leise. Ein rätselhaftes Lächeln entglitt ihr. Von diesem Moment an war Lennie völlig hingerissen von diesem fremdartigen Geschöpf, das ihm offenbar der Himmel höchstpersönlich geschickt hatte.
Als der Hausherr am nächsten frühen Morgen von seinem Schlafgemach nach unten kam, glaubte er den Augen nicht zu trauen. Sein Findelkind lag neben dem Kater, schlafend im Korb, daneben der leere Futternapf.
Das Haus barg die Jahre über viele Möglichkeiten für Spiele. Im Keller gab es die geheimsten Verstecke. Der Garten um das Haus lud zu den gewagtesten Expeditionen ein. Auf dem Dachboden fanden sich zahlreiche alte Bücher und andere vergessene Schätze.
„Ich habe einen Schatz gefunden“, schrie Gwendolyn. An den Händen klebte dick lehmige Erde. Leider war die Erde nur schwer von dem Schatz zu befreien, der sich erst nur silbrig schimmernd an einer Stelle zeigte. Der Kater war gleich zur Stelle.
„Wie du wieder aussiehst“, sagte er scheinbar uninteressiert und schlich mit Bedacht um das gegrabene Erdloch. Erst vor einer Stunde hatte er sich ausgiebig die Pfoten gesäubert und seine Schatzsuche beendet. Immerhin hatte er einen grünen, dreieckigen Edelstein gefunden, wenn er auch den Fliesen im Bad des Hauses glich. Diesmal hatte eindeutig er den bildschönsten Fund vorzuweisen. Mit gönnerhafter Pose setzte er sich. Und doch ist sie wieder einmal erpicht darauf, dass sie den schönsten Schatz findet, dachte er argwöhnisch und missgelaunt ob ihrer nie endenwollenden Begeisterung Dinge aufzustöbern.
Gwendolyn keuchte. Der Silberschatz war nur schwer zu bergen. Sicher hatte ihn jemand genau hier vergraben, damit sie ihn finden sollte. Endlich war es so weit. Stolz hob sie ihn in die Höhe.
„Lennie, Lennie schau doch! Ein Silberbecher!“ Ihre Augen leuchteten. Sie reckte ihm eine zerbeulte Blechtasse vor die Nase. Der Kater machte ein verständnisloses Gesicht. Sie aber fand ihren Fund als den schönsten der Welten Schätze!
Ein anderes Mal fanden sie nach regenreichen Tagen im Frühsommer, am Flusslauf unweit des Hauses, allerlei Angeschwemmtes aus Holz. Sie fertigten daraus Wurzelzwerge. Während Lennie unablässig mit den Zähnen Rinde von Astholz befreite, schnitzte Gwendolyn mit geschickten Händen und einem kleinen Messer, eifrig Augen, Nase und Mund in die glatte Haut des Holzes. Nachher stellten Sie die Zwerge auf den Brunnenrand und spielten:
„Schwimmen lernen oder in den Abgrund stürzen.“
Die wundersame Figur am Brunnen gewahrte sie erst im nächsten Sommer an einem besonders heißen Tag. Die geflügelte Marmorstatue goss mit einer Amphore in Händen Wasser in das obere Becken des Brunnens. Sie blickte hoch.
Was es wohl ist? Es hat Flügel. Doch es kann nicht fliegen. Der Ort umgab sie mit einer seltsamen Vertraulichkeit. Er wurde zu einem ihrer Lieblingsplätze. An schwülwarmen Nachmittagen saß sie mit dem Kater zusammen zuweilen stundenlang im Wasser des unteren Beckens.
„Wolkenvogel“, sagte Lennie.
„Sommerschneemann“, erwiderte Gwendolyn.
Lennie wanderte mit weißem Hut am Beckenrand entlang. Meist waberten Unmengen von Seifenschaum um den Brunnen, als sie die Plantschtage beendeten.
„Schwarzes Wasser“, sagte Gwendolyn, „schwarzes Wasser im Himmel.“
Sie lagen mit verschränkten Armen am Hinterkopf auf dem Rücken und erforschten an einem Spätsommerabend den Sternenhimmel.
„Und dahinter?“, fragte der Kater, „was ist dahinter?“
„Ein hinteres Dahinter natürlich“, erwiderte die Freundin und murmelte halblaut, „ob es wohl ein allerhinterstes Dahinter gibt?“ Lennie dachte krampfhaft nach, bald schon runzelte er müde die Stirn.
„Die Sterne sind gerade vom Himmel gefallen“, flüsterte Gwendolyn kaum hörbar, als sie unmerklich die Augen geschlossen hatte und einen Augenblick später unter dem grenzenlosen Sternenzelt eingeschlafen war.
Einmal überraschte die Freunde an einem dieser Tage ein Gewitter. Der Himmel tauchte sich in dunkelstes Dunkelgrau und bedrohliches Donnergrollen tönte über der nahen Stadt. Der Kater legte die Ohren an. Draußen flogen Äste und wirbelten Blätter. Der Wind stob über die Wiesen und ein Blitz erhellte die Marmorstatue auf dem Brunnen, so als ob es Tag wäre.
Am nächsten Morgen hatten sie viel Gelegenheit für die von Gwendolyn erfundenen Retterspiele.
„Nicht schon wieder“, meinte Lennie, der dieser Art von Spiel bereits überdrüssig wurde.
„Nicht wieder die Gänseblümchen oder die Regenwürmer!“ Wieder einmal kümmerte sie sich rührend um einen durchtrennten Regenwurm, den sie dann aus unerschütterlicher Überzeugung mit einem Pflaster wieder zu verbinden suchte, während Lennie nur kopfschüttelnd danebensaß. Auch fand sie eine vom Sturm abgeknickte Sonnenblume. Sie erbarmte sich des Blütenkopfes und legte ihn zwischen die Seiten eines dicken Buches auf dem Dachboden. Dann beschwerte sie das Buch mit allen Büchern, die sie finden konnte. Ganz oben auf, setzte sie sich dann eine Weile selbst, so als wollte sie den Vorgang des Trocknens beschleunigen, indem sie einige Zeit auf dem Stapel brütete.
Wie in jedem Herbst bauten sich die Freunde am gemeinsamen Lieblingsplatz zu dieser Jahreszeit am Dachboden kleine Behausungen. Die blauen Decken wurden mit Schnüren an den Dachbalken befestigt. Sie spielten Labyrinth und Verstecken, verkleideten sich als zähnefletschende Monster und versuchten den jeweils anderen zu erschrecken. Vor dem alten Spiegel begutachtete Lennie die Spielgefährtin.
„Du siehst aus wie ein alter Hexenelefant ohne Rüssel!“
„Und du“, erwiderte Gwendolyn, „siehst aus wie ein tollpatschiges Papageienzebra ohne Streifen. Doch du hast dafür grüne Zehen!“ Sie lachte. Tatsächlich hatte sie ihn überreden können sich die Ballen grün anzumalen, da sie der Überzeugung war, dass Zebras, die so viel über grüne Wiesen laufen, sicher grüne Hufe hätten.
Aus einem langen dunklen Winter entwand sich endlich wieder ein zartgrüner Frühling. Das Wasser des Brunnens in der Mitte des Gartens glitt durch Gwendolyns Finger, begoss die fein schimmernde Haut, der mittlerweile lang gewachsenen Arme. Die weiße Figur dort oben schien sehnsuchtsvoll zu blicken. Immer geheimnisvoller mutete sie diese Statue an. Lauschend sog sie das Geräusch des Wassers in sich ein, das vier Tierköpfe aus Stein in das untere Becken spuckten. Sie fühlte sich plötzlich, als wäre sie in der Nähe eines Wesens ihrer Art, das Geschichten über ihre Herkunft erzählte, die sanft in den Brunnen plätscherten.
Mit der Zeit begann sie ein schmerzliches Sehnen zu plagen. Gleichsam, als hätte sich urplötzlich ein Abgrund aufgetan. Etwas drängte in ihr, was sie sich nicht erklären konnte. Ein Verlangen, das sie in die Ferne zog und gegen das sie sich nicht erwehren konnte.
Gwendolyn beobachtete den Hausherrn, wie er am Tisch saß und Fotos sortierte. Mittlerweile konnte sie gemütlich den Kopf auf der Tischkante ablegen. Diese Fransen vor dem spitzen Ohr liebte er. Er zupfte sie daran. Blitzschnell kam die Antwort. Jaulend lachte er auf. Wieder einmal hatte sie ihn an der empfindlichen Stelle in der Kniekehle erwischt. Mit Rührung beobachtete er, wie seine beiden Schützlinge bald im Spiel umhertollten. Er lächelte und unterbrach für eine Weile die Arbeit. Und - weg waren sie. Der Fotograf hörte sie die Treppen zum Dachboden hinaufeilen.
Dort, spätabends, platzierte sich Lennie auf einem runzeligen Hut, während seine Spielgefährtin gegenüber an der Wand lehnte. Er beobachtete sie, während sie mit einer Kerze in der Hand aufstand und in den alten Koffer stieg, der ihr Boot sein sollte. Dann tat sie kund, dass sie nun im schwarzen Wasser des Himmels die Sterne zum Leuchten bringen wollte.
Flüsternd war ihre Stimme in dieser Nacht, fast wie ein Singsang aus einer anderen Welt. Wispernd, Ton um Ton, drang es sanft und tief in des Katers Ohren. Der weiche Lichtschein der Kerze malte bewegte helle Flecken auf den roten Umhang, der stets um sie wogte und ihm heute vorkam, wie der eines traumtrunkenen Musketiers. Ja, wie seltsam wundersam sie ihm heute erschien.
„Ich werde von hier fortgehen“, sagte Gwendolyn plötzlich, unterbrach das Spiel, stieg aus dem Koffer, klappte ihn zu und setzte sich entschlossen oben auf.
Einige Wochen später, die blaue Stunde brach gerade an, stieg Gwendolyn auf den Dachboden. Vom Schrank spannten Spinnennetze zu den schrägen Dachbalken. An einer Stelle baumelte eine Schaukel. Verstaubte Marionetten hingen mit den Fäden leblos an einem Kleiderständer. Gesplitterte Keramik lag zwischen. Auf dem alten Lederkoffer hatte sich eine dicke Schmutzschicht gebildet.
Auf der Suche nach einem Lappen fiel ihr eine pflaumenblaue Mütze in die Hand. Dann stieß sie auf eine getrocknete Sonnenblume. Wenig später lag der Koffer gesäubert und aufgeklappt da und in ihm sogleich der gelbe Blütenkopf. Der Welten schönster Schatz, die silberne Blechtasse, fand sich bald neben Kerze, einem Notizbuch, Kreide, einem Wurzelzwerg und Feuerhölzern. Ein Messer und eine dicke Schnur wickelte sie rasch in eine der blauen Decken ein. Erleichtert ließ sie das Schloss zuschnappen.
Der Fotograf schlief, als sie an seinem Bett stand. Dankbar berührte sie mit ausgestrecktem Finger zart eine Wange und fuhr daran vorsichtig entlang. Sie hatte ihn nicht geweckt. Dann drehte sie sich um und ging leise die Treppe hinunter.
Am Gartentor saß der Kater auf den Hinterbeinen und schaute zu ihr empor. Gwendolyn beugte sich nach unten. Er strich ihr tänzelnd über die Vorderseite und seine Schnurrhaare berührten sie kosend.
„Leb wohl Gwendolyn“, sagte er traurig,
„Leb wohl Lennie“ erwiderte sie.
Der Abschied schmerzte.
Sie stülpte die pflaumenblaue Mütze über den Kopf. Der eingeschlagene Feldweg mündete in Pfade zwischen noch kahlen Sonnenblumenfeldern hindurch und sie dachte an die getrocknete Blüte in ihrem Koffer.
Der Waldrand war schnell erreicht. Aufgerüttelt blieb sie dort stehen. Der Frühling hatte doch gerade erst begonnen und hier wuchsen Himbeersträucher mit Fingerhut großen Früchten daran! Verzückt pflückte sie eine rote Beere nach der anderen. Sie schmeckten süß und saftig. Ein auffälliges Rascheln ließ sie aufhorchen. An der letzten Beere verschluckte sie sich geradezu, als sie, wie aus dem Nichts zwei kugelförmige, dunkle Augen anblickten. Gwendolyn erschrak. Eine Stimme unterbrach jäh den Augenblick des Schweigens.
„Warum störst du mich?“
Die Hüterin des Spiralbaumes schaute irritiert auf das blaue Ding auf dem Kopf des Wesens. Gwendolyn fuhr zurück. Einen Moment später reckte sie jedoch den Kopf wieder nach vorne.
„Verzeihung“, stolperte es aus ihr heraus. „Ich habe dich nicht gesehen!“ Sie fühlte Augen aus dem Strauch an ihr herab gleiten. Das Wesen hob seinen bläulichen Fellkopf aus dem Himbeerstrauch.
„Natürlich nicht“, erwiderte dieses mit seufzender Entrüstung in der Stimme – „ich bin schließlich unsichtbar.“ Es kann mich also sehen, dachte die Hüterin. Wer ist sie? Und doch kann sie kein Mensch sein, wenn sie auch Hände wie ein Mensch hat. Menschen kamen an diesem Gesträuch so gut wie nie vorbei.
Verwundert musterte Gwendolyn das Gegenüber. Wie ein Springball kam es plötzlich auf sie zu und landete auf der Erde. Erneut wich sie zurück. Es reichte ihr gerade mal bis zum Bauch, unterhalb des Kopfes steckte es in Kleidern wie ein Mensch! Es trug einen Rock und darüber einen lehmbraunen Kittel. Im nächsten Moment machte das eigenartige Strauchwesen einen Satz und setzte sich auf einen nahe gelegenen Ast in Augenhöhe. Die Äste mit den reifen Beeren über den beiden Köpfen schwankten hin und her.
„Magst du vielleicht noch ein paar Beeren haben?“, fragte es mit verführerischer Stimme.
Die Hüterin griff nach den reifen Früchten. Sie reichte dem eigenartigen Fremdling einen Zweig mit besonders dicken Exemplaren. Doch als dieser näher kam, hielt sie den Zweig immer mehr nach oben, er musste sich regelrecht nach ihm ausstrecken. In diesem Augenblick entdeckte Gwendolyn hinter den Himbeersträuchern einen mächtigen Baumstamm. Die rundliche Öffnung zierten spiralförmige Schnitzereien.
„Was ist das und wer bist du?“, fragte sie und schnappte sich den Zweig mit einem schnellen Griff. Die Hüterin zögerte und kratzte sich am Kopf.
„Wenn du willst“, sagte sie, „lade ich dich zu meinem Himbeergeist ein, ein köstlich frisches Getränk erwartet uns bei ihm!“ Sie deutete auf die Öffnung hinter sich.
„Ich heiße Fendalin und bin die Hüterin des Spiralbaumes. Gwendolyn beobachtete, wie sie in der Öffnung verschwand. Nochmals erschien sie mit halbem Kopf und forderte sie mit knappen Worten auf, ihr nachzukommen.
Obwohl das Wesen ganz und gar nicht geheuer erschien, war sie doch neugierig genug dieser Aufforderung zumindest teilweise nachzukommen, riskierte einen verstohlenen Blick zum Baumloch, erklomm wenig später mit Mühe den Stamm und steckte, ohne noch weiter zu überlegen, vorwitzig den Kopf hindurch.
Mit dem darauf folgenden Sog hatte sie nicht gerechnet, der sie aufnahm wie eine Windhose. Sie fiel. Purzelbaum schlagend verlor sie die Orientierung. Die Hände streiften ab und zu an glattes Gestein, während es unablässig nach unten ging. Die Schreie, die erst nicht aus ihr herauswollten, entluden sich mit einem Mal.
Am Ende fing sie etwas auf, ähnlich einer durchsichtigen Wattewolke. Kurz darauf stand der Koffer neben ihr. Fendalin erwartete sie mit verschränkten Armen geduldig und half ihr auf die Beine. Blinzeln. Verschwommene Formen drangen in halb geöffneten Augen. Wilde, grüne Monster kreisten sie ein, weiße Blütenaugen musterten sie. Die schlängelnden Fangarme entpuppten sich bald als tunnelartige Wege, voll von dichtem Blattwerk und roten Beeren! Und wie es duftete! Sie blieb einige Momente sprachlos stehen.
Wo bin ich hier?
Fendalin zog sie zu einer Tür. Drinnen fand sie ein mit Moos bezogenes Sofa, es roch nach feuchter Erde. In zwei kleinen runden Fenstern wuchsen purpurfarbene Blumen. Eine Treppe führte nach oben und eine nach unten. Dann nahm Fendalin zwei Gläser aus dem Regal.
„Komm mit in den Keller“, sagte sie ziemlich direkt, als gelte es die Angekommene davon abzubringen, sich unnötige Gedanken zu machen.
Ohne große Erklärung folgte ihr Gwendolyn also gehorsam, mit bangen Gefühlen, oh ja, das kann man wohl behaupten, denn sie hätte zunächst lieber tausend Fragen auf einmal gestellt. Alles war so schnell vonstattengegangen, dass sie sich in einem akuten Zustand der Überrumpelung befand, gleichwohl aber spürte, dass hier kein Auskommen war. Stumm versuchte sie vorerst das Durcheinander im Kopf zu verlassen und folgte dem seltsamen Wesen, das ihre Sprache beherrschte, in die Tiefen des Erdkellers. Das erforderte ihren Mut, aber diejenige, der sie hinterdrein folgte, wie ein Küken der Henne, erweckte kein Misstrauen, sie entfachte vielmehr eine unbezähmbare Neugier.
Allerlei Gerät stand an der Treppe, Regale mit Einmachgläsern und Holzvorräte für den Winter.
Ein Zischeln ließ sie aufhorchen, als sie ein mit gewundenen Wurzelhölzern gestütztes Kellergewölbe erreichten. Gwendolyn glaubte zunächst nicht, was sie sah.
Ein rosig schimmernder Himbeergeist neigte über einem Kessel. Seine Nasenflügel blähten sich unter schnaubenden Geräuschen in schneller Folge. Er wirkte so durchsichtig, dass sie am liebsten hingegangen wäre, um zu fühlen, ob sie durch ihn hindurch greifen könnte. Eine glänzende Glatze drehte sich ihr zu, die Nase wie eine gewaltige Hmbeere, leuchtete fast, Füße mit langen Zehen, wie ihre Finger, standen zart auf der rohen Erde.
Er stand da und schaute nur. Dann ging er einen Schritt zurück und verschwand einfach durch die Lehmwand. Das sanfte Licht, das der Himbeergeist verströmt hatte, erstarb. Es war plötzlich stockdunkel. Doch Fendalin hielt vorsichtshalber bereits eine Laterne in Händen.
„Er ist ein Erdwesen und gehört zu den Adimos“, begann sie zu erklären. „Adimos können Dinge erscheinen lassen. Der Himbeergeist sorgt über der Erde für das köstliche Aroma der Himbeeren.“ Die Schwellenhüterin schüttelte die Lampe. Gwendolyn nahm summende Leuchtpunkte wahr. In ihrem Kopf begann es zu surren.
„Was macht er dann hier im Keller?“ Wieder drängten unzählige Fragen in ihr.
„Das ist eine alte Geschichte und liegt lange zurück. Ich bin damals rein zufällig beim Graben meines Kellers auf ihn gestoßen. Welch ein Schreck kann ich dir sagen! Ich sprach ihn einfach an. Auch habe ich nicht verstanden, dass er mir dann folgte. Wo immer ich hinging, war auch er. Und er litt fürchterlich. Bis ich endlich erfuhr, warum. Wenn Erdgeister seiner Sorte einfach so unverhofft angesprochen werden, sind sie sofort an den anderen gebunden. Normalerweise verhalten sie sich äußerst vorsichtig deswegen.“
Fendalin schöpfte indessen mit einer Kelle Limonade aus dem Kessel. Die Schwirrlampe schwenkte am Arm hin und her. „Erst als ich ihm eine Aufgabe gab, war er wieder frei. Seitdem erzeugt er das Aroma für meine selbst angesetzte Himbeerkräuterlimonade.“ Stolz streckte Fendalin dem Gast das vollgefüllte Gefäß entgegen.
Geistesabwesend beobachtete Gwendolyn das Schwanken der summenden Lampe, während Fendalin den Bericht vom Himbeergeist, der ein Adimo sein sollte, zum Besten gab. Alles drehte sich hin und her. Sie blickte auf die Lehmwand.
„Er wird heute nicht wiederkommen“, sagte Fendalin. „Der Eingang in die Erde ist verschlossen, in seine Welt kannst du nicht so einfach eindringen. Auch ich nicht.“
Die Hüterin wandte sich zum Gehen. Gwendolyn schloss sich an. Die schwirrenden Leuchtpunkte an Fendalins Hand wanderten die Treppe hinauf.
„Praktisch nicht wahr?“ Sie stellte die Lampe an das Fenster und das schwirrende Geheimnis enthüllte sich. Gwendolyn begriff endlich, was die Lichtpunkte bedeuteten. Wie sie tagtäglich die Glühwürmchen überlistete, ließ sie sich gerne erklären.
„In der Nacht stelle ich die Lampe geöffnet an das Fenster und ein Glas mit Limonade hinein. Die Leuchtkäfer, die dem Duft des Saftes nicht widerstehen können, kommen angeflogen und trinken davon so viel und gierig, dass sie träge und leicht schwindelig einschlafen. Am Morgen verschließe ich die Lampe jedes Mal. Wenn ich sie schüttle, habe ich auf diese Weise immer ausreichend Licht!“
Während Gwendolyn auf dem Moossofa saß und das Himbeergetränk schlürfte, wagte sie Fendalin eine Frage zu stellen.
„Warum meintest du eigentlich, du seist unsichtbar?“
Fendalin warf ihr einen prüfenden Blick zu und dachte nach. Die Unsichtbaren Welten scheinen ihr tatsächlich fremd zu sein… In diesen Fällen traf für Schwellenhüter jedenfalls eine Regel zu: Man schwieg. Für diese Gelegenheiten hatte sie aber eine ganz persönliche und nicht ganz unwahre Darbietung parat. Sie fing etwas übertrieben zu seufzen an.
„Oh, wisse verehrte Besucherin, manchmal fühle ich Kummer in meiner inneren Luftkugel - sozusagen wie aus heiterem Himbeerhimmel.“ Ihre Augen weiteten sich. „Meine Haut verfärbt sich dann langsam tiefblau.“ Ihre Tatzenhände legte sie dabei salbungsvoll vor die Brust. „Ich nehme mir in diesen Fällen ein Engelsschwert zur Hand und sehe mir dann von oben die Welt an und beobachte alles. Am liebsten bin ich dann allein, wenn ich der Welt um mich lausche und der Himmel mich tröstet. Oftmals für lange Zeit. Wie für andere unsichtbar.
Irgendwann bekommt meine Haut wieder die ursprüngliche Farbe und alles ist wie vorher. Dann brauche ich dringend etwas zu essen – und vorneweg eine Himbeerlimonade, wie jetzt.“ Sie lachte und kniff die Augen zusammen.
Gwendolyn ahmte unwillkürlich die Augenbewegung nach. Das Himbeergetränk hatte offenbar eine sonderbare Wirkung auf sie. Fendalin wusste jedenfalls, was nun zu tun war. Sie nahm sie an der Hand und führte sie ans Fenster. Wie kleine Zauberer mit purpurfarbenen Umhängen sahen die Orchideen ähnlichen Blumen aus.
„Engelsschwerter“, flüsterte Fendalin. „Sie verleihen dir die nötige übersicht, in welcher Lage du dich auch immer befindest. Vor allem bei Vollmond entfalten sie die größte Kraft.“ Sie schnitt eine der Blumen ab, überreichte sie und fühlte, es wurde Zeit für den Neuankömmling den Weg fortzusetzen. Zum Abschied drückte ihr die Hüterin noch eine bauchige Flasche mit Hmbeerlimonade in die Hände.
„Stelle die Limonade geöffnet“, sagte sie, „wenn es dunkel ist und du Licht benötigst. Die Leuchtkäfer werden immer für dich da sein. Bedenke sie sind Verbündete des Elfenvolks.“
Reichlich benommen wanderte Gwendolyn mit den Gaben der Schwellenhüterin den Himbeertunnel entlang. Irgendwann kam sie an eine Lichtung. Vor sich sah sie einen breiten, bedächtig dahin ziehenden Fluss.
Der Große Fluss der Unsichtbaren Welten hatte sie gefunden.
Nach einigen Stunden des Wanderns am Ufer entlang stromabwärts, hörte sie plötzlich jemanden um Hilfe schreien.
„Hilfe, Hilfe ich ertrinke!“
Schrill tönte es von irgendwoher aus dem Fluss. Sie lief ein paar Schritte in die Richtung, aus der der Hilfeschrei gekommen war. Kurz darauf entdeckte sie ein kleines Boot, das gefährlich schaukelte. Daneben plätscherte es wild, etwas fuchtelte aufgeregt mit den Armen.
Wie von Geisterhand gepackt, ließ sie den Koffer fallen, spreizte die Arme, rannte los und wagte einen Flugversuch. Einem Sprung gleich erhob sie sich ein Stück weit in die Luft. Tollpatschig landete sie im Wasser und begann mit den Armen um sich platschend loszurudern. Sie wusste selbst nicht, wie ihr geschah, geschweige denn hatte sie kaum die geringste Zeit darüber nachzudenken. Irgendwie erreichte sie die Unglücksstelle und griff nach dem zappelnden Geschöpf. Unter Aufwendung sämtlicher Kräfte erreichten sie zusammen das Ufer.
Gwendolyn keuchte, rappelte sich auf, die Kreatur schüttelte sich kräftig. Der Schreck stand ihm im Gesicht. Mit Augen wie ein Igel, stachelbäriger Haut und triefend nass, fand es sich in einer Wasserpfütze stehend wieder. Bestürzt, sowie aufgeregt atmend schaute das Wesen auf die frühlingsgrünen, völlig durchnässten Mokassins. Es schlenkerte wie ein Hund mit den Beinen, so als wollte es das Wasser schnellstmöglich wieder loswerden. Der kleine Kerl war sichtlich aufgewühlt.
„Ich wollte mit dem Boot nach Hause“, rief er, „doch als ich einstieg, schaukelte es ganz schrecklich. Schon wieder eine der Wirbelkröten!“ Er schnaubte laut und fuhr entrüstet schimpfend fort, „so fiel ich hinterrücks ins Wasser!“ Fluchend ging es weiter: „Von Himmelsgrollen und Donnerstöcken seiest du gejagt, verwünschte Wirbelkrötenaussaat!“ Er ballte seine kräftigen Hände zu Fäusten und richtete sie auf den Fluss, „du kannst etwas erleben, wenn ich dich erwische!“ Dann wandte er sich der Erretterin zu und wurde etwas leiser. Er verneigte sich.
„Danke“, sagte er. Gwendolyn verneigte sich ebenfalls und zuckte bescheiden mit den Schultern.
„Bitte sehr, gern geschehen, vielleicht hat jeder einmal im Leben einen Retter.“ Sie lächelte. Das koboldähnliche Wesen lächelte zurück.
„Marifayo nennt man mich, ich bin vom Dorf der Moosleute.“ Er tropfte. Auch das ungewöhnliche Wesen tropfte aus rotem Kleid. „Du kommst aus dem Reich der Menschen hier her?“ Mit schräg stehenden Augen schielte er misstrauisch auf das mit Bändern gehaltene Kleid, das mit dem Darunterliegenden verklebt, es wie von selbst zu schaffen schien, sich zusehends auszuwinden.
„Ich glaube schon.“ Gwendolyn zuckte mit den Achseln. „Warum fragst du? Gibt es hier denn keine Menschen?“ Sie holte den Koffer, der in der Nähe auf dem Boden lag. Marifayo wandte sich suchend nach einem sonnigen Platz um.
„Nicht sehr viele“, erwiderte er. „Die von jenseits der Grenze nehmen unsereins normalerweise nicht wahr, sie haben daher keinen Zugang zu den Unsichtbaren Welten. Auch kennen sie unsere Sprache nicht.“ Gwendolyn sah ihn erstaunt an.
„Unsichtbare Welten?“
„Nun eigentlich bin ich für dich unsichtbar“, meinte er mit einem abschätzenden Blick auf die Wasserfee im roten Mantel und setzte sich auf einen von der Sonne beschienenen Stein. Er bedeutete ihr, sich zu ihm zu setzen.
Wiederjemand der das behauptet, dachte Gwendolyn.
Welche Geschichte er mir wohl auftischt?
Marifayo schaute sie neugierig an.
Ist sie vielleicht eine von denen, die die Menschen oft in Käfige sperren? Oder vielleicht gehört sie zum Kleinen Volk? Doch ich habe sie hier noch nie gesehen. Ob sie gar eine talentierte Gestaltwandlerin ist?
Er beäugte sie eine Weile scharf und forschend. Dann blickte er von seinen Füßen zu den ihren. Sie berührten sich fast auf diesem Stein, der nicht viel Platz ließ. Wie er selbst trug sie Schuhe. Sie reichten sogar fast bis zu den Knien. Noch nie war ihm ein Wesen aus den Menschenreichen mit Stiefeln, geschweige denn mit Koffer begegnet. Immerhin war er schon einige Male dort drüben gewesen. Seltsam. Nach einigen Augenblicken des Abwägens, schließlich war sie wagemutig genug gewesen ihm zu helfen, beschloss er instinktiv ihr zu vertrauen. Auch Gwendolyn überwand ihre Scheu und versuchte seinen wachen und prüfenden Augen standzuhalten. Marifayo drehte den Kopf zur Seite.
„Hier im Wald lebe ich lange Zeit des Jahres in einer Erdhöhle am Waldsee“, begann er schließlich gleichmütig zu erzählen. „Ich bin ein Grenzgänger, meine Aufgabe ist es, in diesen Gebieten dafür zu sorgen, dass die Menschen Verwertbares im Wald finden, damit sie nicht anfangen die Waldgründe zu plündern.“
Langsam dämmerte Gwendolyn, dass sie hier wohl ein Land betreten hatte, das von der anderen Welt, die sie bisher kannte, zu unterscheiden war. Während die Sonne langsam die Nässe wegzutrocknen begann, plauderte der Waldhüter munter weiter. Seine Brust blähte sich, mit am Rücken gefassten Händen ging er auf und ab.
„Zu diesem Zweck verhandle ich mit den Baumgeistern über Zweige, Zapfen und Brennholz für den Winter, sorge für regen Pilzbewuchs im Herbst, achte auf Baumflechten und überwache den Beerenwuchs. Ich kümmere mich um die Einhaltung der Regeln der Bewohner des Waldes.“
Gwendolyn zog indessen die Stiefel aus. Wasser schwappte heraus. Marifayo hielt inne, er beobachtete sie schweigend. Sorgsam befühlte er darauf die Sohlen seiner eigenen Schuhe.
„Sie sind nass wie eine gebadete Katze“, sagte er regungslos, „denn wisse“, fuhr er flüsternd und mit einem eindringlichen, ernsten Blick fort: „Was für Katzen Schnurrhaare sind, sind meine Fußsohlen für die Erde. Wenn unter den Erdgeistern Streit ausgebrochen ist, fühle ich das mit meinen Füßen und kann sogleich zur Stelle sein.“ Marifayo setzte sich wieder und streckte die Füße in die Sonne.
„Denn die Wesen, die sich hier tummeln, sind derer unzählbar viele.“ Mit einem Rundumblick versicherte er sich geschwind, ob alles in Ordnung war. „Unter anderem gibt es hier unzählige Elfenfamilien, ab und zu verirrte Ahnengeister der Menschen, aber auch andere dunkle, alte und nicht minder gefährliche Wesen.“ Marifayo verzog das Gesicht und schaute sie dabei grimmig an, als erlaubte er ihr für einen Moment an seinen schaurigsten Einblicken teilzuhaben. Betrübt sah er dann aber auf die Seite, dahin wo die Grenze zu den Menschenwelten lag. Im Allgemeinen war er enttäuscht von den Menschen und allem, was aus ihnen hervorging. Die meisten dort wirkten grau, verloren und gramvoll. Das machte ihn manchmal traurig, denn im Grunde seines Herzens liebte er alle Wesen, er mochte ihre Herzen, auch wenn sie für sie selbst und für ihn verschlossen waren.
Ein Stück flussabwärts hatte sich das Boot in im Wasser hängenden Ästen verheddert.
„Wenn du willst, können wir zusammen in mein Dorf fahren“, sagte er.
Der Gedanke voranzukommen gefiel Gwendolyn, wenn sie auch nicht genau wusste wohin, und obwohl ihr beim Anblick des wackeligen Wassergefährts mulmig zumute wurde. Das ungewöhnliche Boot verfügte an beiden Seiten über je einen abstehenden gelben Flügel. Wie ein soeben geschlüpfter Riesenzitronenfalter, der sich außerhalb des Kokons noch nicht wirklich zurechtfand. Marifayo befreite einen der Flügel von einem breiten Zweig.
„Wenn es regnet, kann ich sie in die Mitte klappen“, erklärte er stolz. Gwendolyn suchte den Himmel nach Wolken ab. Der Waldhüter winkte sie heran.
„Ich komme schon“, rief sie rasch und stakste im uferna-hen seichten Wasser. Umständlich stellte sie den Koffer in das Boot. Ein Bein befand sich bereits im Innern, als Marifayo sie von hinten kurzerhand hochhievte und anschob. Sie plumpste auf den Bootsboden. Das Boot schaukelte hin und her. Angriffslustig, mit zornigem Blick, hielt der Waldhüter nochmals Ausschau nach Wirbelkröten. Da sich keine von ihnen sehen ließ, krabbelte er schließlich selbst auf allen Vieren hinterher und verstaute das Seil. Er nahm die beiden Ruder und steuerte in die Strömung.
Riesenhafte Bäume standen am Ufer, über und über mit hängenden Flechten bewachsen. Manche der grünen Seile kamen wie Arme zum Greifen nahe an das Boot heran. Nebel zog auf. Die zunehmende Stille unterbrach dumpfe Klopfgeräusche. Sie schienen aus dem Innern der dicken Stämme zu kommen. Alt und ächzend neigten sich über ihnen schwere Äste wie geöffnete Tore über den Fluss. Während sie darunter hindurch kamen, legten sich feine Nebeltropfen gleich klammen Fingern auf Gwendolyn nieder. Sie fror ein wenig. Mit der Zeit breitete sich nahezu ein unheimlicher Friede aus und sie wagte nicht mehr zu sprechen.
Die Behausungen, die sie später am Ufer leicht verschwommen entdeckte, bildeten spitz geformte Erdhügel. Wild durcheinander wucherten dort großblättrige Pflanzen und andere, nie gesehene Gewächse. Als der Nebel sich lichtete, fing es an zu regnen. Marifayo klappte die Bootsflügel von außen nach innen. Wie leises Trommeln hörte sich das Tröpfeln auf der festen Segelhaut an. Die Geräusche, das Kräuseln der Wellen und das beständige Patschen des Wassers umfingen Gwendolyn mit einer fremdartigen, unerhört lockenden Melodie.
Ihr Geist wurde wach, so wach, wie nie zuvor. Etwas höchst Bedeutsames geschah auf diesem Fluss. Mit jeder weiteren Biegung ließ sie das bisherige Leben zurück und sie wurde zu einer Reisenden in unbekanntem Land.
Das Wasser wiegte sie. Es erinnerte. Vertrautes aus einer unbestimmten Zeit griff nach ihr und sie schloss die Augen. Sie wusste nicht, wie lange es das tat und was in dieser Zeit geschah. Nachher legte sich Schläfrigkeit wie eine warme Decke um sie.
Zur gleichen Zeit…
Die Landschaft im Südosten, die der Drachenlinie folgte, leuchtete. Silberne Schleier lagen auf den glänzenden blanken Bergrücken. Der volle Mond beschien den Drachen geformten Berg, der sich wild vom Himmelsgewölbe abhob und im nächsten Moment zum Leben erwachen konnte. Noch schliefen die Drachen. Doch sie träumten sich im Innern bereits schnaubend in die Welt.
Eine Sternschnuppe schoss über den Himmel.
Wie eine Vorbotin auf die kommenden Ereignisse leuchtete ihr Widerschein kurz über die langen Schatten des Tales.
Auf dem Feuerplatz stoben helle Lichtfunken in die Nacht. Wie immer wurden auch diesmal zu Vollmond die Feuer angezündet, wie immer waren auch heute Einige gekommen, um gemeinsam zu beratschlagen.
Smondrag, der Magier aus Ledoria begrüßte diesmal einen seltenen Gast. Farillis. Die schöne Feenführerin überbrachte dem Magier eine wichtige Botschaft.
Gwendolyn erwachte, sie befand sich immer noch im Boot, Dunkelheit füllte alles aus. Nur der volle Mond hatte sich auf die weite Wasserfläche ausgegossen. Tiefblaues Licht durchströmte die Nachtluft. Der Fluss war zu einem breiten Strom geworden, das Boot festgemacht an einem Steg am westlichen Ufer. Gespenstische Baumriesen reckten die Äste wie bleiche Knochen in den fließenden Wasserspiegel. Es gluckste an den Seiten. Am Steg brannten Fackeln. Dahinter standen kleine Häuser mit kugeligen Schindeldächern, unzähligen rauchenden Kaminen und runden Fenstern, die die Umgebung sanft erhellten. Noch weiter hinten thronte schwarz auf einer Anhöhe, ein großes Gebäude mit Felsblöcken, die gen Himmel ragten. Die Silhouette schnitt sich scharf vom Horizont ab. Plötzlich löste sich ein Schatten aus dem Dorf. Er kam in ihre Richtung. Marifayo tapste barfuß den langen Steg entlang.
Er lächelte, seine Augen blitzten.
„Ich wollte dich nicht wecken“, sagte er munter und nahm Gwendolyn den Koffer ab.
„Wo sind wir hier?“, fragte sie zögernd und griff nach der gereichten Hand.
„Zuhause“, sagte Marifayo froh, während er sich kurz umdrehte, „darf ich vorstellen - das Dorf der Moosleute!“ Mit Erstaunen starrte Gwendolyn zunächst auf die entblößten haarigen Füße, bevor sie gemeinsam den Steg entlang liefen. Dann sah sie die buschig weichen Moospolster. Fast sehnsüchtig schälte sie sich aus ihren Stiefeln, die sie unter die Arme klemmte. Barfüßig, den nachgebenden Moosboden unter sich fühlend, begann sie Marifayo zuzulächeln, ihre Augen blinkten verzückt auf.
Vielsagend erwiderte dieser ihren Blick. Er wusste, die Erde, die sie hier berührten, nahm Kontakt mit ihnen auf, wie ein Wesen, das eine eigene Sprache besaß. Hier war die Erdenhaut dünn. Betrat man zum ersten Mal den Boden der Moosländer Leute, erfolgte immer das Gleiche. Die Willkommensweihe der Erde der Unsichtbaren Welten wurde jedem zuteil, der in dieses Land kam.
„Hier wurde ich gelehrt, die Augen an meinen Fußsohlen zu benutzen“, flüsterte Marifayo vielversprechend, „um alles zu sehen, was sich unterhalb von ihnen befindet!“
Gwendolyn schien mit den Füßen weit in den Boden zu gleiten. Mit jedem weiteren Schritt kribbelten Laute der Erde durch ihre Haut. Es kitzelte an den Zehenspitzen. Kühle Moosballen schmiegten sich um die Fußsohlen, verwurzelten sie mit langen grünen Fäden in der Tiefe der Erde.
Sie betraten ein Gasthaus. Etwas scheu schaute sich die fremde Besucherin um. Eine Reihe Moosleute saßen mit glänzenden Gesichtern um runde Tische. Bläulich-braune Haut schimmerte überall da, wo keine Körperbehaarung zu sehen war. Gekleidet in Erdtönen kamen sie Gwendolyn vor wie verwandelte Maulwürfe. Ihre helle Gestalt indes musste wie eine ungebetene Larve wirken, auf die gleich lauter neugierige Blicke herabstürzen würden.
Marifayo führte sie geradewegs zu einem Tisch in dessen Mitte es glühte und leise züngelte. An den eisernen Rändern lagen geröstete Nüsse, gebratenes Gemüse und geschmorte Pilze. Rundherum dampfte aus Schüsseln weißlicher Brei. Der Geruch des Essens drang in Gwendolyns Sinne, sie war nun wirklich hungrig. Laufend wurden gare Stücke aufgenommen, in Soßen getunkt, bevor sie in den Mund gesteckt wurden. Alle schmatzten dabei fürchterlich laut und lachten.
„Holla, wen haben wir denn da aufgegabelt?“ Einer schaute sie unverhohlen an und musterte sie. „Wir haben hier ja öfters Reisende zu Besuch, doch nur selten kommen barfüßige Vögel mit Koffer und stiefelförmigen Flügeln!“
Gelächter drang wabernd durch die rauchgeschwängerte Luft. Erst jetzt bemerkte sie, die Stiefel klemmten immer noch unter den Armen. Einer links und einer rechts.
„Sie ist weder ein Wesen der Lüfte, noch ist sie eine Elfe“, sagte die Mutter Marifayos abwehrend ihren Sohn Marisello scheltend. Marifayo stellte sich schützend vor Gwendolyn.
„Sie ist, was sie ist und damit Schluss.“ Er wandte sich zu ihr.
„Verzeih das ungehobelte Benehmen meines Volkes. Gegenüber Reisenden waren sie noch nie sonderlich zartfühlend.“ Dabei gab er Marisello einen Klaps auf den Kopf, dessen Kleeblatt ähnliche Ohren sich unverzüglich einrollten.
Gwendolyn lächelte unsicher. Denn sie wusste ja selbst nicht wer und was sie im Grunde war, nur ihren Namen kannte sie sicher. War nicht das um ihr Dasein im Dunkeln liegende herauszufinden, der eigentliche Grund gewesen für den Aufbruch? Nicht einmal diese Frage konnte sie eindeutig beantworten. Verlegen streifte sie, so als legte sie in diesem Moment Wert auf eine untadelige Erscheinung, ordnend an ihrem Umhang herab.
„Willkommen in unserem Dorf“, sagte Maritessa, sie reichte ihr einladend die Hand. „Komm, setz dich zu mir. Du bist sicher hungrig.“ Die taxierenden Blicke waren Gwendolyn unangenehm, doch die freundliche Einladung wollte sie gerne annehmen. Daneben saßen weitere Angehörige des Mari-Clans. Unter anderem eine alte Moosleutefrau, die viel zu erzählen wusste und die sie zu vorgerückter Stunde immer wieder neugierig beäugte.
Die Dielenbretter knarrten, als Gwendolyn den Koffer in der zugewiesenen Kammer im Gasthaus abstellte. Es roch nach Rauch, Moos und Zeder. Am Fenster schaute sie auf den Großen Fluss. Er lag dunkel und breit hinter den Bäumen. Mondbeschienen. Sterne blinkten am wolkenlosen Himmel. Stille. Sie bedachte diesen ereignisreichen Tag eine Zeit lang und dann ging sie zu Bett. Die Flamme der Kerze zeichnete im Lufthauch flackernde Schatten an die Wand. Schwere kroch an ihr hoch, es zog wie ein Magnet unterhalb den Augenlidern. Erst saß sie noch eine Weile. Doch dann fielen ihr im Sitzen die Augen zu. Sich einrollend vergrub sie sich in den moosweichen Decken, um später von schmetterlingsartigen Booten auf dem Fluss zu träumen, die sich plötzlich flügelschlagend in die Lüfte erhoben und wie ein Vogelschwarm Richtung Süden flogen.
Kurz vor Sonnenaufgang erwachte sie, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Aus dem Bett gekrochen, um aus dem Fenster zu sehen, entdeckte sie auf dem Sims einen großen, roten Fleck. Beim näheren Hinsehen entpuppte er sich als Blütenkopf. Fünf ineinander geschobene, rote Blütenblätter, die sternförmig zum Zentrum hin golden schimmerten. Wie eine flache Schale lagen sie da, der Blütenkelch weißlich mit dunkleren Punkten dazwischen. Seltsam berührt betrachtete sie die schöne Blüte.
Sie kam auf irgendeine Weise über Nacht hierher. Ist sie ein Gastgeschenk? Sie fühlt sich so frisch an…
Die Blütenblätter schimmerten leicht feucht. Draußen erhob sich in diesem Moment der rotgoldene Sonnenball langsam hinter den Bäumen des Großen Flusses. Sonnenstrahlen drangen in die Kammer, sie fielen auf die schimmernde Blüte, so als bestünde zwischen ihnen eine geheime Abmachung. Die Blütenblätter begannen zu glitzern. Berauscht verharrte Gwendolyn vor dem kleinen Schauspiel, doch alsbald erinnerte sie sich an die Verabredung mit Marifayo. Sie beeilte sich, um noch rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt am Brunnen des Dorfes zu erscheinen.
Marifayo erblickte sie schon von Weitem. Der Wind blies Wellen in den rot flatternden Umhang. Wie würdevoll sie damit aussieht. Wie eine Elfenprinzessin.
„Gut geschlafen?“, fragte er sie, „wie bekommt dir die neue Umgebung?“ Doch er ließ sie gar nicht erst richtig zu Wort kommen, sogleich hakte er sich bei ihr unter und begann sie beharrlich in die Begebenheiten des Dorfes der Moosleute einzuweihen, während er flussaufwärts zu gehen begann. Das flache Gebäude mit den dicken, gewundenen Holzpfeilern und Rundbogentüren war schon von Weitem zu sehen: die Moos-Sofareien der Moosleute.
Die Bewohner des Dorfes waren sehr stolz auf dieses Gewerbe, das sie so trefflich beherrschten. Dazu gehörten spezielle Gewächshäuser mit langen Fensterreihen, schrägen Giebeln und einem Dach aus regenbogenfarbigem Glas, damit das Moos farbenfröhlich dahin wachsen könnte, wie Marifayo kundtat. Auf alle Pflanzen und überhaupt auf allem, was aus der Erde kam oder sich in ihr aufhielt, schien hier ein besonderes Augenmerk zu liegen.
Die Glasfenster der Sofareien schillerten, alle Türen standen offen. Der Umhangträgerin flog ein intensiver Waldgeruch um die Nase. Dann wurde sie dem Hämmern und Surren gewahr, das aus ungewöhnlichen Vorrichtungen kam. Sie entdeckten Marisello und Maritessa, die beide an einem rundlichen Sofa werkelten.
„Willst du wohl halten?“ Maritessa schimpfte mit einem der großen schwarzen Hirschkäfer, der mit seinem Zangenwerk beim Verästeln der Mooswurzeln mit der rauen Rinde des Sofaholzes behilflich war. „Nicht zu glauben, diese Käfer -so geschickt sie auch sind, so leicht sind sie auch abzulenken. Immer wenn Besuch kommt, werden sie nervös und rotten sich in Haufen zusammen.“ Maritessa schüttelte ungehalten den Kopf.